„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 6. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Ernst Peter Fischers Buch ist von Anfang bis Ende von ethischen Reflexionen durchzogen, zu denen auch eine gute Portion Wissenschaftskritik gehört. Immer wieder deutet der Autor den ethischen Hintergrund sogar der Naturwissenschaften an, wenn er z.B. Parallelen zwischen den Biowissenschaften und der Alchemie zieht:
„Vor dem Hintergrund der aktuellen Biowissenschaften wird deutlich, dass die Alchemie keinesfalls ein Relikt aus der Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte ist.“ (Fischer 2017, S.251)
Die auffälligste Parallele besteht natürlich in der Homunkulus-Problematik. Der Gedanke der Menschenzüchtung ist in der modernen Reproduktionsmedizin zentral, wird noch einmal durch CRISPR-Cas9 verstärkt und durch das Gene-Drive in Richtung auf die Möglichkeit eines Genocids in sein Gegenteil pervertiert. (Vgl. Fischer 2017, S.241ff.) Im Rahmen seines Vergleichs zwischen Biowissenschaften und Alchemie verweist deshalb Fischer auch auf den auffälligsten Unterschied:
„Sie (die Alchemie – DZ) war vielmehr damit beschäftigt, etwas zu befreien, das in den Stoffen und Formen vorgegeben war. Die Alchemisten folgten der Natur, um sie zu vollenden und dadurch zu befreien. (Wer hierin den Grundgedanken einer Pädagogik entdeckt, die in Kindern wachrufen will, was in ihnen schläft, könnte recht haben.) Die moderne Form der Naturwissenschaft geht anders vor. Ihr Wahlspruch lautet: Wissen ist Macht, und das bedeutet, dass man die Gesetze der Natur mit dem Ziel ihrer Unterwerfung ergründen soll.“ (Fischer 2017, S.253f.)
Die Differenz zwischen der Alchemie und der modernen Naturwissenschaft besteht also darin, daß die Alchemie die Natur vollenden wollte, indem sie, wie es weiter heißt, ihr „Innere(s)“ „befreien“ wollte (vgl. ebenda), während die moderne Naturwissenschaft nur auf technologische Unterwerfung aus ist. Fischers Hinweis in der Klammer auf die pädagogische Qualität dieses alchemistischen Vorhabens zeigt, daß es sich bei diesem Natur-Inneren nicht nur um ein genetisches Innen handelt – in dem Sinne wie Fischer an anderer Stelle meint, daß sich die gegenwärtigen technologischen Innovationen von der äußeren Welt ab- und der inneren, menschlichen Natur zuwenden (vgl. Fischer 2017, S.186) –, sondern um eine expressive Verhältnisbestimmung von Innen und Außen, in der wir unsere individuelle „Einzigartigkeit“ zum Ausdruck zu bringen versuchen (vgl. Fischer 2017, S.290f.).

Beide Male geht es um Vollkommenheit: um vollkommene Selbstverwirklichung (sowohl der Natur wie des Menschen) auf Seiten der Alchemie oder um vollkommene Unterwerfung (sowohl der Natur wie des Menschen) auf Seiten der heutigen Technologie. Und Fischers Position ist an dieser Stelle eindeutig: Wir sollen, so fordert er uns auf, nein zu der technologischen Unterwerfung sagen. (Vgl. Fischer 2017, S.291)

Fischers Impetus ist also über weite Teile seines Buches wissenschaftskritisch. Dann aber erfolgt gegen Ende des letzten Kapitels eine erstaunliche Wende, in der das bisherige reflexive Niveau abflacht. Mit Bezug auf eine Äußerung von Carl Friedrich von Weizsäcker (1882-1951), in der dieser die Wissenschaft für die Folgen ihres Tuns verantwortlich macht (vgl. Fischer 2017, S.295), leugnet Fischer genau das: Er lehnt jede Verantwortung ‚der‘ Wissenschaft ab, indem er durchaus korrekt argumentiert, daß die Wissenschaft keine „Person“ sei „und nur Menschen ... moralische Verantwortung übernehmen (können)“. (Vgl. Fischer 2017, S.295) Mit dieser Feststellung beginnt eine Apologie der Wissenschaft, deren Niveau weit unter allem liegt, was Fischer bislang in seiner eigenen vorangegangen Wissenschaftskritik an den Tag gelegt hatte.

Zunächst bleibt festzuhalten, daß es natürlich richtig ist, daß ‚die‘ Wissenschaft, losgelöst von den konkreten Menschen, die sie betreiben, selbstverständlich keine verantwortliche Instanz ist. Wissenschaftliche Forschung ist in diesem Sinne wertfrei und kann Gutes wie Schlechtes bewirken. Aber Wissenschaft wird nun mal von Menschen betrieben, und diese sind tatsächlich für das, was sie können, für ihre Expertise verantwortlich gegenüber der Öffentlichkeit. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit bildet den transdisziplinären Hintergrund jeder wissenschaftlichen Forschung.

Es ist ja gerade die Expertise der Wissenschaftler, die genau die technologischen Innovationen ermöglicht, zu denen die anderen, wissenschaftlich nicht ausgebildeten Menschen, die Laien, nein sagen können sollen, wie Fischer selbst fordert. Und es sind natürlich auch nicht zuletzt die Interessen der Wirtschaft, die mittels eigener Forschung und Sponsoring die Richtung der wissenschaftlichen Forschung mitbestimmen. Zurecht heißt es in einer „Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Deutschen Akademie für Naturforscher“, die Fischer durchaus zustimmend zitiert:
„Denn Forscher haben aufgrund ihres Wissens, ihrer Erfahrung und ihrer Freiheit eine besondere ethische Verantwortung.“ (Fischer 2017, S.305)
Inwiefern kann man also zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Wissenschaftlern‘ differenzieren? Was ist mit jenen exponierten Neurowissenschaftlern, wie Wolf Singer und Gerhard Roth, die 2004 ein „Manifest“ veröffentlichten, in dem Geist, Bewußtsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit summarisch als biologische Prozesse deklariert werden und das damit genau jene Neigung der Laien, sich durch das „bereitwillige() Akzeptieren von neurowissenschaftlichen Befunden“ an die Leine legen zu lassen, bestärkt? (Vgl. Fischer 2017, S.311f.) Ist es nicht genau die Autorität ‚der‘ Wissenschaft, die das Verhalten dieser Wissenschaftler in den Augen der gläubigen Laien unangreifbar macht?

Während sich Fischer also gegen eine spezifische Verantwortung der Wissenschaft und mit ihnen der Wissenschaftler wendet, nimmt er dafür umso mehr eine ominöse ‚Öffentlichkeit‘ für ihre ‚Verantwortung‘ in Haftung, und dabei unterscheidet er überhaupt nicht mehr zwischen ‚der‘ Öffentlichkeit und den einzelnen konkreten Menschen, wie er das bei ‚der‘ Wissenschaft tut. Vielmehr attackiert er die Verantwortungslosigkeit ‚der‘ Öffentlichkeit, als wäre sie eine Person: ‚die‘ Öffentlichkeit kann sich nämlich ‚empören‘ und ein, natürlich wissenschaftsfeindliches, „Tribunal“ bilden. (Vgl. Fischer 2017, S.300) Außerdem ist ‚die‘ Öffentlichkeit selbstherrlich und arrogant, denn sie „spielt offenbar gern – mithilfe mancher Medien und populistischer Philosophen – so etwas wie den lieben Gott“. (Vgl. ebenda) – An dieser Stelle darf natürlich auch die jederzeit beliebte Medienschelte nicht fehlen, denn zumindestens ‚manche‘ von ihnen, so Fischer, beteiligen sich an diesem unfreundlichen, gegen die Wissenschaft gerichteten ‚Spiel‘.

Es ist dem Rezensenten völlig unerfindlich, woher plötzlich diese Aggressivität kommt, mit der Fischer insbesondere über die Gentechnik-Kritiker herfällt. (Vgl. Fischer 2017, S.232f.) Möglicherweise hängt sie mit dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA zusammen und mit dem gegenwärtigen Siegeszug eines wissenschaftsfeindlichen Populismusses überall in Europa. Aber das sollte man nun wirklich nicht einfach alles in einen Topf werfen, zumal es wiederum Fischer selbst ist, der, nachdem er seine polemische Attacke beendet hat, selbst wieder auf die Gefahren einer unreflektierten Gentechnologie hinweist. So sei es bei der gentechnischen Behandlung der „Alzheimer-Demenz“ (Fischer 207, S.241) wichtig, sich hier nicht nur auf das hohe Alter zu konzentrieren, sondern den gesamten Lebenslauf eines Menschen miteinzubeziehen, um erstmal herauszufinden, „was die Alzheimer-Sequenzen hier beitragen, bevor man seine editorischen Fähigkeiten an ihnen probiert“ (vgl. Fischer 2017, S.264). Denn möglicherweise sind genau diese Sequenzen für den jüngeren Menschen überlebenswichtig und zeigen erst im Alter ihre persönlichkeitszerstörenden Wirkungen. Und hätte es in grauer Vorzeit schon die Gentechnik gegeben, die es unseren Vorfahren ermöglicht hätte, die Sichelzellenanämie zu heilen, wären wohl viele ihrer Nachkommen der Malaria zum Opfer gefallen, gegen die die Sichelzellenanämie immunisiert. (Vgl. Fischer 2017, S.258f.) Auch die Anwendung des „Gene-Drive“ bei der Ausrottung der Malaria-Mücke bedarf einer umsichtigen Klärung der ökologischen Folgen, da sich die Frage stellt, welche Effekte das auf die Biodiversität hätte. (Vgl. Fischer 2017, S.243)

Kritik an der Gentechnik ist also gerechtfertigt und läßt sich nicht einfach mit irrationalen Ängsten und Abneigungen gleichsetzen, wie Fischer es tut. (Vgl. Fischer 2017, S.232f.) Sicher sind wir mehr denn je auf gentechnische Erkenntnisse angewiesen, wenn es darum geht, eine „wachsende Menschheit“ zu ernähren. (Vgl. Fischer 2017, S.233) Aber essentieller als die Gentechnik ist die Notwendigkeit einer fundamentalen Verhaltensänderung, zu der auch eine veränderte Einstellung des Menschen zur Fortpflanzung gehört. Wenn Elephanten dazu in der Lage sind, in Notzeiten weniger Nachwuchs zur Welt zu bringen und so ihre Populationsgröße zu regulieren, sollten auch wir Menschen das können.

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