„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Ugo Bardis Buch „Der Seneca-Effekt“ (2017) bildet den 42. Bericht an den Club of Rome, der insbesondere durch den ersten Bericht, „Grenzen des Wachstums“ (1972), weltweit bekannt wurde. Dieser erste Bericht hatte das globale Bewußtsein einer Reihe von Generationen – einschließlich den Rezensenten – hinsichtlich der planetaren Zukunft der Menschheit nachhaltig geprägt. Dennoch gab es eine jahrzehntelange lobbyistische, neoliberal (bzw. FDP-liberal) flankierte und mit pseudowissenschaftlichen ‚Argumenten‘ geführte Kampagne gegen die Prognosen dieses Berichts, in dessen Tradition sich Ugo Bardi stellt. Der Kern des Vorwurfs lautete, die Autoren von „Grenzen des Wachstums“ ständen in der Reihe von alle paar Jahrhunderte auftretenden Unheilspropheten, deren Voraussagen sich nie erfüllt hätten. Ugo Bardi weist auf die Substanzlosigkeit dieses Vorwurfs hin, da der Bericht nicht etwa irgendwelche obskuren ‚Prophezeiungen‘ enthält, sondern von unterschiedlichen, rational nachprüfbaren Rahmenbedingungen bestimmte „Szenarien“ zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bis in unsere heutige Gegenwart hinein:
„Die Autoren haben stets unterstrichen, dass es sich bei ihren Ergebnissen um Szenarien handelt, nicht um Vorhersagen (und ganz sicher nicht um Prophezeiungen). Zutreffend ist aber auch, dass alle Szenarien dieselben Trends für dieselben Anfangsannahmen aufzeigten und dass weltweit kein Versuch unternommen wurde, das Wachstum der Weltwirtschaft zu bremsen, das die Hauptursache für die Überlastung und den Zusammenbruch des Systems darstellt.“ (Bardi 2017, S.202)
Und Bardi fügt hinzu: „Unter diesen Szenarien deutet das Basisszenario auf einen globalen Kollaps im Bereich zwischen 2015 und 2025.“ (Bardi 2017, S.202) – Das ist so ungefähr der Stand in dem wir uns augenblicklich gesellschaftlich befinden, wo im Januar die mittlerweile dritte GroKo unter Führung von Angela Merkel beschlossen hat, daß das dringlichste Problem darin bestünde, Deutschland schnellstmöglich und umfassend zu digitalisieren, aber Maßnahmen gegen die Klimaveränderung noch Zeit haben: bis 2025!

Ulrich v. Weizsäcker und Anders Wijkman weisen in ihrem Begleitwort darauf hin, daß Ugo Bardis Bericht „den Leserinnen und Lesern eine Fülle von Anekdoten, Einsichten und Fakten, mit einer bemerkenswerten, ganzheitlichen, analytischen Denkweise“ biete. (Vgl. Bardi 2017, S.10) – Unbeabsichtigt legen sie damit zugleich eine Schwachstelle von Bardis Bericht offen, dem eine etwas systematischere Befassung mit seinem Thema, dem Zusammenbruch von komplexen Systemen, und eine dafür etwas weniger anekdotische Detailfreude gut getan hätte. So erfahren die Leser von Frachtern, die plötzlich auseinanderbrechen, und von Flugzeugen mit rechteckigen Fenstern, die ihre strukturelle Stabilität gefährden (vgl. Bardi 2017, S.52ff.), von ins Rutschen geratenden Pyramiden (vgl. Bardi 2017, S.69ff.), die sich wie Sandhaufen verhalten (vgl. Bardi 2017, S.76f.), und an einer Stelle bezieht sich der Autor sogar auf sich plötzlich entflammende Streichhölzer (vgl. Bardi 2017, S.15) – alles Beispiele von angeblich komplexen Systemen, für deren Verhalten keine mathematischen Gleichungen zur Verfügung stehen.

Angesichts einer solchen Beliebigkeit in der Zusammenstellung von Beispielen fragt sich der Rezensent verwirrt, ob denn alles kompliziert sei und ob nicht damit das Prädikat ‚komplex‘ seinen Sinn verliert? Die Grundlage von Bardis Argumentation bildet die „Systemdynamik“, die sich mit komplexen Systemen befaßt. (Vgl. Bardi 2017, S.14f.) Da hätte man sich schon gerne zu Beginn seiner Ausführungen ein paar Erläuterungen zur Natur des Komplexen gewünscht. Aber Bardi beschränkt sich darauf, das komplexe System als ein aus Knoten und Kanten bestehendes ‚Netz‘ zu beschreiben. Worin besteht also die Komplexität von Sandhaufen und Streichhölzern? – Beide bilden Netze: der Sandhaufen, dessen Körner durch die Gravitation (Kanten) verbundene Knoten bilden (vgl. Bardie 2017, S.83), und das Streichholz, das aus chemisch (Kanten) miteinander verbundenen Atomen (Knoten) besteht (vgl. Bardi 2017, S.14f.). So gesehen ist dann tatsächlich alles komplex.

Erst gegen Ende seines Buches erwähnt Bardi, daß dem doch nicht so ist: so sei z.B. ein Auto ganz und gar nicht komplex, weil es „praktisch linear auf die Handlungen des Fahrers (reagiert)“. (Vgl. Bardi 2017, S.272) Das „Erdsystem“ hingegen ist komplex, denn es reagiert nicht linear auf das Handeln von uns Menschen und läßt sich deshalb auch nicht beliebig steuern. (Vgl. Bardi 2017, S.215f.) Darauf wird im nächsten Blogpost nochmal genauer eingegangen werden.

Eine weitere wichtige Eigenschaft von komplexen Systemen – neben der mathematisch unberechenbaren Nichtlinearität ihres Verhaltens (vgl. Bardi 2017, S.19f., 75f.) –, besteht in ihrer Neigung, irgendwann plötzlich zu kollabieren. Bei diesem Kollaps handelt es sich um den titelgebenden „Seneca-Effekt“, daß nämlich Wachstum immer langsam verläuft, der Zusammenbruch aber, beim Erreichen eines Kippunktes, plötzlich erfolgt. (Vgl. Bardi 2017, S.16f.u.ö.) Der Kollaps ist Bardi zufolge kein Defizit, sondern eine Eigenschaft des Universums (vgl. Bardi 2017, S.13) bzw. des Systems (vgl. Bardi 2017, S.267). Deshalb macht es auch keinen Sinn, sich dem Zusammenbruch eines komplexen Systems, das seinen „Kipppunkt“ überschritten hat (vgl. Bardi 2017, S.15), wie damals beim römischen Reich oder heute in unserer gegenwärtigen globalisierten Welt, entgegenzustemmen. Alles was man damit erreicht, ist eine Verschiebung des Zusammenbruchs auf einen späteren Zeitpunkt, wo er sich dann aber noch heftiger und katastrophaler auswirkt, als wenn man nicht versucht hätte, ihn zu verhindern:
„Jay Forrester, der Begründer der wissenschaftlichen Disziplin der ‚Systemdynamik‘, brachte diese Neigung schon vor langer Zeit auf den Punkt, als er schrieb: ‚Jeder ist bemüht, ‚das System‘ in die falsche  Richtung zu lenken.‘() Die Politik beispielsweise scheint jeden Versuch aufgegeben zu haben, sich Veränderungen anzupassen, und greift stattdessen zu groben, schlagkräftigen Parolen, die eine unmögliche Rückkehr in die frühere Zeit der Prosperität versprechen (etwa ‚Amerika wieder groß zu machen‘). ... In der Technik investiert man viel Energie in die Entwicklung von Methoden, um alte Erfindungen weiter nutzen zu können – zum Beispiel (Privat-)Automobile –, die wir wahrscheinlich besser abschaffen sollten.“ (Bardi 2017, S.17f.)
Man könne ja auch nicht, so Bardi, einen Fluß zwingen, flußaufwärts zu fließen. (Vgl. Bardi 2017, S.275) Dennoch könne man aber seine Fließrichtung regulieren. Auch was den bevorstehenden Zusammenbruch des gegenwärtigen Weltwirtschaftssystems betrifft, besteht unsere größte Hoffnung nicht darin, uns ihm entgegenzustemmen und ihn zu verhindern zu versuchen, sondern den bevorstehenden und wahrscheinlich schon stattfindenden Zusammenbruch kreativ umzuwenden in die Schaffung einer neuen Gleichgewichtswirtschaft. (Vgl. Bardi 2017, S.193) – Denn, so Bardi, Probleme könne man beheben, aber nicht Veränderungen:
„Veränderungen kann man sich nur anpassen.“ (Bardi 2017, S.18)
Abgesehen vom systematischen Desiderat ist Bardis Argumentation insgesamt überzeugend. Und beunruhigend! Denn es ist ebenso offensichtlich, was getan werden muß, wie daß nichts getan wird. Jedenfalls nicht auf offiziell politischer bzw. regierungspolitischer Ebene. Dafür auf gesellschaftlicher Ebene: Bardi verweist auf Transition Town und auf Permakultur, als Formen regionalen Wirtschaftens, die das globalisierte Weltwirtschaftssystem abzulösen und durch eine nachhaltige Gleichgewichtswirtschaft zu ersetzen versuchen.

So sehr mir Bardis diesbezügliche Positionierung gefällt, vermisse ich aber eine fundamentale Reflexion auf die Natur des Menschen. Darauf werde ich im dritten Blogpost, wo es um die Rolle des Geldes geht, nochmal zu sprechen kommen. Für jetzt soll genügen, daß es nicht reicht, dem Menschen eine „genetische Konstellation“ zu unterstellen, die ein „selbstzerstörerische(s) Verhalten“ begünstigt. (Vgl. Bardi 2017, S.233) Das greift einfach zu kurz, gerade auch dort, wo Bardi die Rolle des Geldes als Steuerungselement in einer globalisierten Weltwirtschaft zu analysieren versucht. (Vgl. Bardi 2017, S.94ff.)

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