„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Bardis hauptsächlicher theoretischer Zugriff auf das Phänomen ‚Geld‘ besteht in seiner Steuerungsfunktion für Produktion und Handel, letztlich eigentlich vor allem für den Handel. Mit Hilfe des Geldes werden industrielle und landwirtschaftliche Produkte weltweit verteilt, so daß der Mangel von bestimmten Produkten in einer Region durch die Produkte anderer Regionen ausgeglichen werden kann:
„Heute ist die ganze Welt durch ein Handelssystem verbunden, das vor allem auf dem Seetransport beruht. ... All das ist möglich, weil es in dem System ein Steuerungselement gibt: das globalisierte Finanzsystem. Die Integration der regionalen Ökonomien in ein großes weltweites System hat es möglich gemacht, dass für weite Teile der Weltbevölkerung Nahrungsmittel von überall her bezogen werden können. Damit wurden die Folgen lokaler Nahrungsmittelknappheit auf ein Minimum reduziert. Selbst die Menschen, die zu arm sind, um Nahrungsmittel zu Marktpreisen zu kaufen, überleben, weil Hilfsorganisationen Nahrung in alle Erdteile schicken und sie kostenlos oder zu niedrigen Preisen verteilen – zumindest ist der Prozentsatz derer, denen nicht geholfen werden kann, gesunken.“ (Bardi 2017, S.138f.)
Das Negativbeispiel für eine ‚Ökonomie‘ ohne Geld – Bardi geht so weit, zu behaupten, daß eine Ökonomie ohne Geld „schlichtweg keine Ökonomie“ sei (vgl. Bardi 2017, S.125) – ist Irland, wo es im 18. und 19. Jhdt. mehrere große Hungersnöte gegeben hatte. (Vgl. Bardi 2017, S.117ff.) Bardi führt diese Hungersnöte auf drei Umstände zurück: die steilen Felsküsten, die eine Versorgung der Bevölkerung über die See schwierig bis unmöglich machte, die Abhängigkeit von einem einzigen Grundnahrungsmittel, der Kartoffel, und den verbreiteten Mangel an Geld:
„Die irischen Bauern konnten ohne jegliches Geld überleben. Gut möglich, dass sie, wenn überhaupt, nur selten eine bedeutende Geldsumme zu Gesicht bekamen. Sie lebten gewissermaßen noch in einem frühen Stadium der Geschichte, als das Geld noch gar nicht erfunden war.“ (Bardi 2017, S.125)
Alle diese Umstände zusammen machten es praktisch unmöglich, Mißernten in einer Region durch Überschüsse in anderen Regionen auszugleichen.

Es gibt aber ein anderes Positivbeispiel von einer Inselökonomie, die sich zweieinhalb Jahrhunderte von anderen Ökonomien auf dem asiatischen Festland und von europäischen Seefahrtnationen abschottete: Japan in der Edo-Periode zwischen 1603 bis 1868. Die japanischen Herrscher schafften es, das Geld durch einen Exportverbot von Edelmetallen stabil zu halten (vgl. Bardi 2017, S.133), was dem römischen Imperium nicht gelungen war, weshalb es Bardi zufolge an der Erschöpfung seiner Gold- und Silberminen zugrunde gegangen war (vgl. Bardi 2017, S.44ff.). Es gab auch kein Bevölkerungswachstum, weil die Inselbevölkerung mehr in die anspruchsvolle Erziehung einiger weniger Kinder als in die Zeugung vieler Kinder investierte. Wir haben es beim Japan der Edo-Periode mit einer Gleichgewichtswirtschaft mit „null Prozent“ Wirtschaftswachstum zu tun:
„Diese Strategie erwies sich eineinhalb Jahrhunderte lang als erfolgreich.“ (Bardi 2017, S.135)
Der Hinweis auf das Edelmetall deutet an, daß Ökonomien, die ihre Währung an diesen Rohstoff binden, ein Wachstumsproblem haben, wenn man das so nennen will. Man könnte auch sagen: eine Währung, die an einen begrenzten Rohstoff gebunden ist, ist besser für eine Gleichgewichtswirtschaft geeignet. Die Wirtschaftswissenschaftler unterscheiden hauptsächlich zwischen zwei Formen des Geldes: dem auf Edelmetallen basierenden Geld und dem auf Schulden bzw. auf ‚Kredit‘ basierenden Geld. Die für das Edelmetall plädieren, werden als ‚Metallisten‘ bezeichnet, während diejenigen, die zum Kreditwesen neigen, als ‚Chartalisten‘ bezeichnet werden, von lat. ‚charta‘, Papier, also Zahlen (Schulden), die auf ein Stück Papier geschrieben werden. (Vgl. Bardi 2017, S.99f.) Auf Schulden basierendes Geld wird auch als ‚nominalistisches Geld‘ bezeichnet. (Vgl. meine Blogposts vom 25.11. und vom 28.11.2012)

Im Unterschied zu den begrenzten Ressourcen Silber und Gold sind Schulden unbegrenzt, und damit auch der Reichtum auf der Seite der Gläubiger. Sobald eine auf nominalistischem Geld beruhende Ökonomie mit der „Möglichkeit des negativen Vermögens“ zu rechnen begann, gab es keine Ober- und Untergrenzen mehr:
„Es gibt keine Grenzen für den Reichtum, den man anhäufen kann, und auch den Schulden sind keine Grenzen gesetzt. Nach diesem Modell neigen Vermögen und Schulden dazu, sich unentwegt zu vermehren.“ (Bardi 2017, S.113)
Das nominalistische Geld bildet also die Grundlage für das globale Wirtschaftssystem. Es gibt Berechnungen, daß 95 Prozent der im Umlaufen befindlichen Geldmenge durch keine konkreten Produkte bzw. Waren mehr gedeckt sind.

Genau an dieser Stelle macht sich nun aber bei Ugo Bardi der Mangel an einer fundamental-anthropologischen Reflexion schmerzlich bemerkbar. So eine anthropologische Reflexion finden wir bei Christina von Braun in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012). Ihre kulturanthropologischen Überlegungen legen den Gedanken nahe, daß das nominalistische Geld den Menschen von seiner natürlichen Umwelt abgenabelt und seine körperleiblich fundierte Bedürfnisstruktur völlig umgekrempelt hat. An die Stelle der biologischen Fruchtbarkeit, die den Eltern eine Perspektive auf Kind und Kindeskind über ihren Tod hinaus eröffnet, treten Zins und Zinseszins mit ihrer Perspektive über alle biologischen und planetarischen Grenzen hinaus.

Ugo Bardi schreibt, die „Chimäre des pekuniären Gewinns“ habe den Menschen veranlaßt, „falsche Entscheidungen zu treffen, welche zu weiteren falschen Entscheidungen führen“. (Vgl. Bardi 2017, S.98) Das mag sein. Es führt aber an dem eigentlichen Problem des Geldes meilenweit vorbei.

Wir haben es beim Menschen nicht einfach mit einer genetisch bedingten Neigung zu tun, das zu zerstören, wovon er lebt (vgl. Bardi 2017, S.180f. und S.233), zu der dann noch das nominalistische Geld hinzukommt, um diese irrationale Tendenz zusätzlich zu steigern. Tatsächlich ist das Geld, das keinerlei Deckung mehr zu natürlichen Ressourcen oder zu industriellen Produkten mehr hat, zu einer gigantischen Wertvernichtungsmaschinerie geworden, die zudem noch alchimistische Qualitäten aufweist, insofern sie Technologien ermöglicht, die die Erdkruste gründlicher um- und umgraben als alle Meteoriten der vergangenen Jahrmilliarden; Technologien, die Substanzen entwickeln, auf die die geologische und die biologische Evolution bislang nicht gekommen sind, und die das biologische Leben selbst reproduzieren und konstruieren, als hätten wir es hier nur mit einer weiteren Maschine zu tun.

Das alles läßt sich mit bloßer Habgier und Profitorientierung nicht mehr erklären. Es sind nicht mehr die Menschen, die Geldmünzen prägen oder Geldscheine drucken; es ist das Geld, das sich die Menschen macht, wie es sie braucht. Das Phänomen des nominalistischen Geldes läßt sich nur verstehen, wenn man die körperleibliche bzw. psychophysische Deformation des Menschen in Betracht zieht, die es bewirkt.

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Mittwoch, 2. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Im vorangegangenen Post war ich schon auf den Unterschied zwischen nicht-komplexen und komplexen Systemen eingegangen. Ein wichtiger Unterschied besteht Bardi zufolge in der Steuerbarkeit von Systemen: Autos sind linear mit Hilfe technischer Instrumente (Lenkrad, Kupplung, Gaspedal und Bremse) steuerbar, aber ein System wie die Erde ist steuernden Einflüssen des Menschen gegenüber relativ unempfänglich. (Vgl. Bardi 2017, S.215f. und S.272) Es ist bei dem Erdsystem nicht einfach so wie bei einem großen Containerschiff, das ja auch nicht einfach mal eben rechts abbiegen kann, wie es dem Kapitän gerade so gefällt. Das Erdsystem regiert vielmehr nicht-linear auf das Verhalten der Menschen, d.h., es ist mathematisch nicht berechenbar.

In diesem Fall ist der Begriff der „Resilienz“ wichtig. (Vgl. Bardi 2017, S.240ff.) Das Erdsystem hat sein eigenes, in Millionen und Milliarden von Jahren entstandenes Gleichgewicht und neigt dazu, es beizubehalten. Die Erde fängt also innere (durch Vulkane, Erdbeben und den Menschen hervorgerufene) und äußere (durch Meteoriten importierte) Störungen auf und puffert sie ab, indem sie die neu entstandenen Umweltfaktoren in das bestehende Gleichgewicht integriert:
„Wenn auf ein System im Gleichgewicht Zwang ausgeübt wird, werden sich die Parameter des Systems so verändern, dass sie dem Zwang entgegenwirken. ... Stört man ein System im Gleichgewicht geringfügig, kehrt es in der Regel annähernd zum lokalen Minimum des Energiepotenzials, dem sogenannten Attraktor, zurück.“ (Bardi 2017, S.215)
Übersteigt allerdings die ‚Störung‘ ein gewisses Maß, so daß der Kippunkt eines Systems erreicht wird, wird das System zusammenbrechen. (Vgl. Bardie 2017, S.15f.) An dieser Stelle weist Bardi auf einen wichtigen Umstand hin: ‚Resilienz‘ ist nicht per se etwas Gutes. So bildet auch der „american way of life“ ein komplexes System, und Politiker wie der gegenwärtige Präsident wollen es wieder ‚great‘ machen. (Vgl. Bardi 2017, S.240) Überhaupt sprechen maßgebliche Politiker in aller Welt immer gerne von einem ‚nachhaltigen‘ Wirtschaftswachstum und davon, daß sie die Infrastruktur eines Landes gegen Störungen aller Art ‚resilient‘ machen wollen. Gemeint ist damit immer nur die Aufrechterhaltung eines globalen, den Planeten und damit die Zukunft des Menschen zerstörenden Wirtschaftssystems. Hier wird ‚Resistenz‘ mit ‚Resilienz‘ verwechselt. Resistenz geht mit einer lernunwilligen Beratungsresistenz einher; zumindestens kritischen Klimawissenschaftlern gegenüber. ‚Ratschläge‘ von neoliberalen Lobbyisten werden hingegen immer gerne angenommen.

Ugo Bardi zieht daraus den Schluß, daß ‚Sabotage‘ eine Option wäre:
„ Auf die Steuerung komplexer Sozial- und Wirtschaftssysteme angewandt, ist es tatsächlich eine Überlegung wert, den Kollaps von Strukturen, die obsolet und gegen Veränderungen resistent geworden sind, gezielt herbeizuführen.“ (Bardi 2017, S.267)
Allerdings nennt Bardi das nicht Sabotage, sondern „kreativen Kollaps“. (Vgl. Bardi 2017, S.267ff.)

Komplexe Systeme verhalten sich also letztlich wie Lebewesen (vgl. Bardi 2017, S.214 und S.274), und deshalb, so Bardi, ist es auch berechtigt, die Erde als ein Lebewesen anzusehen und ihr einen Namen zu geben, nämlich „Gaia“, wie das Lynn Margulis und James Lovelock in den 1960er Jahren vorgeschlagen hatten. Ihrer „Gaia-Hypothese“ zufolge ‚kümmert‘ sich die Erde um ihre Bewohner und beschützt sie.

Natürlich wurde diese Ansicht vom naturalistischen Mainstream der Wissenschaft heftig attackiert: „Wissenschaftler mögen keine teleologischen Erklärungen für natürliche Phänomene, noch weniger aber mögen sie theologische.“ (Bardi 2017, S.214) – Der Paläontologe Peter Ward stellte der Gaia-Hypothese seine Medea-Hypothese entgegen, derzufolge das Leben auf der Erde nicht selbsterhaltend, sondern selbstzerstörerisch sei. (Vgl. ebenda) Da aber komplexe Systeme sowieso zum Kollaps neigen – der Kollaps ist Bardi zufolge kein Defizit, sondern eine Eigenschaft des Universums (vgl. Bardi 2017, S.13) –, macht das, wie Bardi schreibt, eigentlich keinen Unterschied:
„Wachstum und Zusammenbrüche sind Teil der Funktionsweise des Universums. Am Ende könnten Gaia und Medea ein und dieselbe Figur sein.“ (Bardi 2017, S.223)
Obwohl also das Erdsystem komplex ist und unsere gegenwärtige Wirtschaftsform zu einem neuen Kippunkt geführt hat – bzw. längst über diesen Kippunkt hinausgeführt hat –, an dem die globale ökologische Sphäre des Planeten zu kollabieren beginnt, glaubt Bardi dennoch, daß wir diesen Zusammenbruch noch steuern können, wenn auch eben nicht in dem Sinne, wie wir ein Auto steuern können. Wir können zwar den Zusammenbruch nicht verhindern, so wenig wie wir einen Fluß flußaufwärts fließen lassen können; aber wir können die Fließrichtung beeinflussen. (Vgl. Bardi 2017, S.274f.)

Bardi bezeichnet diese uns noch verbleibende Möglichkeit, wie schon erwähnt, als „kreativen Kollaps“; es geht also nicht einfach nur um Sabotage, obwohl Bardi diese Möglichkeit zumindest implizit andeutet. Aus der Sicht des Neoliberalismusses wäre ja schon ein verändertes, das Wirtschaftswachstum gefährdendes Konsumverhalten eine Art von Sabotage. Bardi nennt drei ‚Hebel‘, mit denen der Mensch die globale Entwicklung noch zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Bei diesen drei Hebelpunkten handelt es sich um die Quintessenz von insgesamt zwölf Punkten, wie sie Donnella Meadows (1941-2001), eine Mitautorin der „Grenzen des Wachstums“ (1972), entwickelt hat. Ugo Bardi bezeichnet seine Variante zusammenfassend als „Weg des Sämanns“, den er zugleich als zweiten Punkt in seiner Reihe von ‚Hebeln‘ aufführt:
„Eine farbigere Formulierung derselben Regeln könnte so aussehen:
  • Der Weg des Buddhisten: ‚Meide Extreme, suche den Mittleren Weg, um das Nirwana zu erreichen.‘
  • Der Weg des Sämanns: ‚Verzehre nicht dein Saatgut.‘
  • Der Weg des Stoikers: ‚Mache den besten Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin.‘“ (Bardi 2017, S.277)
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Dienstag, 1. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Ugo Bardis Buch „Der Seneca-Effekt“ (2017) bildet den 42. Bericht an den Club of Rome, der insbesondere durch den ersten Bericht, „Grenzen des Wachstums“ (1972), weltweit bekannt wurde. Dieser erste Bericht hatte das globale Bewußtsein einer Reihe von Generationen – einschließlich den Rezensenten – hinsichtlich der planetaren Zukunft der Menschheit nachhaltig geprägt. Dennoch gab es eine jahrzehntelange lobbyistische, neoliberal (bzw. FDP-liberal) flankierte und mit pseudowissenschaftlichen ‚Argumenten‘ geführte Kampagne gegen die Prognosen dieses Berichts, in dessen Tradition sich Ugo Bardi stellt. Der Kern des Vorwurfs lautete, die Autoren von „Grenzen des Wachstums“ ständen in der Reihe von alle paar Jahrhunderte auftretenden Unheilspropheten, deren Voraussagen sich nie erfüllt hätten. Ugo Bardi weist auf die Substanzlosigkeit dieses Vorwurfs hin, da der Bericht nicht etwa irgendwelche obskuren ‚Prophezeiungen‘ enthält, sondern von unterschiedlichen, rational nachprüfbaren Rahmenbedingungen bestimmte „Szenarien“ zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bis in unsere heutige Gegenwart hinein:
„Die Autoren haben stets unterstrichen, dass es sich bei ihren Ergebnissen um Szenarien handelt, nicht um Vorhersagen (und ganz sicher nicht um Prophezeiungen). Zutreffend ist aber auch, dass alle Szenarien dieselben Trends für dieselben Anfangsannahmen aufzeigten und dass weltweit kein Versuch unternommen wurde, das Wachstum der Weltwirtschaft zu bremsen, das die Hauptursache für die Überlastung und den Zusammenbruch des Systems darstellt.“ (Bardi 2017, S.202)
Und Bardi fügt hinzu: „Unter diesen Szenarien deutet das Basisszenario auf einen globalen Kollaps im Bereich zwischen 2015 und 2025.“ (Bardi 2017, S.202) – Das ist so ungefähr der Stand in dem wir uns augenblicklich gesellschaftlich befinden, wo im Januar die mittlerweile dritte GroKo unter Führung von Angela Merkel beschlossen hat, daß das dringlichste Problem darin bestünde, Deutschland schnellstmöglich und umfassend zu digitalisieren, aber Maßnahmen gegen die Klimaveränderung noch Zeit haben: bis 2025!

Ulrich v. Weizsäcker und Anders Wijkman weisen in ihrem Begleitwort darauf hin, daß Ugo Bardis Bericht „den Leserinnen und Lesern eine Fülle von Anekdoten, Einsichten und Fakten, mit einer bemerkenswerten, ganzheitlichen, analytischen Denkweise“ biete. (Vgl. Bardi 2017, S.10) – Unbeabsichtigt legen sie damit zugleich eine Schwachstelle von Bardis Bericht offen, dem eine etwas systematischere Befassung mit seinem Thema, dem Zusammenbruch von komplexen Systemen, und eine dafür etwas weniger anekdotische Detailfreude gut getan hätte. So erfahren die Leser von Frachtern, die plötzlich auseinanderbrechen, und von Flugzeugen mit rechteckigen Fenstern, die ihre strukturelle Stabilität gefährden (vgl. Bardi 2017, S.52ff.), von ins Rutschen geratenden Pyramiden (vgl. Bardi 2017, S.69ff.), die sich wie Sandhaufen verhalten (vgl. Bardi 2017, S.76f.), und an einer Stelle bezieht sich der Autor sogar auf sich plötzlich entflammende Streichhölzer (vgl. Bardi 2017, S.15) – alles Beispiele von angeblich komplexen Systemen, für deren Verhalten keine mathematischen Gleichungen zur Verfügung stehen.

Angesichts einer solchen Beliebigkeit in der Zusammenstellung von Beispielen fragt sich der Rezensent verwirrt, ob denn alles kompliziert sei und ob nicht damit das Prädikat ‚komplex‘ seinen Sinn verliert? Die Grundlage von Bardis Argumentation bildet die „Systemdynamik“, die sich mit komplexen Systemen befaßt. (Vgl. Bardi 2017, S.14f.) Da hätte man sich schon gerne zu Beginn seiner Ausführungen ein paar Erläuterungen zur Natur des Komplexen gewünscht. Aber Bardi beschränkt sich darauf, das komplexe System als ein aus Knoten und Kanten bestehendes ‚Netz‘ zu beschreiben. Worin besteht also die Komplexität von Sandhaufen und Streichhölzern? – Beide bilden Netze: der Sandhaufen, dessen Körner durch die Gravitation (Kanten) verbundene Knoten bilden (vgl. Bardie 2017, S.83), und das Streichholz, das aus chemisch (Kanten) miteinander verbundenen Atomen (Knoten) besteht (vgl. Bardi 2017, S.14f.). So gesehen ist dann tatsächlich alles komplex.

Erst gegen Ende seines Buches erwähnt Bardi, daß dem doch nicht so ist: so sei z.B. ein Auto ganz und gar nicht komplex, weil es „praktisch linear auf die Handlungen des Fahrers (reagiert)“. (Vgl. Bardi 2017, S.272) Das „Erdsystem“ hingegen ist komplex, denn es reagiert nicht linear auf das Handeln von uns Menschen und läßt sich deshalb auch nicht beliebig steuern. (Vgl. Bardi 2017, S.215f.) Darauf wird im nächsten Blogpost nochmal genauer eingegangen werden.

Eine weitere wichtige Eigenschaft von komplexen Systemen – neben der mathematisch unberechenbaren Nichtlinearität ihres Verhaltens (vgl. Bardi 2017, S.19f., 75f.) –, besteht in ihrer Neigung, irgendwann plötzlich zu kollabieren. Bei diesem Kollaps handelt es sich um den titelgebenden „Seneca-Effekt“, daß nämlich Wachstum immer langsam verläuft, der Zusammenbruch aber, beim Erreichen eines Kippunktes, plötzlich erfolgt. (Vgl. Bardi 2017, S.16f.u.ö.) Der Kollaps ist Bardi zufolge kein Defizit, sondern eine Eigenschaft des Universums (vgl. Bardi 2017, S.13) bzw. des Systems (vgl. Bardi 2017, S.267). Deshalb macht es auch keinen Sinn, sich dem Zusammenbruch eines komplexen Systems, das seinen „Kipppunkt“ überschritten hat (vgl. Bardi 2017, S.15), wie damals beim römischen Reich oder heute in unserer gegenwärtigen globalisierten Welt, entgegenzustemmen. Alles was man damit erreicht, ist eine Verschiebung des Zusammenbruchs auf einen späteren Zeitpunkt, wo er sich dann aber noch heftiger und katastrophaler auswirkt, als wenn man nicht versucht hätte, ihn zu verhindern:
„Jay Forrester, der Begründer der wissenschaftlichen Disziplin der ‚Systemdynamik‘, brachte diese Neigung schon vor langer Zeit auf den Punkt, als er schrieb: ‚Jeder ist bemüht, ‚das System‘ in die falsche  Richtung zu lenken.‘() Die Politik beispielsweise scheint jeden Versuch aufgegeben zu haben, sich Veränderungen anzupassen, und greift stattdessen zu groben, schlagkräftigen Parolen, die eine unmögliche Rückkehr in die frühere Zeit der Prosperität versprechen (etwa ‚Amerika wieder groß zu machen‘). ... In der Technik investiert man viel Energie in die Entwicklung von Methoden, um alte Erfindungen weiter nutzen zu können – zum Beispiel (Privat-)Automobile –, die wir wahrscheinlich besser abschaffen sollten.“ (Bardi 2017, S.17f.)
Man könne ja auch nicht, so Bardi, einen Fluß zwingen, flußaufwärts zu fließen. (Vgl. Bardi 2017, S.275) Dennoch könne man aber seine Fließrichtung regulieren. Auch was den bevorstehenden Zusammenbruch des gegenwärtigen Weltwirtschaftssystems betrifft, besteht unsere größte Hoffnung nicht darin, uns ihm entgegenzustemmen und ihn zu verhindern zu versuchen, sondern den bevorstehenden und wahrscheinlich schon stattfindenden Zusammenbruch kreativ umzuwenden in die Schaffung einer neuen Gleichgewichtswirtschaft. (Vgl. Bardi 2017, S.193) – Denn, so Bardi, Probleme könne man beheben, aber nicht Veränderungen:
„Veränderungen kann man sich nur anpassen.“ (Bardi 2017, S.18)
Abgesehen vom systematischen Desiderat ist Bardis Argumentation insgesamt überzeugend. Und beunruhigend! Denn es ist ebenso offensichtlich, was getan werden muß, wie daß nichts getan wird. Jedenfalls nicht auf offiziell politischer bzw. regierungspolitischer Ebene. Dafür auf gesellschaftlicher Ebene: Bardi verweist auf Transition Town und auf Permakultur, als Formen regionalen Wirtschaftens, die das globalisierte Weltwirtschaftssystem abzulösen und durch eine nachhaltige Gleichgewichtswirtschaft zu ersetzen versuchen.

So sehr mir Bardis diesbezügliche Positionierung gefällt, vermisse ich aber eine fundamentale Reflexion auf die Natur des Menschen. Darauf werde ich im dritten Blogpost, wo es um die Rolle des Geldes geht, nochmal zu sprechen kommen. Für jetzt soll genügen, daß es nicht reicht, dem Menschen eine „genetische Konstellation“ zu unterstellen, die ein „selbstzerstörerische(s) Verhalten“ begünstigt. (Vgl. Bardi 2017, S.233) Das greift einfach zu kurz, gerade auch dort, wo Bardi die Rolle des Geldes als Steuerungselement in einer globalisierten Weltwirtschaft zu analysieren versucht. (Vgl. Bardi 2017, S.94ff.)

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