„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 30. Juli 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der common ground?
4. Jahrmarktseffekte
5. Nachlese

Als meine Schwester ankündigte, daß sie sich zusammen mit einer Freundin die Skulptur-Projekte ansehen wolle, wies ich sie auf meine Besprechungen im Blog hin. Aber sie wollte sich nicht beeinflussen lassen und den Skulpturen ganz vorurteilsfrei begegnen. Darin kommt eine romantisch-naive Einstellung der Kunst gegenüber zum Ausdruck, als ginge es bei ihr um Unmittelbarkeit. Auf diese Weise können natürlich keine Erwartungen enttäuscht werden, und meine Schwester war dann auch ganz zufrieden mit ihren Eindrücken.

Ich hatte zu Beginn meiner Suchbewegungen im Juni vorm LWL einige rätselhafte Objekte gesehen, die mit Fahrradketten an drei Verkehrsschildern angekettet waren, war dann aber von einem Museumswächter abgelenkt worden, der mich darauf hinwies, daß ich mein Fahrrad nicht vor dem Eingang des LWL abstellen dürfe. Diese Objekte hatten mich seitdem innerlich beschäftigt. Sie ähneln großen, zu seltsamen Achten oder Möbiusschleifen verdrehten Lehmwürsten. Mit Hilfe des Katalogs stellte ich schließlich fest, daß es sich bei diesen unförmigen Lehmwürsten tatsächlich um Teile einer Skulptur von Michael Dean handelt. Der Rest der Skulptur befindet sich im Lichthof des LWL.

Vor zwei Tagen, bei meinem letzten Besuch der Skulptura, wollte ich mir das nochmal genauer ansehen. Als ich in den Lichthof wollte, wurde ich von einer Wächterin aufgehalten: ich sollte erst meine Fahrradtasche in ein Schließfach wegschließen. Als ich dann wieder, diesmal ohne Tasche, den Lichthof ansteuerte, drückte mir die Wächterin mit keinen Widerspruch duldender Gebärde eine Karte in der Hand, die mich, den offensichtlichen Radfahrer, über die nächstgelegenen Parkplätze informierte. Dann durfte ich endlich rein.

Der Lichthof ist an drei Seiten von einer herabhängenden Plastikfolie verdeckt. Auf einer Seite sind Gucklöcher angebracht, auf einer Höhe, die den Körpergrößen des Künstlers, seiner Frau und seiner Kinder entsprechen. Auf der gegenüberliegenden Seite ist der Zugang zum Lichthof frei, aber ein weiterer Wächter paßt auf, daß sich nie mehr als zehn Personen gleichzeitig im Lichthof aufhalten.

Da schon zehn Personen im Lichthof waren, konnte ich ihn zusammen mit den anderen Wartenden nur von außen inspizieren: Ich sah viele weitere unförmige Lehmwürste in allen Größen, zum Teil in Klumpen auf dem Boden verteilt, zum Teil mit Hilfe von Stangen senkrecht in die Höhe gereckt, etwa bis zur Augenhöhe eines Durchschnittserwachsenen. Weitere Stangen sind mit allen möglichen Objekten bedeckt. An der Spitze der Stangen befinden sich Büschel von mit Blindtext bedrucktem Papier.

Der Boden vom Lichthof macht den Eindruck, als sei wahllos Abfall und Gerümpel darauf verstreut worden. Wahrscheinlich paßt der Wächter vor allem darauf auf, daß kein Besucher auf die Idee kommt, ein wenig aufzuräumen. Ich glaube kaum, daß hier irgendjemand auf die Idee käme, was zu klauen. Und kaputt machen kann man eigentlich auch nichts.

Wahrscheinlich lassen sie einen nur deshalb nicht mit Tasche rein, um beim Besucher den Eindruck zu erwecken, er habe es mit Kunst zu tun. Insofern sind die die Geschichte der Skulptura begleitenden mutwilligen Zerstörungen von Objekten nützlich. Ohne diese Attacken hätten sie keine Bedeutung.

Inzwischen habe ich mit einigen Münsteranern über die Skulptura gesprochen, und dabei bin ich auf viele gemeinsame Erfahrungen gestoßen und auf eine achselzuckende Pragmatik im Umgang mit der ‚Kunst‘. Die Tochter einer Freundin war wie ich an einigen Skulpturen vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken, und sie hatte rätselratend vor der abgerissenen OFD gestanden und sich nicht damit abfinden wollen, daß die Skulptur von Christian Odzuck in einem Baugerüst mit Aussichtsplattform besteht. Eine Nachbarin von Heinz erkennt in den Skulpturen vor allem bequeme Gelegenheiten für Radtouren durch Stadt und Umgebung: sie entheben einen der Mühe, sich andere lohnende Ziele ausklamüsern zu müssen.

Irgendwie habe ich den Eindruck, daß die Kunst der Gegenwart vor allem eins bewirkt: sie verwandelt uns in kleine Kinder, die verwundert darauf hinweisen, daß der Kaiser nackt ist.

Einer Gipsfigur aus der Skulpturengruppe von Nicole Eisenmann wurde von Unbekannten der Kopf abgeschlagen. Der Kopf ist zwar inzwischen wiedergefunden worden, aber Stadt und Künstlerin einigten sich darauf, ihn nicht wieder auf dem Rumpf anzubringen, da die drei Gipsfiguren – die anderen beiden Figuren sind aus Bronze – sowieso die Vergänglichkeit zum Ausdruck bringen sollen; und was kann das besser als ein kopfloser Rumpf? Die Besucher der Skulptura haben inzwischen ein neues Photomotiv: sie kauern sich hinter den Rumpf und lassen die Figur mit dem eigenen Kopf ablichten.

Die WN hat eine Umfrage gestartet: was ist die beliebteste Skulptur? – Der Unterwassersteg im Hafen und die Skulpturengruppe von Nicole Eisenmann sind die Favoriten.

Alle nehmen also die Skulptur-Projekte als das, was sie sind: ein bunter, über die Stadt verteilter Jahrmarkt.
Recht so!
PS: Meine Lieblingsskulptur ist übrigens immer noch die Kirschsäule (1987) auf dem Harsewinkelplatz von Thomas Schütte. Allerdings ist es nicht mehr derselbe Platz. Vor 30 Jahren, vor der Bebauung der Stubengasse, war die Kirschsäule noch ganz anders zur Geltung gekommen. Sie war für einen Platz konzipiert worden, den es nicht mehr gibt.
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