„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 1. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Ich habe mich in meinem Blog sehr gründlich und kritisch mit dem Projekt der Neurowissenschaften auseinandergesetzt, anhand des Gehirns den Menschen (weg-)zuerklären. Mit diesem Unterfangen bin ich zu einem gewissen Punkt gelangt, an dem ich das Interesse an der weiteren Entwicklung der Neurowissenschaften verloren habe; vielleicht weil ich alles mir Mögliche dazu gesagt habe. Auf das Buch von Adrian Owen, „Zwischenwelten“ (2017), bin ich aber nochmal neugierig geworden, denn die im verheißungsvollen Untertitel angesprochene „Grauzone zwischen Leben und Tod“ versprach mir viel klinisches Material, mit dessen Hilfe ich hoffte, Plessners „Körperleib“ begrifflich weiter ausdifferenzieren und schärfen zu können.

Was das klinische ‚Material‘ betrifft, bin ich auch nicht enttäuscht worden. Adrian Owen liefert eine Fülle von Fallbeispielen, sprich von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder von Erkrankungen in einen ganz besonderen Zustand verfallen sind, den die Neurologen als „Wachkoma“ bezeichnen. Der Körper ist ohne maschinelle Hilfe lebensfähig, aber die überwiegende Mehrzahl der Wachkomapatienten ist völlig bewußtlos. Nur zirka 15 bis 20 Prozent der Komapatienten verharren Owen zufolge in einem Bewußtseinszustand, der zwischen einem „minimalem Bewußtsein“ und völliger geistiger Präsenz schwankt, ohne sich anderen Menschen, Freunden, Familienangehörigen oder Ärzten, mitteilen zu können. (Vgl. Owen 2017, S.12)

Dieser Zustand ist nicht mit dem Locked-in-Syndrom zu verwechseln, denn Locked-in-Patienten stehen immer noch minimale körperliche Reaktionsweisen zur Verfügung wie etwa Augenbewegungen oder Zwinkern. Auch der Körper von Wachkomapatienten ist noch zu unwillkürlichen Bewegungen fähig. Manche Wachkomapatienten geben sogar Laute von sich. Aber diesen Bewegungen entspricht keine Bewußtheit. Es ist dann besonders schwierig zu entscheiden, bei welchen Wachkomapatienten das doch der Fall ist.

Was diese klinischen Fallbeispiele betrifft, bin ich also nicht enttäuscht worden. Dennoch haben wir es mit Adrian Owen wiedermal mit einem dieser Neurowissenschaftler zu tun, die von ihrem Untersuchungsgegenstand, dem menschlichen Gehirn, vollkommen eingenommen sind. Trotz gelegentlicher Differenzierungsansätze setzt Owen Bewußtsein und Gehirn 1:1 gleich:
„Die Nervenzelle ist eine winzige Maschine der Entscheidungsfindung; sie ‚entscheidet‘, wann sie feuert und wann nicht. ... Ich bin überzeugt, dass sich das Bewusstsein auf die Verbindungen zwischen feuernden Neuronen reduzieren lässt.“ (Owen 2017, S.299f.)
Allerdings durchzieht Owens Buch ein spannender Grundkonflikt im wissenschaftlichen Umgang mit kranken Menschen, den der Autor in seiner eigenen Person austrägt. Auf der einen Seite haben wir den stolzen Wissenschaftler, der in einer ‚total angesagten‘ Disziplin (vgl. Owen 2017, S.65), der Neurophysiologie, arbeitet und wesentlich zu ihrer Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren beigetragen hat. Owen spricht von dem „Glamour“, der seine Arbeit von Anfang an begleitete (und noch immer begleitet):
„Mein Chef schickte mich an exotische Orte, um an seiner Stelle Vorträge zu halten. Bei einer wissenschaftlichen Konferenz in Phoenix, Arizona, aalte ich mich einmal mit zwei anderen englischen Hirnforschern mitten in der Wüste in einem Whirlpool. Kann man sich das vorstellen? Einen Tag zuvor hatten wir uns noch durch den ewigen Nieselregen und die Tristesse Englands geschleppt, und nun genossen wir puren Luxus unter Riesenkakteen.“ (Owen 2017, S.23)
Dieser ‚Glamour‘ wird von Owens bewegendem Bericht über ständige Auseinandersetzungen mit seiner früheren Freundin über das Primat von Forschung oder Pflege konterkariert. Während des gemeinsamen Neurophysiologiestudiums, wo sich die beiden kennengelernt hatten, hatte sich die Freundin von der Forschung an hirngeschädigten Patienten abgewandt und widmete sich fortan ihrer Pflege. (Vgl. Owen 2017, S.23f.) Für Owen dramatisierte sich dieser Konflikt, als seine eigene Mutter an einem Gehirntumor erkrankte und plötzlich die Möglichkeit im Raum stand, daß sie zu seiner Patientin werden könnte:
„Falls sich meine Mutter einer Operation unterziehen musste und dadurch einen Teil ihres Gehirns einbüßte, war es durchaus denkbar, dass sie als Patientin in einer meiner eigenen Forschungsstudien endete. Dieser Gedanke war ein Alptraum. Nun stand ich auf der anderen Seite des Zauns.“ (Owen 2017, S.25)
Schließlich erlitt auch Owens ehemalige Freundin eine Gehirnblutung und fiel ins Koma. Erneut ist der Autor ganz persönlich ‚angefaßt‘, und sein Wunsch, ihr zu helfen, begleitet und motiviert die folgenden Jahre seiner Forschung, bis die Freundin, ohne aus ihrem Koma noch einmal aufzuwachen, stirbt. Etwas schräg mutet es den Rezensenten aber schon an, wenn sich Owen an einer Stelle Rechenschaft über die gescheiterte Beziehung zu geben versucht und sich dabei die Frage stellt: „...  warum hatte sich all das so verändert? Was war nur in ihrem Kopf vorgegangen?“ (Owen 2017, S.34) – Denn später beschreibt Owen, wie er tatsächlich Gelegenheit bekommt, in ihren Kopf zu schauen:
„Während ich die Bilder von Maureens Gehirn betrachtete, kam ich mir vor, als blickte ich in die Tiefen meiner Vergangenheit. Es fühlte sich ganz sonderbar an – so als rührte ich einen entlegenen Teil von mir selbst an, den ich Jahre zuvor begraben hatte. Ich starrte auf das Gehirn eines Menschen, der mir einmal sehr nahegestanden hatte.“ (Owen 2017, S.180)
Irgendwie entsteht der Eindruck, der Autor ist enttäuscht, daß ihm der Blick in das Gehirn seiner ehemaligen Freundin keine Antwort auf das Drama ihrer beidseitigen Entfremdung liefert:
„Da war nichts von der Maureen, die ich einmal gekannt hatte. Überhaupt nichts von Maureen. Wo war das ungestüme Wesen geblieben? Ich war enttäuscht und verwirrt.“ (Owen 2017, S.180f.)
Diese entwaffnende Naivität, mit der der Neurowissenschaftler seinem Forschungsgegenstand begegnet, hat zugleich etwas Rührendes. Owen ist bei aller Voreingenommenheit bemerkenswert ehrlich, und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, kann sehr viel über die Neurophysiologie und ihre Beliebtheit beim Publikum und bei Sponsoren lernen. Owen verweist immer wieder auf das Interesse der Medien, die seine Forschungen von Anfang an begleitet hatten und so für die nötige Finanzierung dieser Forschung gesorgt haben. Er selbst und sein Team bemühen sich dabei redlich, über die reine Forschung hinaus das Interesse ihrer Probanden an Heilung oder auch nur an einer Erleichterung ihrer Situation praktisch ernstzunehmen. Owen beschreibt immer wieder die Schwierigkeiten, die dabei auftreten. Nur selten hat er Gelegenheit, den weiteren Lebensweg seiner Probanden zu verfolgen oder gar zu begleiten.

Alles das ist anerkennenswert, entschuldigt aber in keiner Weise die schon erwähnte Naivität, mit der Owen Bewußtsein und Gehirn gleichsetzt. Immer ist davon die Rede, daß die neurowissenschaftliche Forschung auf Interdisziplinarität angewiesen sei und Bereiche wie Psycholinguistik, Justiz, Medizin, Philosophie, Ethik, Religion und Psychologie umfasse. (Vgl. Owen 2017,S.12, 71, 91, 138, 209, 285) Owen beschreibt ein interdisziplinäres Meeting in einem „Fünf-Sterne-Restaurant“ in Paris, das an Peinlichkeit in nichts dem schon erwähnten Whirlpool in der Wüste von Arizona nachsteht:
„Alle Anwesenden interessierten sich leidenschaftlich für Schwellenzustände, die schwer fassbaren Grenzen zwischen Gehirn und Geist, Sein und Nichtsein sowie Bewusstsein und reinem Nichts. Unser erster Gang wurde aufgetragen – Schnecken aus der Region, in rotem Knoblauch gedünstet. Die Speise war erstklassig angerichtet und sollte allein schon optisch die Kunst des Chefkochs erkennen lassen. Es dauerte nicht lange, bis der Wein die Zungen löste. Wir hatten etwas zu feiern. Das Canadian Institute for Advanced Research (CIFAR) hatte uns und einigen Kollegen Fördergelder bewilligt, um eine Seminarreihe zum Thema ‚Gehirn, Geist und Bewusstsein‘ zu organisieren – zwei oder drei intensive Workshops pro Jahr an Orten unserer Wahl.“ (Owen 2017, S.286)
Unter den anwesenden ‚weltweit anerkannten‘ Experten befindet sich selbstverständlich auch ein Philosophieprofessor. Aber was dieser ‚Professor‘ zu dem Gelage beizutragen hat, kann nicht von besonderer Qualität gewesen sein, denn die Ergebnisse des interdisziplinären Meetings sind dürftig genug. Überhaupt scheinen die Philosophen und Ethiker, auf die sich Owen immer wieder bezieht, alle nicht viel von ihrem Fach zu verstehen, denn was Owen zum ‚Bewußtsein‘ zu sagen weiß, geht über Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie nicht hinaus. Das Bewußtsein wird meistens nur als eine Art Informationsverarbeitung thematisiert, nämlich als Speichern, Indexieren und Abrufen von Datensätzen. (Vgl. Owen 2017, S.116) Unter ‚Bedeutung‘ versteht Owen vor allem eine Art Statistik, wenn es etwa um das Verstehen von Wörtern geht, im Sinne der Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Wörtern in Sätzen und Kontexten. (Vgl. Owen 2017, S.97, 104ff. und 280f.) Oder es werden verschiedene Bewußtseinsträger aufgezählt, Tiere, erwachsene Menschen, Kleinkinder, und dann werden am Ende ganz unvermittelt auch noch Maschinen erwähnt, ohne daß Owen in irgendeiner Weise erläutert, was Maschinen in dieser Reihe eigentlich zu suchen haben. (Vgl. Owen 2017, S.295)

Wirklich schwierige, philosophisch gehaltvolle Fragen werden einfach nicht gestellt! Wie kann Owen, der sonst immer sehr detailliert auf die verschiedenen technischen Probleme eingeht, das Bewußtsein von Komapatienten zu ‚messen‘, hochkomplexe Fragen nach der Ich-Identität bei einer möglichen Gehirntransplantation schlicht und einfach ignorieren und stattdessen platterdings konstatieren:
„Nach einer Gehirntransplantation (von einem anderen Körper in ‚meinen‘ Körper – DZ) würde schließlich nicht ‚ich‘ genesen. ‚Ich‘ wäre dann ein ganz anderer. Mein Aussehen bliebe unverändert, aber mit dem Gehirn eines anderen Menschen im Kopf wäre ich eine völlig andere Person. Verpflanzt man umgekehrt mein Gehirn in einen anderen Körper, bliebe ‚ich‘ weiterhin ‚ich‘, selbst im Körper eines anderen.“ (Owen 2017, S.266)
Für Owen gibt es hier offensichtlich überhaupt keinen Anlaß zu einer weiterführenden philosophischen Reflexion zum Verhältnis von Körper, Gehirn und Ich-Bewußtsein. Über die Feststellung, daß „man“ „im Wesentlichen derselbe Mensch (bliebe), nur in einem anderen Körper“, geht Owens ‚Philosophie‘ nicht hinaus. (Vgl. Owen 2017, S.266) Wer sich auf so flachem Niveau durch das interdisziplinäre Feld von Neurowissenschaft und Philosophie bewegt, sollte bitteschön sein Essen selbst bezahlen.

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