„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Im vorangegangenen Post war ich schon auf den Unterschied zwischen nicht-komplexen und komplexen Systemen eingegangen. Ein wichtiger Unterschied besteht Bardi zufolge in der Steuerbarkeit von Systemen: Autos sind linear mit Hilfe technischer Instrumente (Lenkrad, Kupplung, Gaspedal und Bremse) steuerbar, aber ein System wie die Erde ist steuernden Einflüssen des Menschen gegenüber relativ unempfänglich. (Vgl. Bardi 2017, S.215f. und S.272) Es ist bei dem Erdsystem nicht einfach so wie bei einem großen Containerschiff, das ja auch nicht einfach mal eben rechts abbiegen kann, wie es dem Kapitän gerade so gefällt. Das Erdsystem regiert vielmehr nicht-linear auf das Verhalten der Menschen, d.h., es ist mathematisch nicht berechenbar.

In diesem Fall ist der Begriff der „Resilienz“ wichtig. (Vgl. Bardi 2017, S.240ff.) Das Erdsystem hat sein eigenes, in Millionen und Milliarden von Jahren entstandenes Gleichgewicht und neigt dazu, es beizubehalten. Die Erde fängt also innere (durch Vulkane, Erdbeben und den Menschen hervorgerufene) und äußere (durch Meteoriten importierte) Störungen auf und puffert sie ab, indem sie die neu entstandenen Umweltfaktoren in das bestehende Gleichgewicht integriert:
„Wenn auf ein System im Gleichgewicht Zwang ausgeübt wird, werden sich die Parameter des Systems so verändern, dass sie dem Zwang entgegenwirken. ... Stört man ein System im Gleichgewicht geringfügig, kehrt es in der Regel annähernd zum lokalen Minimum des Energiepotenzials, dem sogenannten Attraktor, zurück.“ (Bardi 2017, S.215)
Übersteigt allerdings die ‚Störung‘ ein gewisses Maß, so daß der Kippunkt eines Systems erreicht wird, wird das System zusammenbrechen. (Vgl. Bardie 2017, S.15f.) An dieser Stelle weist Bardi auf einen wichtigen Umstand hin: ‚Resilienz‘ ist nicht per se etwas Gutes. So bildet auch der „american way of life“ ein komplexes System, und Politiker wie der gegenwärtige Präsident wollen es wieder ‚great‘ machen. (Vgl. Bardi 2017, S.240) Überhaupt sprechen maßgebliche Politiker in aller Welt immer gerne von einem ‚nachhaltigen‘ Wirtschaftswachstum und davon, daß sie die Infrastruktur eines Landes gegen Störungen aller Art ‚resilient‘ machen wollen. Gemeint ist damit immer nur die Aufrechterhaltung eines globalen, den Planeten und damit die Zukunft des Menschen zerstörenden Wirtschaftssystems. Hier wird ‚Resistenz‘ mit ‚Resilienz‘ verwechselt. Resistenz geht mit einer lernunwilligen Beratungsresistenz einher; zumindestens kritischen Klimawissenschaftlern gegenüber. ‚Ratschläge‘ von neoliberalen Lobbyisten werden hingegen immer gerne angenommen.

Ugo Bardi zieht daraus den Schluß, daß ‚Sabotage‘ eine Option wäre:
„ Auf die Steuerung komplexer Sozial- und Wirtschaftssysteme angewandt, ist es tatsächlich eine Überlegung wert, den Kollaps von Strukturen, die obsolet und gegen Veränderungen resistent geworden sind, gezielt herbeizuführen.“ (Bardi 2017, S.267)
Allerdings nennt Bardi das nicht Sabotage, sondern „kreativen Kollaps“. (Vgl. Bardi 2017, S.267ff.)

Komplexe Systeme verhalten sich also letztlich wie Lebewesen (vgl. Bardi 2017, S.214 und S.274), und deshalb, so Bardi, ist es auch berechtigt, die Erde als ein Lebewesen anzusehen und ihr einen Namen zu geben, nämlich „Gaia“, wie das Lynn Margulis und James Lovelock in den 1960er Jahren vorgeschlagen hatten. Ihrer „Gaia-Hypothese“ zufolge ‚kümmert‘ sich die Erde um ihre Bewohner und beschützt sie.

Natürlich wurde diese Ansicht vom naturalistischen Mainstream der Wissenschaft heftig attackiert: „Wissenschaftler mögen keine teleologischen Erklärungen für natürliche Phänomene, noch weniger aber mögen sie theologische.“ (Bardi 2017, S.214) – Der Paläontologe Peter Ward stellte der Gaia-Hypothese seine Medea-Hypothese entgegen, derzufolge das Leben auf der Erde nicht selbsterhaltend, sondern selbstzerstörerisch sei. (Vgl. ebenda) Da aber komplexe Systeme sowieso zum Kollaps neigen – der Kollaps ist Bardi zufolge kein Defizit, sondern eine Eigenschaft des Universums (vgl. Bardi 2017, S.13) –, macht das, wie Bardi schreibt, eigentlich keinen Unterschied:
„Wachstum und Zusammenbrüche sind Teil der Funktionsweise des Universums. Am Ende könnten Gaia und Medea ein und dieselbe Figur sein.“ (Bardi 2017, S.223)
Obwohl also das Erdsystem komplex ist und unsere gegenwärtige Wirtschaftsform zu einem neuen Kippunkt geführt hat – bzw. längst über diesen Kippunkt hinausgeführt hat –, an dem die globale ökologische Sphäre des Planeten zu kollabieren beginnt, glaubt Bardi dennoch, daß wir diesen Zusammenbruch noch steuern können, wenn auch eben nicht in dem Sinne, wie wir ein Auto steuern können. Wir können zwar den Zusammenbruch nicht verhindern, so wenig wie wir einen Fluß flußaufwärts fließen lassen können; aber wir können die Fließrichtung beeinflussen. (Vgl. Bardi 2017, S.274f.)

Bardi bezeichnet diese uns noch verbleibende Möglichkeit, wie schon erwähnt, als „kreativen Kollaps“; es geht also nicht einfach nur um Sabotage, obwohl Bardi diese Möglichkeit zumindest implizit andeutet. Aus der Sicht des Neoliberalismusses wäre ja schon ein verändertes, das Wirtschaftswachstum gefährdendes Konsumverhalten eine Art von Sabotage. Bardi nennt drei ‚Hebel‘, mit denen der Mensch die globale Entwicklung noch zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Bei diesen drei Hebelpunkten handelt es sich um die Quintessenz von insgesamt zwölf Punkten, wie sie Donnella Meadows (1941-2001), eine Mitautorin der „Grenzen des Wachstums“ (1972), entwickelt hat. Ugo Bardi bezeichnet seine Variante zusammenfassend als „Weg des Sämanns“, den er zugleich als zweiten Punkt in seiner Reihe von ‚Hebeln‘ aufführt:
„Eine farbigere Formulierung derselben Regeln könnte so aussehen:
  • Der Weg des Buddhisten: ‚Meide Extreme, suche den Mittleren Weg, um das Nirwana zu erreichen.‘
  • Der Weg des Sämanns: ‚Verzehre nicht dein Saatgut.‘
  • Der Weg des Stoikers: ‚Mache den besten Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin.‘“ (Bardi 2017, S.277)
Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen