„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Auch wenn der Titel von Ernst Peter Fischers Buch „Treffen sich zwei Gene“ (2017) eher nach einem Witz klingt, handelt es sich dabei doch um eine lesenswerte, gleichermaßen sachlich informierte wie reflektierte und nicht zuletzt auch polemische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Molekularbiologie auf hohem Niveau. Es ist eher der Untertitel „Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens“, an dem sich interessierte Leser orientieren sollten.

Es sagt viel über die Möglichkeiten und die Grenzen der in den 1930er Jahren zunächst als „Mathematische Biologie“ in Erscheinung getretenen Molekularbiologie aus, daß sie von Physikern mitbegründet und lange Zeit von Physikern begleitet wurde. (Vgl. Fischer 2017, S.47) Fischer zufolge ist die „moderne Biologie das Werk von Physikern ... – was noch deutlicher wird, wenn es um die moderne Molekularbiologie geht“. (Vgl. Fischer 2017, S.30) Schon in den allerersten Anfängen der modernen Genetik hatte die Physik bei der Entdeckung der Gene ihre Finger mit im Spiel. Noch bevor Gregor Mendel (1822-1884) in seinem Klostergarten Erbsen zählte und den Vererbungsgesetzen von „Erbelementen“, den späteren Genen, auf die Spur kam, hatte er im Auftrag seines Ordens Physik studiert. Die Folge war, daß er sich die wechselseitigen Einflüsse zwischen den von ihm so genannten Erbelementen entsprechend der „kinetische(n) Gastheorie“ seiner Zeit als ein dynamisches Geschehen dachte. (Vgl. Fischer 2017, S.31) Der Dynamik des von ihm beschriebenen Vererbungsprozesses entsprach auch die statistische Methode, die Mendel erstmals in der Biologie anwandte. (Vgl. Fischer 2017, S.33)

Viele weitere ursprünglich physikalische Begriffe fanden in der Genetik Anwendung: der Begriff des Gens war vom Begriff des Atoms abgeschaut. (Vgl. Fischer 2017, S.18ff. und S.30) Und der Begriff der Mutation orientierte sich an den von Max Planck (1858–1947) beschriebenen Quantensprüngen. (Vgl. Fischer 2017, S.37) Sogar der physikalische Satz von der Erhaltung der Energie fand seine Entsprechung in der genetischen Erkenntnis, „dass es Qualitäten gibt, die erhalten bleiben, auch wenn sie oberflächlich verschwunden zu sein scheinen“, also im Sinne einer Differenz zwischen dominanten und rezessiven Genen. (Vgl. Fischer 2017, S.35)

Die Parallelisierung von Genen und Atomen führte zu einem genetischen Determinismus, demzufolge die Gene als „Kausalfaktoren mit festem Ort und sauber definierten Aufgaben“ verstanden wurden (vgl. Fischer 2017, S.143), die das Erscheinungsbild bzw. den Phänotyp eines Organismusses bedingen, bis hin zu Bewußtseinsqualitäten wie der Intelligenz. Beim Versuch, die Wirkungsweise eines Gens zu definieren, einigten sich einige – aber längst nicht alle! – Wissenschaftler darauf, daß Gene Proteine herstellen:
„Man kann das Gesagte in prägnanter Form so zusammenfassen, wie es die Biochemiker selbst getan haben, und von der legendären ‚Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese‘ sprechen, mit der langsam erste Klarheit in das Treiben von Zellen und ihre genetische Grundlage gebracht werden konnte.“ (Fischer 2017, S.58)
Diese Definition ist unvollständig, wie sich noch zeigen wird. Tatsächlich gibt es, wie Fischer festhält, bis heute keine allgemein anerkannte Theorie des Gens: „Es sagt zwar niemand laut, aber es gibt keine Theorie von Genen und Genomen ...“ (Fischer 2017, S.286) – Dafür aber, und das finde ich erstaunlich, gibt es unglaubliche Erfolge in der Gen-Technologie. Vor dem Hintergrund einer fehlenden Theorie hat das etwas Bedenkliches.

Letztlich ereilte den am Atommodell orientierten klassischen Gen-Begriff das gleiche Schicksal wie das Atom:
„Beim Versuch, die Gene abzuzählen, erlebten die Biologen zu Beginn des 21. Jahrhunderts dasselbe, was die Physiker einhundert Jahre zuvor erfahren hatten. Als es den Betreibern des Genomprojekts nämlich möglich wurde, die Objekte ihrer Suchleidenschaft zu zählen, da lösten sich diese Gebilde unter ihren Händen auf – auch wenn einige Bioforscher sich eifrig bemühten, Nummern aufs Papier und in eine Datei zu schreiben.“ (Fischer 2017, S.23)
Wie sich der Gen-Begriff in der Forschung nach und nach zerlegte und wie er schließlich seine Gültigkeit verlor, zeichnet Fischer anhand von, nach meiner Zählung, insgesamt acht Punkten bzw. Argumenten nach, auf die ich hier, entsprechend meinem laienhaften Verständnis, kurz eingehen will.

Zum ersten Mal wurde das Gen als grundlegende, unteilbare Einheit der Vererbung durch die Forschung von Seymour Benzer (1921-2007) in Frage gestellt:
„Wie seine Experimente zum Vorschein brachten, reichte schon die Änderung eines einzigen Bausteins in der DNA, um ein Gen zu verändern, also eine Mutation herbeizuführen. Und eine Rekombination kam ebenfalls mit Bruchteilen eines Gens aus, das in seiner eigentlichen Funktion immer noch brav als ganzer DNA-Strang weitergegeben – vererbt – werden musste.“ (Fischer 2017, S.76f.)
Benzer zufolge zerfällt der Evolutionsprozeß in drei verschiedene Momente: in die „Einheit der Mutation“, in die „Einheit der Rekombination“ und in die „Einheit der Vererbung“. (Vgl. Fischer 2017, S.77) Diese drei verschiedenen Momente lassen sich nicht in einem einheitlichen Gen-Begriff zusammenfassen.

Das zweite Argument gegen den unteilbaren Kausalfaktor namens ‚Gen‘ richtet sich gegen die Hypothese, daß Gene die Zellaktivitäten steuern. Fischer spricht stattdessen von einem Krieslaufprozeß, der das ganze Zellgeschehen umfaßt:
„Damit ein Gen funktionieren kann, braucht es die Hilfe eines anderen Gens, das natürlich auch erst funktionieren kann, wenn es selbst ebenfalls dank eines anderen Gens aktiv geworden ist, und so geht der genetische Gedanke immer weiter und schließt sich vermutlich zu einem Kreis. Gene funktionieren nicht für sich, sondern nur mit Genen, also im vernetzten Verbund der ganzen Zelle und ihrer sich gegenseitig bedingenden Abläufe ...“ (Fischer 2017, S.82)
Die Fragen, die sich hier stellen, beziehen sich Fischer zufolge nicht mehr auf das Gen als Kausalfaktor, sondern darauf, was in diesem Kreislaufprozeß die Proteine dazu befähigt, genetische Informationen auszulesen, die es ihnen ermöglichen, Proteine herzustellen. (Vgl. Fischer 2017, S.83)

Das dritte Argument betrifft die „reverse Umschreibung“ von RNA-Strängen in diejenigen DNA-Abschnitte, die die Herstellung der RNA-Stränge ermöglicht hatten. (Vgl. Fischer 2017, S.95) Dem genetischen Dogma zufolge ist so eine Umschreibung unmöglich, da die Information nur in eine Richtung gehen kann: vom Gen zum Protein bzw. zur RNA und nicht umgekehrt. Als die Möglichkeit einer reversen Umschreibung tatsächlich experimentell belegt wurde, widerlegte sie nicht nur dieses Dogma; auch die mit der Möglichkeit einer reversen Umschreibung verbundene Erwartung, daß es zu einer identischen Verdopplung der betreffenden DNA-Abschnitte kommen würde, wurde enttäuscht; Original und Kopie waren verschieden:
„Der ontologische Status der Gene war damit, wenn man so will, seit Ende der 1970er Jahre hinfällig, und dieser Gedanke ist zwar ungewohnt, doch die Wissenschaft kennt auch andere Größen, die es nicht als solides, sondern nur als dynamisches Etwas gibt und die sogar verschwinden können, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben.“ (Fischer 2017, S.95)
Das fünfte Argument bezieht sich auf das „Spleißen“ von RNA-Strängen. Dieser Vorgang ermöglicht es den RNA-Strängen, aus ein und demselben DNA-Abschnitt mehr als ein Protein herauszulesen. (Vgl. Fischer 2017, S.99) Ein weiterer Sargnagel für die „Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese“.

Das sechste Argument beinhaltet die Einsicht, daß die Gene, die Antikörper codieren, „erst im Lauf der Entwicklung“ eines Kindes „zusammengestellt“ werden, „abhängig von den Erfahrungen, die ein Kind macht, abhängig von dem Dreck, den es frisst, oder abhängig von den Krankheitserregern, denen es begegnet und die sich in ihm tummeln wollen“. (Vgl. Fischer 2017, S.100) Auch diese Erkenntnis stellt den ontologischen Status von Genen, die dem Dogma zufolge nur über den Wechsel der Generationen hinweg weitergegeben und verändert werden, grundlegend in Frage.

Das siebte Argument führt den seltsamen Umstand an, daß nur die sogenannten Gene für die Herstellung von Proteinen verantwortlich sind. Tatsächlich sind lediglich „rund ein Prozent der DNA einer menschlichen Zelle als Gen im traditionellen Sinn der Proteinherstellung zu deuten“. (Vgl. Fischer 2017, S.142) Mehr als 80 Prozent des Genoms „liegen“, schreibt Fischer mit Verweis auf den „Guide to the Human Genome“, nicht einfach nur „herum“. (Vgl. ebenda) Die vielfältigen Aufgaben dieses Teils des Genoms – zu einem beträchtlichen Teil regulatorische Aufgaben – sind längst noch nicht im Detail beschrieben.

Als achtes Argument zähle ich Fischers ästhetische Stellungnahme zum Lebensprozeß, die seiner Ansicht nach eine Ethik impliziert. Nach der Destruktion des Gen-Begriffs als Kausalfaktor und der damit verbundenen Reduktion des Lebensprozesses auf algorithmische Ausführungsbedingungen, sprich: ‚Programme‘, fragt sich der Autor, ob die Maschinen- bzw. Computer-Metapher zur Beschreibung dieses Lebensprozesses überhaupt noch etwas taugt. Angesichts des Umstands, daß es nach wie vor keine „Theorie von Genen und Genomen“ gibt (vgl. Fischer 2017, S.286), schlägt Fischer vor, es zur Abwechslung mal mit einer anderen Metapher aus dem Bereich der Kunst und der Bildung zu versuchen, und den Lebensprozeß als Kunstwerk zu verstehen:
„Mit einem solchen (Kunstwerk – DZ) gehen Menschen vorsichtiger um als mit Maschinen, selbst wenn auf diesen raffinierte Programme laufen. Vielleicht gehen Menschen insgesamt vorsichtiger mit Genen um, wenn sie wissen, welche kreative Kraft in ihnen liegt und sich ausdrücken kann und will.“ (Fischer 2017, S.160f.)
Auf dieses achte Argument werde ich in den folgenden Blogposts noch einmal differenzierter eingehen.

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4 Kommentare:

  1. Es ist merkwürdig, das hier als Biologie-Vierstünderin zu lesen, die dieses Jahr Abi gemacht hat. Da wir diese Dinge aktuell im Unterricht durchnehmen, ist für mich die Tatsache, dass die Gene nicht unveränderlich sind nichts Neues wofür ich mir alte Vorstellungen aus dem Kopf schlagen müsste... Und kenne zumindest den Stand der Forschung der standardisiert genug ist, um ihn an der Schule zu unterrichten. Andererseits müssen wir trotzdem DNA mit der Code-Sonne Proteine decodieren. Ich denke, zumindest in gewissen Grenzen hat das seinen Sinn.

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  2. Ich gehöre noch zur alten Schule: Darwin und Lamarck waren für mich unvereinbare Gegensätze. Mein ewiger gedanklicher Widersacher: Dawkins und sein Egoismus der Gene. Als ich 2009 erstmals von der Epigenetik erfuhr, war das eine Befreiung. Seitdem beginne ich mich mit der Biologie, die, bevor ich in die Oberstufe kam und mit der Molekularbiologie konfrontiert wurde, mein Lieblingsfach gewesen war, wieder zu versöhnen.

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  3. Gerade dann, wenn man das Genom als deterministisch erkennt und erkennen will, was faktisch das Eine ist im Gengensatz zum Vielen des Nicht-Deterministischen, müßte man das "deterministische" begrifflich definieren und eine Theorie des Deterministischen im Bezug zu den Genen erstellen mit den Kriterien der Bestätigung oder Falsifikation. Beides ist nicht gemacht worden und lässt Ernst Peter Fischer in der Luft hängen, weil er nicht genau weiß, gegen was er da eigentlich argumentieren soll. Zumindest ich erkläre es mir so, weil ich nur halbwegs seinen Argumenten folge.

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    1. Das Deterministische ist schnell, ohne große Mühe, definiert: Alles ist kausal bedingt. Es gibt weder Zufall (wie etwa in der Quantenmechanik) noch Freiheit (im Sinne von Willensfreiheit). Allerdings muß ich zugeben, daß ich nicht alle von mir aufgezählten Punkte wirklich verstanden habe. Das wichtigste Argument ist meiner Ansicht nach die genetische Identität des homo sapiens: bis zu 99,9 %! Wozu also noch Zwillingsstudien? Die phänotypischen Unterschiede müssen anderswoher kommen.

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