„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Ernst Peter Fischer verweist auf die Parallele zwischen dem Genbegriff der Molekularbiologen und dem Atombegriff der Physiker. Diese Parallele besteht in der vermeintlichen Stabilität von Genen und Atomen. Aber schon die scheinbare Stabilität erfordere, wie Werner Heisenberg (1901-1976) schreibt, eine „Lehre von den Gestalten“, eine „Morphologie“. (Vgl. Fischer 2017, S.145) Heisenberg verweist hier auf die innere Verschränkung von Strukturalität und Phänomenalität in der modernen Physik:
„Die Stabilität der Atome, die sich z.B. darin äußert, dass ein chemisches Element nach allen möglichen chemischen oder physikalischen Prozessen schließlich immer wieder das gleiche Element bleibt und die gleichen Eigenschaften aufweist, diese Stabilität konnte in der Newtonschen Physik nicht gedeutet werden. Hier braucht man die Persistenz von Gestalten, die Bohr mit seiner These von der Existenz stationärer Zustände postuliert hat ...“ (Werner Heisenberg: „Die Einheit der Natur bei Alexander von Humboldt und in der Gegenwart“ (1969); zitiert nach Fischer 2017, S.145f.)
Die von Heisenberg angesprochene Notwendigkeit, auf den Gestaltbegriff zurückzugreifen, macht den Antagonismus zwischen Phänomenalität und Strukturalität in der modernen Physik deutlich, nämlich zwischen ‚Gestalten‘, wie sie sich zeigen und erhalten, also eine Dauer in der Zeit an den Tag legen, und dem mathematischen Strukturalismus physikalischer Gesetze. Einerseits hat sich die moderne Physik von den Natur-Phänomenen im ursprünglichen Sinn des Wortes abgewandt. Sie interessiert sich nur noch für die zugrundeliegenden, nicht sichtbaren Strukturen der sichtbaren Natur. Andererseits führt diese Tendenz zu dem Ergebnis, daß sich auch diese ‚Strukturen‘ schließlich mit den Atomen auflösten und dynamische Relationen oder sogar eine Art geordnetes Chaos an ihre Stelle trat:
„Als die Wissenschaft lernte, Atome zu zählen, verschwanden sie vor den Augen und aus den Händen der Physiker und luden die Forscher zu vielen Gedankenspielen ein. Diese zwar erstaunliche, aber kaum verbreitete oder öffentlich wahrgenommene Erfahrung hat ein Zeitzeuge der Entwicklung, der erst als Physiker tätige und dann als Philosoph berühmt gewordene Carl Friedrich von Weizsäcker bereits in den 1940er Jahren durch die Bemerkung charakterisiert, ‚man wird nicht sagen dürfen, dass die Physik die Geheimnisse der Natur wegerkläre, sondern dass sie sie auf tieferliegende Geheimnisse zurückführe‘.“ (Fischer 2017, S.20)
Auch hier haben wir eine parallele Entwicklung in der Biologie: in dem Moment, wo die Gene zählbar wurden, „lösten sich diese Gebilde unter ihren Händen auf – auch wenn einige Bioforscher sich eifrig bemühten, Nummern aufs Papier und in eine Datei zu schreiben“. (Vgl. Fischer 2017, S.23) – Ernst Peter Fischer beschreibt, wie an die Stelle von statischen, nur in diskontinuierlichen Sprüngen zwischen den Generationen mutierenden Genen eine dynamische Vorstellung von der Gesamtheit des dynamischen Geschehens in einer Zelle trat, in dem Gene und Proteine sich wechselseitig in einem ‚inifinitesimalen‘ Kreislauf beeinflussen:
„Das Gen als dynamisches Geschehen in der Zelle löst zwangsläufig eine wirbelnde und wabernde Vorstellung aus, bei der Gene Proteine machen, die Gene machen, die Proteine machen, die Gene machen, die Proteine machen, und man würde allmählich gern wissen, wo da Anfang und Ende sind. Vielleicht kann man so etwas gar nicht finden und sollte sich eher endlose Schleifen und Kreisläufe im Innern der Zelle vorstellen ...“ (Fischer 2017, S.96f.)
An den beiden Zitaten von Werner Heisenberg (1901-1976) und Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) zeigt sich, wie bereits erwähnt, der Antagonismus zwischen Phänomenalität und Strukturalität, von dem in meinem Blog immer wieder die Rede ist und mit dem wir es gerade auch in der Molekularbiologie wieder zu tun haben. Hatte man im gesamten Verlauf des 20. Jhdts. zunächst versucht, den Phänotyp, also die sichtbare Gestalt eines individuellen Organismusses auf den Genotyp, nämlich auf im Zellkern verortete, ‚stabile‘ Informationen und Codes zurückzuführen, die in Form von Algorithmen bzw. Programmen das Zellgeschehen und den Organismus steuern, so begann man nun im Gefolge der „Verhaltensepigenetik“ wieder die individuelle Biographie eines Menschen in dessen ‚Genese‘ miteinzubeziehen:
„Im Rahmen dieser neuen Wissenschaft hat man es längst aufgegeben, einen deterministischen Ansatz zu verfolgen, also nach irgendwelchen Genen Ausschau zu halten, die alles bedingen und bewirken. Wie auch? Bei dem epigenetischen Paradigma wird vielmehr gefragt, wie Eigenschaften (Phänotypen) und Verhaltensweisen im Lauf der Entwicklung auftreten.“ (Fischer 2017, S.212f.)
Ernst Peter Fischer schließt mit seinen Überlegungen an diesem Stand der Forschung an. Da es ohnehin bis heute keine anerkannte „Theorie von Genen und Genomen“ gibt (vgl. Fischer 2017, S.286) und die Forschung sich vor allem an Metaphern aus dem Maschinen- und Computerbereich orientiert – was sie nicht daran hindert, im Gegenteil!, technologisch höchst produktiv zu sein –, schlägt Fischer alternative Metaphern aus dem Bereich von Kunst und Bildung vor, die dem aktuellen Erkenntnisstand wesentlich besser entsprechen. (Vgl. Fischer 2017, S.160f.) Dabei geht es vor allem um eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Genotyp und Phänotyp, zwischen Strukturalität und Phänomenolität.

Die bisherige Forschung ist vor allem an der Steuerung des Phänotyps durch den Genotyp interessiert gewesen, in der die Informationen nur in eine Richtung fließen:
„Für (Francis) Crick kam es darauf an, die Richtung der Information festzulegen – sie fließt nur in ein Protein hinein und nicht wieder aus ihm heraus –, und er wollte wissen, ob der Übertrag direkt geschieht oder vermittelt wird.“ (Fischer 2017, S.80) 
Diesem informationstheoretisch geprägten Erkenntnisinteresse entspricht die Redeweise (Metapher) von ‚Programmen‘ und ‚Codes‘, bei denen Fischer an mehreren Stellen seines Buches genüßlich nachfragt, wo denn da „der entsprechende Programmierer sitzt und wie er tickt“. (Vgl. S.156; vgl. auch S.22, 157, 204) Nun könnte man aber an ihn hinsichtlich seiner Kunstmetapher genau dieselbe Frage richten, denn er übernimmt die Metapher von dem Evolutionsbiologen Enrico Coen, ohne nach dem Künstler bzw. Maler zu fragen, der die Formen des Lebens auf die (mit den sich entwickelnden Organismen mitwachsende) Leinwand (vgl. Fischer 2017, S.166) zaubert. Wie Fischer schreibt, „hat der britische Evolutionsbiologe Enrico Coen vorgeschlagen, sich (bei der Wahl der Metaphern – DZ) bei der menschlichen Kreativität zu bedienen, und er meint damit vor allem die Formen des künstlerischen Schaffens, wie sie sich beim Malen zeigen“. (Vgl. Fischer 2017, S.159)

Darüberhinaus spricht Fischer ganz naiv von „Skizze(n)“ (vgl. Fischer 2017, S.166) und von „kreative(n) Idee(n)“ (vgl. Fischer 2017, S.159), die „im Genom eines Menschen“ stecken und die sich im sich entwickelnden Organismus „ausdrücken“ können und wollen (vgl. Fischer 2017, S.161). Fischer versäumt es an dieser Stelle, die naheliegende Parallele zum Kreationismus zu thematisieren und sich davon zu distanzieren. Aber mit dem Kreationismus hat Fischers Rückgriff auf die Kunst- und Bildungsmetapher schon deshalb nichts zu tun, weil er ausdrücklich festhält, daß wir es hier mit einem Lebensprozeß zu tun haben, der sich selbst erschafft, also nicht auf einen Künstler-Gott als Urheber rekurriert:
„Das Machen und das Gemachte, der Macher und das Machen – sie hängen zusammen, in der Kunst wie im Leben, und es ist schön, dass die deutsche Sprache ein passendes Wort hat, auch wenn es heute mehr in einem oberflächlichen Sinn gebraucht wird. Gemeint ist das Wort ‚Bildung‘, in dem das Bilden und das Gebildete zusammenfinden und mit dem die Möglichkeit gegeben ist, bei den Entwicklungsvorgängen von der Bildung des Lebens zu sprechen, von der Bildung einer Drosophila ebenso wie von der Bildung eines Menschen.“ (Fischer 2017, S.160)
An dieser Stelle vermißt der Rezensent eine weitere notwendige Differenzierung der Kunst- und Bildungsmetapher: inwiefern unterscheidet sie sich von der systemtheoretischen „Autopoiesis“? Bei der Systemtheorie haben wir es nämlich mit einer Maschinentheorie zu tun, und trotzdem gibt es hier eine Vorstellung von ‚Selbsterschaffung‘, in der der „Macher“ und das „Machen“ zusammenfallen, ohne daß dabei auf Metaphern wie ‚Programm‘ oder ‚Code‘ verzichtet wird. Und mit der Informationsrichtung haben Systemtheoretiker auch kein Problem: lernende Algorithmen steuern nicht nur Systemprozesse, sondern nehmen auch gerne Informationen aus der ‚Umwelt‘ entgegen.

Abgesehen von diesen Problematiken (Kreationismus/Systemtheorie) ist Fischers Rückgriff auf die Kunst- und Bildungsmetapher durchaus lehrreich und produktiv. So gelingt es ihm mit ihrer Hilfe, Genotyp und Phänotyp zusammenzudenken, und ich möchte an dieser Stelle seinen Gedanken in einem Exkurs aufgreifen und weiterdenken.

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