„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 4. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Ernst Peter Fischer nimmt die von Heisenberg angesprochene „Persistenz von Gestalten“ zum Anlaß, Entwicklung nicht mehr einseitig von genetischen ‚Atomen‘, sondern vom Ganzen des biologischen Organismusses her zu denken:
„Menschen kommen nicht durch ein genetisches Programm zu ihrem Dasein, wohl aber durch ihre Geschichte, zu der auch die Gene gehören und beitragen. Es wäre schön, könnten Menschen die Fesseln ablegen, die sie sich im Gefolge der molekularbiologischen Triumphe und reduktionistischen Erklärungen allzu gern haben anlegen lassen.“ (Fischer 2017, S.313)
Dabei macht Fischer verschiedene Entwicklungsebenen auf, die er als „Evo-Devo“ zusammenfaßt: als kosmische und biologische Evolution und als individuelle Entwicklung (Development). (Vgl. Fischer 2017, S.183ff.) Während die kosmische Evolution mit dem Urknall beginnt und zunächst chaotisch, also planlos verläuft, wird die biologische Evolution ‚kreativ‘: sie hat einen ‚Plan‘, weil sie wiedererkennbare, einander ähnliche und trotzdem unterschiedliche Phänotypen generiert. Die biologische Evolution ist also teleologisch ausgerichtet. Explizit sinnorientiert bzw. zielgerichtet ist schließlich die individuelle Entwicklung und das individuelle Handeln:
„Die Evolution bringt nämlich keine Menschen hervor, sondern den Vorgang, durch den Menschen entstehen können. Die Bewegung der Evolution generiert die Bewegung der Entwicklung – aus Evo kommt Devo, und beide hängen zusammen. Dieser Prozess unterscheidet sich auf eine wohldefinierte Weise von der (kosmischen – DZ) Evolution. Die Entwicklung verläuft nämlich nicht mehr ganz ohne Plan. ... Der noch langsamen Evolution entwächst die rascher werdende Entwicklung, die sich in sich wandelt und zuletzt ein Organ – das Gehirn – hervorbringt, dessen Formation immer stärker von der Wechselwirkung mit der sinnlich zugänglichen Welt bestimmt wird.“ (Fischer 2017, S.184)
Fischer denkt hier also kosmische, biologische und individuelle Entwicklungsprozesse als eine große zusammenhängende Entwicklung, die von der anfänglichen Planlosigkeit zu zunehmender Planmäßigkeit verläuft und sich dabei beschleunigt, so wie das expandierende Weltall (vgl. Fischer 2017, S.309). Zugleich faßt Fischer diese Evolution als einen Prozeß der „Verinnerlichung“, zum einen in Richtung auf das Gehirn als einem ‚inneren‘ Organ des Menschen (vgl. Fischer 2017, S.184). Man könnte hier also auch von einer Vergeistigung des Entwicklungsprozesses sprechen. Zum anderen faßt er diese Verinnerlichung aber auch als eine Umkehrung der technologischen Ökonomie von ‚außen‘ nach ‚innen‘:
„In dieser Sicht der Welt ist die wirtschaftliche Produktion eine hoch entwickelte Form der Bewegung, die schon deshalb viel Aufmerksamkeit bekommt, weil sie durch Menschen hindurchgegangen ist und aus ihnen herausgefunden hat. Dabei ist etwas völlig Neues entstanden, nämlich eine menschengemachte Natur ... die künftige Richtung der Bewegung scheint jedoch nach innen zu gehen.“ (Fischer 2017, S.185f.)
Gemeint ist mit der künftigen Richtung der Bewegung nach ‚innen‘ die Gentechnik, also diejenige Technologie, die nicht mehr auf die äußere Natur der Welt, sondern auf die innere Natur des Menschen gerichtet ist. Damit wird die technisch-ökonomische Entwicklung zu einer Fortsetzung des kosmischen Evolutionsprozesses überhöht. So sehr also Fischers Sicht auf den Zusammenhang verschiedener Entwicklungsebenen meinem eigenen Modell von den Entwicklungsebenen gleicht, so sehr fehlt hier der Anachronismus zwischen ihnen. Dabei hätte gerade der Gedanke der zunehmenden Beschleunigung der kosmischen, biologischen und kulturell-individuellen Entwicklungsprozesse den Gedanken unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Rhythmen und damit auch des Anachronismusses zwischen ihnen nahegelegt. Dafür aber hätte Fischer die kosmischen, biologischen und individuellen Entwicklungsprozesse präziser als einen geschichteten Prozeß deuten müssen, also als einen Prozeß, in dem die verschiedenen Entwicklungsprozesse gleichzeitig ablaufen und nicht hintereinander.

Indem Fischer das versäumt und diese Prozesse nacheinander auseinander hervorgehen läßt, löst er die Differenz zwischen ihnen harmonisch auf, wozu sicher auch die Kunst- und Bildungsmetapher beiträgt, deren er sich bedient. Und die Differenz zwischen Innen und Außen führt bei Fischer zu keiner anthropologischen Reflexion auf das menschliche Bewußtsein, sondern dient nur dazu, eine Entwicklungsrichtung zu beschreiben, die das, was sowieso schon passiert, naiv rechtfertigt.

Die Stärke der Kunst- und Bildungsmetapher besteht Fischer zufolge darin, daß sie im Unterschied zur Maschinenmetapher unseren Respekt vor dem Leben bestärkt:
„Zudem wird dem Leben vermutlich mehr Wert zugemessen, wenn wir seine Entstehung mit dem Anfertigen eines Kunstwerks vergleichen. Mit einem solchen gehen Menschen vorsichtiger um als mit Maschinen, selbst wenn auf diesen raffinierte Programme laufen.“ (Fischer 2017, S.160f.)
Fischer zufolge sind „Menschen primär ästhetische Wesen“: „Sie wissen erst, was schön ist, bevor sie lernen, was gut ist.“ (Fischer 2017, S.254) – Ich habe da meine Zweifel, wenn ich an Kinder denke, die gleichermaßen empfänglich sind für Häßliches wie Schönes, und wenn ich mir insbesondere ihre Technikbegeisterung vergegenwärtige, die ich darauf zurückführe, daß sie sich selbst als klein und schwach empfinden, wie Jean-Jacques Rousseau in seinem Émile (1762) schreibt, so daß sie diese Schwäche durch Magie oder Technik zu kompensieren versuchen. Dennoch leuchtet mir der ethische Impuls einer Ästhetik, wie Fischer ihn mit Friedrich Schiller beschreibt, durchaus ein: „Menschen streben nach Schönheit, und das heißt – frei nach Schiller – nach Vollkommenheit in Freiheit.“ (Fischer 2017, S.254)

Aber der Freiheitsbegriff ist ambivalent, wie sich schon an der kindlichen Technikbegeisterung zeigt, über die die meisten Menschen ihr Leben lang nicht hinauskommen, wenn sie ‚Freiheit‘ mit ‚Stärke‘ und ‚Macht‘ verwechseln. Tatsächlich widerspricht der neue (gen-)technologische Determinismus, der an die Stelle des althergebrachten Naturzwangs getreten ist, der von Schiller gemeinten Freiheit, wie im folgenden Post zu zeigen sein wird.

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