„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 30. März 2018

Zum Karfreitag

An ein Leben über den Tod hinaus zu glauben, bedeutet nicht, daß der Tod seinen Stachel verloren hätte. Im Gegenteil: Von ihm erhält der Glaube seinen Inhalt und sein Motiv.

Montag, 5. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Der Grundsatzstreit zwischen Maureen, der früheren Freundin, und Owen über den Vorrang von Forschung oder Pflege hatte Owen früh für ethische Fragen sensibilisiert. Hinzu kamen die tragischen Ereignisse, Maureens Gehirnblutung und der Gehirntumor seiner Mutter, die Owens Interesse an der weiteren gesundheitlichen Entwicklung seiner Wachkomapatienten wachhielt, so daß er sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzte, wie er mit ihnen während der Scans umgehen sollte und wie er mit seiner Arbeit dazu beitragen konnte, ihre Lebensumstände zu verbessern. So ist Owen sehr betroffen von Juans Bericht, daß die fMRT-Scans bei ihm große Angst ausgelöst hatten:
„‚Was wissen Sie noch vom ersten Mal, als wir Sie scannten?‘, fragte ich ihn. ‚Ich hatte Angst.‘ ... ‚Warum hatten Sie Angst?‘ ‚Ich wusste nicht, was passiert.‘ Ich musste ihm die nächste Frage stellen: ‚Würden Sie sagen, dass wir Ihnen nicht genug mitgeteilt haben, was passieren wird, als wir Sie jenes erste Mal in die Röhre schoben?‘ Er schaute mich direkt an: ‚Auf jeden Fall‘, antwortete er. Ich war entsetzt.“ (Owen 2017, S.258)
Es ist diese sich selbst nicht schonende Offenheit, mit der Owen die Problematik des Umgangs von Neurowissenschaftlern mit ihren Probanden beschreibt, für die ich ihn sehr schätze. Juan gehört zu den ganz wenigen Wachkomapatienten, die es geschafft haben, ins Leben zurückzukehren. Sein Zustand hatte auf der Glasgow-Koma-Skala bei drei von fünfzehn möglichen Punkten gelegen: „Weniger als drei Punkte kann man gar nicht haben, jedenfalls nicht ohne tot zu sein.“ (Owen 2017, S.248).

Daß Juan es ins Leben zurück geschafft hat, kommt einem Wunder gleich; umso mehr als er auch körperlich fast vollständig genesen ist. Einen großen Anteil daran hat die unerschütterliche Unterstützung durch seine Mutter:
„‚Im Krankenhaus wussten sie nicht, was sie tun sollten‘, erzählte die Mutter. ‚Sie tischten immer nur noch mehr Medikamente auf. Sieben Antibiotikatherapien innerhalb von drei Monaten. Sein Immunsystem versagte. Er hatte immer wieder vier oder fünf Tage lang hohes Fieber. Durch die Sauerstofftherapie wurde sein Immunsystem gestärkt. Ich zog eine Ernährungsberaterin hinzu, die sich mit Hirnschädigungen auskannte und ganz spezielle Ergänzungsmittel empfahl. Wir managten alles selbst. Juans Besserung war kein Wunder, sondern jede Menge harte Arbeit.‘“ (Owen 2017, S.258)
Als besonders bewegend empfinde ich Juans Bemerkung, daß er während der Scans geweint habe:
„Wir filmten die Gesichter unserer Patienten üblicherweise mit einer winzigen Kamera in der Röhre und überwachten die Patienten sehr genau. In den Akten fanden sich aber keine Notizen, aus denen hervorging, dass Juan während des Scans geweint hatte. ‚Sind Ihnen Tränen gekommen?‘ ‚Tränen sind mir nicht gekommen, aber ich habe trotzdem geweint.‘“ (Owen 2017, S.259f.)
Das wirft nochmal ein Schlaglicht auf die Rekursivität im Umgang zwischen den Experimentatoren und ihren Probanden, den Wachkomapatienten: sie funktioniert schlicht und einfach nicht. Alles, worauf sich die Neurowissenschaftler konzentrieren, sind die technologischen Mittel der Bildgebung, und was die bunten Bildchen ihnen zu sehen geben, enthält keinerlei Hinweise auf Tränen. Die Mutter eines anderen Wachkomapatienten hingegen wußte genau, was in ihrem Sohn vorging, noch bevor Owen und sein Team ihre Tests mit ihm durchgeführt hatten. Bei Scott, dem Sohn von Anne, wollten sie zum ersten Mal versuchen, etwas über seine Befindlichkeit herauszufinden, um ihm eventuell helfen zu können. Sie wollten wissen, ob er Schmerzen hatte und fragten bei der Mutter nach, ob sie damit einverstanden wäre: „‚Legen Sie los‘, sagte Anne. ‚Scott soll es Ihnen sagen.‘“ (Owen 2017, S.195) – Das Ergebnis der Befragung war erfreulich: Scott ging es gut. Aber das hatte die Mutter schon vor der Befragung gewußt: „‚Ich wusste, dass er keine Schmerzen hat‘, erklärte sie. ‚Andernfalls hätte er es mir gesagt.‘“ (Owen 2017, S.197)

Alles in allem sind die Ergebnisse der Scans von Scott also einerseits zwar erfreulich, andererseits aber für das Team ernüchternd:
„Scotts Reaktion im Scanner bestätigte lediglich das, was Anne bereits wusste. Für sie war klar, dass Scott im Inneren noch präsent war. Wie sie das wissen konnte, werde ich nie ergründen. Aber sie wusste es.“ (Owen 2017, S.197)
Immer wieder stößt Owen auf den für ihn irritierenden Umstand, daß die Familienangehörigen von der geistigen Präsenz ihrer komatösen Angehörigen felsenfest überzeugt sind und behaupten, mit ihnen zu kommunizieren, während die Ärzte und auch Owen und sein Team mit all ihrem Fachwissen und ihrer Technologie keinerlei Bewußtsein bei ihnen feststellen können. Owen weist zwar auf die Neigung der Menschen hin, Umstände und körperliche Signale so zu deuten, daß sie die vorgefaßte Meinung bestätigen, aber das gilt natürlich für beide Seiten, sowohl für die Forscher wie für die Familienangehörigen:
„Wir sind alle furchtbar anfällig für eine Bestätigungsneigung, doch für die Wachkomaforschung wird diese zu einem echten Problem. Menschen neigen dazu, Informationen so zu suchen, zu deuten und zu speichern, dass die bestehenden Überzeugungen bestätigt werden.“ (Owen 2017, S.186)
Bei Wachkomapatienten haben wir es mit Menschen zu tun, die gleichzeitig wach sind – sie geben Laute von sich und bewegen Augen und Körperteile, als wären sie bei Bewußtsein – und reaktionslos, d.h. sie reagieren auf keinerlei Ansprache durch andere Menschen oder auf Reize aus der Umwelt. Sie sind also irgendwie da und dann doch auch wieder nicht da. (Vgl. Owen 2017, S.77f.) Owen spricht von „Schwellenzustände(n)“, von „schwer fassbaren Grenzen zwischen Gehirn und Geist“ in der Grauzone. (Vgl. Owen 2017, S.286) Das erinnert an Plessners Beschreibung der Seele. Die ‚Seele‘ ist Plessner zufolge ein „Geschöpf der Nacht“. Sie zeigt sich, indem sie sich verbirgt. Sie ist expressiv: sie will verstanden, aber nicht durchschaut werden.

Von diesem ambivalenten Verhalten ist auch die Intimität, die Vertrautheit zwischen gesunden Menschen geprägt. Wenn wir einander auf eine Weise kennenlernen wollen, die auf mehr hinausläuft als auf bloße Bekanntschaft, erleben wir genau dieses Verhalten, rückhaltlose Offenheit und ängstliche Scheu, tiefste Vertrautheit und plötzliche Fremdheit, wie es auch Owen in seiner Beziehung mit Maureen erlebt hat.

Was die Angehörigen von Wachkomapatienten erleben, entspricht diesem Muster: da ist jemand, den man zu kennen glaubt, da, und er gibt Lebenszeichen von sich, und er ist zugleich nicht da und unendlich fremd. Dieser Umstand ‚beseelt‘ die Beziehung zwischen den Angehörigen und den Wachkomapatienten. Er verleiht ihr eine rekursive Spannung: die Grundlage jeder echten Kommunikation.

Und bei einigen Wachkomapatienten führt es tatsächlich zu dem Ergebnis, daß sie aufwachen und wieder eintreten in ein Gespräch, das die ganze Zeit, während sie reaktionslos dabei lagen oder saßen, schon stattgefunden hat.

Allerdings kommt Owen noch auf einen anderen Umstand zu sprechen. Wenn Wachkomapatienten in die Lage versetzt werden – durch Genesung oder durch Technologie –, etwas über ihre Befindlichkeit preiszugeben, ist diese häufig besser, als Außenstehende es erwartet hätten. Es gibt eine Studie, in der 91 Locked-in-Patienten befragt wurden:
„Entgegen der allgemeinen Erwartung erklärte ein signifikanter Anteil der Patienten (72 Prozent all derer, die auf die Fragen antworteten), glücklich zu sein. Darüber hinaus brachte die Studie ein weiteres interessantes Ergebnis: Je länger ein Patient schon ‚in sich selbst gefangen‘ war, desto ausgeprägter war sein Wohlbefinden.()“ (Owen 2017, S.224)
Owen zufolge weckt das Ergebnis dieser Studie Zweifel daran, ob gesunde Menschen, die Patientenverfügungen verfassen, in denen sie im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls das Abschalten der lebenserhaltenden Maschinen verlangen, wirklich sicher sein können, daß sie im Ernstfall tatsächlich noch genauso empfinden würden. Die überraschende Lebenszufriedenheit von Locked-in-Patienten ist jedenfalls nicht nur für Wissenschaftler wie Owen, sondern wohl für jeden gesunden Menschen im hohen Maße irritierend:
„Wie können so viele dieser Patienten zufrieden sein? Das ergibt keinen Sinn.“ (Owen 2017, S.226)
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Sonntag, 4. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Was Adrian Owen zu der Frage, wie man Bewußtstein feststellen und messen kann, beizutragen weiß, hat vor allem etwas mit Statistik zu tun. Die Statistik erstreckt sich sowohl auf die mit PET- und fMRT-Scannern verbundene Errechnung von Durchschnittswerten (vgl. Owen 2017, S.31) wie auch auf die Kriterien, die Owen und sein Team für die ‚Messung‘ des Bewußtseins anwenden. Ob es nun um Gedächtnisfunktionen geht (vgl. Owen 2017, S.112) oder um das Verstehen von Wortbedeutungen (vgl. Owen 2017, S.97 und S.104): es ist das durch die Häufigkeit des Auftretens von Reizen ausgelöste ‚Priming“ (Owen 2017, S.280), das die ‚Spuren‘ legt, auf deren Basis ‚unser Gehirn‘ Assoziationen produziert, die Owen mit Bewußtsein gleichsetzt.

Das Problem dabei ist, daß diese Assoziationen immer produziert werden, da das Gehirn (bzw. das Unterbewußtsein) ständig aktiv ist. Das „Verstehen von Sprache“ ist, wie Owen schreibt, „ein fortlaufender Prozess“ (vgl. Owen 2017, S.101) und findet auch „auf einer niedrigeren, eher automatischen Ebene“ statt, „nicht so sehr als Erfahrung, die reflektiert werden konnte, sondern als einfachere Assoziation“ (vgl. Owen 2017, S.97). Es gibt also keinen Grund, beim ‚Aufleuchten‘ der entsprechenden Gehirnbereiche von enem wachen Bewußtsein auszugehen. Die Phänomene, um die es eigentlich geht, wenn wir von ‚Bewußtsein‘ sprechen, bewegen sich auf einer Ebene, die der objektiven Messung nicht zugänglich sind. Aus philosophisch-phänomenologischer Perspektive handelt es sich bei diesen Bewußtseinsphänomenen um Expressivität, Rekursivität und Intentionalität, die zugleich als Kriterien zum Nachweis für Bewußtsein gelten müssen.

Dabei hängen Expressivität, Rekursivität und Intentionalität eng zusammen. Expressivität meint das Bedürfnis des Menschen, sich selbst auszudrücken. Um sich selbst zu verstehen, muß er sich anderen Menschen mitteilen, die ihm mit ihrer Reaktion widerspiegeln, inwiefern ihm das gelungen ist. Damit beginnt das, was ich mit Michael Tomasello ‚Rekursivität‘ nenne. Die volle Rekursivität, im umfassenden Sinne, beinhaltet das persönliche Interesse an der subjektiven Befindlichkeit (Intentionalität) des anderen Menschen. Tomasello bezeichnet das als geteilte bzw. gemeinsame Intentionalität. Edmund Husserl nennt das schlicht ‚Intersubjektivität‘.Erst diese drei Bewußtseinsmodi zusammen ergeben also das volle, seiner selbst gewisse, subjektive Bewußtsein.

Auch Adrian Owens statistisch basierte Kriterien zielen auf diese Bewußtseinsmodi; er versäumt es aber, sie analytisch sauber herauszuarbeiten. Ungeachtet dieses begrifflichen Defizits verweist sogar sein eigenes Verhalten als Forscher, das durch persönliche Betroffenheit geprägt ist (vgl. Owen 2017, S.23 und S.25 und meinen Blogpost vom 01.03.2018), nochmal auf die besondere Bedeutung insbesondere der Rekursivität. Immer wieder kommt Owen auf sein persönliches Anliegen zu sprechen, verstehen zu wollen, wie es im ‚Inneren‘ seiner Wachkomapatienten, z.B. von Juan, aussieht:
„Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte, dort zu sein, wo er war – mit all den klinischen Apparaturen und diagnostischen Werkzeugen, die wir in Fällen wie seinen einsetzten.“ (Owen 2017, S.250)
An anderer Stelle spricht Owen von seiner Verwirrung, als es ihm nicht gelingt, in seinen Scanneraufnahmen „das ungestüme Wesen“ seiner Exfreundin wiederzuerkennen. (Vgl. Owen 2017, S.180f.) Dieses Bedürfnis, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen und von dort eine Rückmeldung zu erhalten – „Hallo! Ich bin hier, und ich nehme Dich wahr!“ –, scheint letztlich der innerste Motor von Owens Forschung zu sein. Es bildet zugleich das eigentliche ‚Wesen‘ unseres Bewußtseins.

Was die Intentionalität betrifft, wird sie auf seiner Suche nach dem Bewußtsein zu Owens wichtigstem Instrument. Nachdem Owen sein Forschungsdesign an verschiedenen anderen Bewußtseinsfunktionen ausgerichtet hatte, zieht er mit einem Verweis auf zwei Wachkomapatienten folgendes Fazit:
„Bestimmte Funktionen eines normalen Bewusstseins waren gegeben – Sprachwahrnehmung bei Debbie, Gesichtserkennung bei Kate. Aber das reichte nicht, um zu folgern, dass die eine oder die andere über ein Bewusstsein verfügte. Dies war, gelinde gesagt, frustrierend“ (Owen 2017, S.84)
Schließlich gelangt Owen zu der Einsicht, daß Intentionalität untrennbar zum Bewußtsein dazugehört:
„Und dann wurde mir in einem jener Momente der Inspiration, die nur auftreten, wenn man sie am wenigsten erwartet, plötzlich klar, dass Absicht und Bewusstsein untrennbar miteinander verbunden sind; wenn sich das eine nachweisen ließ, konnte das andere als gegeben angenommen werden.“ (Vgl. Owen 2017, S.111) 
Owen resümiert, daß auch bei seinen bisherigen „Gedächtnisexperimenten“ immer schon Intentionalität involviert gewesen sei. (Vgl. Owen 2017, S.111) Wenn der Patient sich an bestimmte Dinge erinnern soll, muß er sie fokussieren. Er muß entscheiden, seinen „Aufmerksamkeitsscheinwerfer“ auf ganz bestimmte Momente einer Situation oder eines Ortes oder eines Satzes zu richten und andere in den Hintergrund treten zu lassen, um diese Situationen, Orte oder Sätze erinnern zu können:
„Wir haben einen ‚Aufmerksamkeitsscheinwerfer‘ angeschaltet, wie einige Vertreter der kognitiven Neurowissenschaft es nennen. Für Gegenstände innerhalb dieses Scheinwerferlichts bestehen gute Aussichten, im Gedächtnis gespeichert zu werden, ob ich will oder nicht. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richte, bildet sich in meinem Gehirn eine ‚Repräsentation‘ (ein Abbild) davon ab ... Die bildet die physiologische Grundlage der Aufmerksamkeit: Ein Gegenstand der dinglichen Welt, etwa ein Objekt, das ich anschaue, wird auf ein Netzwerk feuernder Neuronen im Gehirn umkopiert.“ (Owen 2017, S.112f.)
Diese Textestelle bietet ein schönes Beispiel dafür, wie bei den Neurowissenschaftlern philosophisch gehaltvolle Überlegungen mit gleichermaßen floskelhaften wie gedankenlosen Analogien einhergehen: einerseits verbindet Owen den Begriff der Intentionalität mit einem grundlegenden Mechanismus der menschlichen Gestaltwahrnehmung; andererseits aber vergleicht Owen die Gedächtnisfunktionen mit einem Photokopierer! Und letztlich wird dann doch wieder alles auf ein „Netzwerk feuernder Neuronen“ reduziert.

Doch immerhin: der Gestaltwahrnehmungsmechanismus, den Owen hier beschreibt, die Fokussierung eines Vordergrunds und das Absinken aller anderen Aspekte einer Wahrnehmung in einen der Aufmerksamkeit entzogenen Hintergrund, bildet einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Intentionalität. Das hat Owen völlig richtig erkannt. Es gelingt sogar einem Kollegen von Owen, Martin Monti, diesen Mechanismus zu verwenden, um mit Wachkomapatienten zu kommunizieren. (Vgl. Owen 2017, S.228) Die bisherige Kommunikationsmethode – die Wachkomapatienten sollten sich vorstellen, Tennis zu spielen oder in ihrer Wohnung herumzugehen –, war für einige der Wachkomapatienten zu anstrengend, um erfolgreich mit Owen und seinem Team kommunizieren zu können. (Vgl. Owen 2017, S.229) Monti verwendete stattdessen zwei übereinander geblendete Bilder in einem Photo, ein Haus und ein Gesicht. (Vgl. ebenda) Die Hauswahrnehmung und die Gesichtswahrnehmung werden von unterschiedlichen Gehirnbereichen realisiert und können also im Scanner unterschieden werden. Je nach dem, ob der Wachkomapatient nun eine Frage beantworten oder verneinen wollte, brauchte er nur auf ein und demselben Photo entweder das Gesicht oder das Haus zu fokussieren. Das jeweils andere Bild tritt in den Hintergrund und wird nicht mehr wahrgenommen. Das ist viel weniger anstrengend als die Vorstellung eines Tennisspiels. Zugleich belegt die Fähigkeit des Wachkomapatienten, mal das Gesicht und mal das Haus im Vordergrund zu halten, daß er nicht nur automatisch auf Anweisungen reagiert, sondern bewußte Handlungsentscheidungen trifft, also über Bewußtsein verfügt.

Nach demselben Prinzip funktionieren Kippbilder, die z.B. mal als Hasenkopf, mal als Entenkopf oder mal als das Gesicht einer schönen jungen Frau, mal als das Gesicht einer weniger schönen alten Frau wahrgenommen werden können. Immer ist es der Betrachter, der nach eigenem Gutdünken dieselbe Figur mal als das eine, mal als das andere wahrnimmt.

Owen weist nochmal auf den wirklich bemerkenswerten Umstand hin, daß all das auf der Grundlage eines einzigen Photos geschieht, also dieselben neurophysiologischen Stimuli zu unterschiedlichen Wahrnehmungserlebnissen führen:
„Erstaunlich dabei ist, dass der Stimulus (das Bild mit übereinandergeblendetem Gesicht und Haus) vollkommen unverändert bleibt; es ändert sich nur der Aspekt des Bildes, auf den sich der Proband konzentriert.“ (Owen 2017, S.229)
Das hätte eigentlich für Owen nochmal ein Anlaß sein müssen, etwas gründlicher über das Bewußtsein nachzudenken. Zum einen kann kein bildgebendes Verfahren sichtbarmachen, was genau ein Mensch bei einer konkreten Wahrnehmung sieht und empfindet. Nicht einmal wenn dabei unterschiedliche Gehirnbereiche in Anspruch genommen werden wie bei der Haus- oder bei der Gesichtswahrnehmung. Das wäre aber der eigentliche Bewußtseininhalt, um den es geht! Gedankenlesen ist also, anders als Owen meint (vgl. Owen 2017, S.288), eben nicht möglich. Selbst bei einer Gehirn-Computer-Schnittstelle werden Gedanken nicht gelesen (vgl. Owen 2017, S.152, 166f., 288), sondern kommuniziert. Es ist der mitteilungswillige Locked-in-Patient, der der Apparatur beibringt, seinen Fokus auf einzelne Buchstaben eines Alphabets zu ‚erkennen‘. Erst diese Prozedur ermöglicht es den Beobachtern, zu lesen was der Patient ihnen zu sagen hat. Auch hier eröffnet sich wieder die bedeutungsstiftende Differenz zwischen sagen und meinen, wie wir sie von Helmuth Plessner kennen. Es ist Owen selbst, der diese Problematik unter den Stichworten der „Mehrdeutigkeit“ und der „Ambiguität“ anspricht. (Vgl. Owen 2017, S.102f.)

Zum anderen haben wir es bei der Gestaltwahrnehmung keineswegs bloß mit irgendwelchen statistisch induzierten, auch automatisch sich vollziehenden Assoziationsroutinen zu Wahrnehmungsbildern oder Wortbedeutungen zu tun. Es braucht vor allem ein waches, aufmerksames Bewußtsein, um die jeweilige Bedeutung einer Situation oder einer Wahrnehmung durch eine Neuausrichtung der Aufmerksamkeit immer wieder neu zu bewerten.

Letztlich wird das Bewußtsein immer dort ‚wach‘, wo die automatischen Routinen an ihre Grenzen stoßen, wo also Störungen im Mensch-Welt-Verhältnis auftreten. Dann taucht das Bewußtsein aus der Grauzone der Automatismen auf, also aus dem Bereich, wo der gesunde Körperleib, unserem Bewußtsein entgegenkommend, den Kontakt zur Welt und zu unseren Mitmenschen aufrechterhält, ohne daß wir das ständig kontrollieren müßten.

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Samstag, 3. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Adrian Owen leidet an dem unter Neurowissenschaftlern weit verbreiteten Neuroismus, einer Form des Naturalismusses, die sich in der Behauptung manifestiert, daß es sich beim Bewußtsein und bei der Willensfreiheit, über die wir in unserem täglichen Leben zu verfügen glauben, „in Wirklichkeit nur um eine Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen“ handelt. (Vgl. Owen 2017, S.91) Mit wenigen Ausnahmen wie Antonio Damasio und Georg Northoff neigen die Neurowissenschaftler dazu, bei aller Differenzierungsfähigkeit, die sie bei ihren Studien und Experimenten hinsichtlich der Funktionen des Gehirns an den Tag legen, ausgerechnet bei der Verhältnisbestimmung von Bewußtsein und Gehirn auf jeglichen Differenzierungsversuch zu verzichten.

Natürlich handelt es sich bei dieser Verhältnisbestimmung um einen genuin philosophischen Akt, so sehr, daß damit die Philosophie allererst beginnt. Und Neurowissenschaftler weisen selbst immer wieder gerne auf den philosophischen Gehalt ihrer Arbeit hin. Tatsächlich aber setzen sie beides, Bewußtsein und Gehirn, einfach gleich, und der philosophische Gehalt ihrer Arbeit reduziert sich damit auf Null.

Trotzdem finden sich in Owens Buch Stellen, wo der Autor eine subtilere Differenzierung andeutet, wie etwa folgende:
„Es ist faszinierend, dass unser Bewusstsein – oder besser gesagt, unser bewusstes Erleben der Welt um uns herum – allein durch unsere Erfahrungen hervorgebracht wird.“ (Owen 2017, S.244)
An dieser Stelle unterläuft Owen tatsächlich mal eine gehaltvolle Aussage darüber, „was es im Grunde heißt, ein lebender Mensch zu sein“ (vgl. Owen 2017, S.11), ohne daß dieses Bewußtsein gleich wieder auf Gehirnfunktionen reduziert wird. Hier deutet sich an, daß das Gehirn, wie Northoff festhält, ohne eine Umwelt, also ohne Körper und Lebenswelt, kein Gehirn ist. Es ist nur leider zu befürchten, daß Owen bei einer entsprechenden Nachfrage, worin denn diese Erfahrungen genau bestünden, alles gleich wieder auf Gehirnfunktionen reduzieren würde.

Daß wir es beim Bewußtsein und beim Gehirn mit einer problematischen Verhältnisbestimmung zu tun haben, wird in einem Gespräch deutlich, das Owen mit Kate, einer früheren Wachkomapatientin, führt. In diesem Gespräch sagt Kate, daß ihr Gehirn „über Kreuz“ mit ihr sei, weil es nicht tue, was sie wolle. (Vgl. Kate 2017, S.58) Kate spricht damit auf den Umstand an, daß ihr Körper unwillkürliche, ‚automatische‘ Verhaltensweisen und Reflexe an den Tag legt, die sie nicht kontrollieren kann, z.B. Humpeln. Genau darüber beklagt sich auch Juan, der sein linkes Bein, das ihm nicht ‚gehorcht‘, beim Gehen nachzieht. (Vgl. Owen 2017, S.260f.) Und während des Wachkomas scheint es vielen Patienten schwerzufallen, kognitiv anspruchsvolle Aufgaben zu bewältigen, wie sie sich aus der Scanner-Kommunikation mit den Experimentatoren ergeben: sich vorzustellen, Tennis zu spielen oder in einer Wohnung umherzugehen. (Vgl. Owen 2017, S.229f.) Auch hier bedarf es einer bewußten Disziplin und Kontrolle über das Gehirn, zu der viele Wachkomapatienten nicht in der Lage sind.

Um die schwierige und zugleich komplexe Situation angemessen zu beschreiben, verdreifacht Kate die Anzahl der beteiligten Akteure: „Mein Gehirn zwingt meinen Körper, Dinge zu tun, die ich nicht tun will.“ (Kate 2017, S.58) – Kate unterscheidet also zwischen ihrem Gehirn, ihrem Körper und ihrem ‚Ich‘, wobei sie, als ‚Ich‘, sich mit ihrem ‚Gehirn‘ über die Verfügungsgewalt über den gemeinsamen Körper streitet. Als eine solche Streitkonstellation stellt Helmuth Plessner den „Körperleib“ dar. (Vgl. „Anthropologie der Sinne“, in: Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369)

Wir können am Beispiel von Kate und Juan festhalten, daß es Situationen gibt, in denen wir uns mit unseren Gehirnfunktionen nicht einfach als identisch erleben. Helmuth Plessner führt diese Nicht-Identität, diese Differenz zwischen unserem Körper und unserem Bewußtsein u.a. auf die Anatomie zurück: das Gehirn ist einerseits ein Organ unter Organen, also ein Teil des Körpers. Zugleich ist es aber über den Kopf vom übrigen Körper anatomisch abgehoben. In dieser Gegenüberstellung von Kopf (Gehirn) und Rumpf sieht Plessner die Gegenüberstellung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘ vorabgebildet (präformiert), so daß die Differenz des Bewußtseins hier ein organisches Fundament hat. Im Wachkoma und bei anderen neurologischen Erkrankungen verschiebt sich die anatomische Differenz zwischen Körper und Gehirn auf die Differenz zwischen Gehirn und Bewußtsein, insofern sich das Bewußtsein vom Gehirn löst und beide nicht mehr miteinander harmonieren.

Adrian Owen selbst nimmt eine vergleichbare Differenzierung im Verhältnis zwischen Gehirn und Körper vor, wenn er schreibt: „Das Gehirn ist nicht mit irgendeinem anderen Organ des menschlichen Körpers vergleichbar.“ (Owen 2017, S.265) – Dieses Zitat beinhaltet, daß das Gehirn einerseits ein Organ ist wie die anderen menschlichen Organe und zugleich anders. Owen führt diesen Gedanken aber nicht weiter aus, insofern er es versäumt, das Bewußtsein in diese Verhältnisbestimmung mit einzubeziehen. Stattdessen verbleibt er auf der Ebene des Organvergleichs: erstens läßt sich das Gehirn – bislang – nicht transplantieren wie die anderen Organe (vgl. Owen 2017, S.265), und zweitens enthält es Owens Ansicht zufolge, wie schon in den vorangegangenen Blogposts erwähnt, anders als die anderen Organe den Wesenskern unserer Ich-Identität (vgl. Owen 2017, S.266).

Dabei enthalten Owens Fallbeispiele alle Zutaten zur Akzentuierung einer Anthropologie des Körperleibs, wie sie Plessner entwickelt hat. Owen beschreibt, wie die Familien, Eltern oder Ehegatten, ihre komatösen Angehörigen nicht aufgeben und sie nicht nur pflegen, sondern in ihren Lebensalltag integrieren. Sie reden mit ihnen wie mit völlig normalen wachen Menschen, gehen mit ihnen ins Kino, und sie denken sich ausgefallene Therapien aus, um ihre körperliche Gesundheit zu gewährleisten bzw. wiederherzustellen, anstatt sie im Krankenhaus oder in einer spezialisierten Pflegeeinrichtung ‚einzulagern‘ (vgl. Owen 2017, S.141) und sie dort sich selbst zu überlassen, da sie dem fachärztlichen Urteil zufolge sowieso nichts mehr mitkriegen und praktisch schon tot seien. So schreibt Owen z.B. über Winifred, der Ehefrau eines Wachkomapatienten:
„Während ich beobachtete, wie Winifred mit Leonard umging, fragte ich mich, was einen Menschen wirklich ausmacht. Leonard war eindeutig da, er saß direkt vor mir, aber ein wichtiger Teil seines Wesens war nicht präsent. Für mich jedenfalls nicht. Für Winifred war Leonard vollständig anwesend, selbst jene Anteile, die für alle anderen unsichtbar blieben. Leonard lebte in seiner Frau weiter. Es schien so, als trüge sie sein Bewusstsein und hielte es lebendig und gegenwärtig, bis er eines Tages wieder selbst dazu imstande war.“ (Owen 2017, S.276)
Was Owen hier beschreibt, erinnert an die natürlichen, gesunden Funktionen des Körperleibs, die Helmuth Plessner in „Lachen und Weinen“ (1941/1950) und in der „Anthropologie der Sinne“ (1970) hervorhebt: zum einen als Partner und zum anderen als Widerpart unseres Bewußtseins. Die Widerspenstigkeit erleben die ihrer selbst bewußten Wachkomapatienten, wenn der Körper ihnen nicht mehr gehorcht und sie im Streit mit ihm liegen. Die andere Seite des Körpers als Partner unseres Bewußtseins beschreibt Plessner in „Lachen und Weinen“. Dort kommt unser Körper uns in ausweglosen Situationen, die unsere psychischen Kräfte übersteigen und die uns zu vernichten drohen, zur Hilfe. Wenn wir weinen oder wenn wir lachen, übernimmt der Körper die Kontrolle und befreit uns aus der subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit.

So könnte man generell sagen, daß der Körperleib genau diese Funktion hat: unserem subjektiven Bewußtsein auf organischer und neurophysiologischer Ebene so weit entgegenzukommen, daß wir uns unserer selbst gewahr werden können.

Und bei Wachkomapatienten, die ihren Körper verloren haben – die also ihr Körper weder sind noch ihn haben –, übernimmt die Familie diese Funktion. Wo der Körper dem Bewußtsein des Wachkomapatienten nicht mehr entgegenkommen kann, nämlich als Körperleib, tun das an seiner Stelle die Angehörigen. So wird der Mensch, wo ihm Menschen auf menschliche Weise begegnen, wieder zum Menschen.

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Freitag, 2. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Mediziner bezeichnen das Wachkoma als „Syndrom reaktionsloser Wachheit“. (Vgl. Owen 2017, S.133) Es reicht von völliger Bewußtlosigkeit über „minimale Bewusstheit“ – „Ein ‚minimal bewusster‘ Mensch ist manchmal präsent, dann wieder nicht und bisweilen irgendwo dazwischen.“ (Owen 2017, S.151) – bis hin zu vollständiger geistiger Präsenz, ist aber nicht mit dem Locked-in-Syndrom zu verwechseln (vgl. Owen 2017, S.13). Bevor mit neuen Technologien wie dem PET-Scanner und dem fMRT-Scanner festgestellt wurde, daß 15 bis 20 Prozent der Wachkomapatienten „über volles Bewusstsein“ verfügen (vgl. Owen 2017, S.12), gab es die unterschiedlichsten Bezeichnungen für diese Patienten:
„Mitte des 20. Jahrhunderts kamen andere Begriffe auf, mit denen der Zustand beschrieben wurde, darunter Coma vigile (Wachkoma), akinetischer Mutismus, stille Bewegungslosigkeit, apallisches Syndrom und schwere traumatische Demenz. Ob all diese Begriffe dasselbe oder Unterschiedliches bezeichneten, ist vollkommen unklar, weil jeder Patient (wie auch heute noch) ganz unterschiedlich ausgeprägte Symptome aufwies ...“ (Owen, 2017, S.207)
Owen beschreibt zu Beginn seines Buches eine bewegende Szene, wo er am Krankenbett von Amy sitzt, einer Wachkomapatientin, und zwei Ärzte hereinkommen, von denen einer „fast heiter“ sagt: „Ich stehe nicht so auf Wetten, aber ich würde sagen, sie befindet sich in einem vegetativen Zustand!“ (Vgl. Owen 2017, S.10) Owen hält sich mit einer eigenen Bewertung von Amys Zustand zurück und stellt dann mithilfe eines fMRT-Scans fest, daß Amys Gehirn völlig normal funktioniert, wie bei einem hellwachen, gesunden, seiner selbst bewußten Menschen:
„Nach unseren Scans veränderte sich Amys Leben grundlegend. Agnes (Amys Mutter – DZ) wich kaum noch von ihrer Seite und las ihr fast ununterbrochen vor. Bill schaute jeden Morgen herein, brachte die Tageszeitungen und berichtete seiner Tochter, was es in der Familie Neues gab. Ständig kamen Freunde und Verwandte zu Besuch. An den Wochenenden holte man Amy nach Hause. An ihrem Geburtstag wurde gefeiert. ... Nach sieben Monaten in der Zwischenwelt wurde Amy wieder ein Mensch.“ (Owen 2017, S.14)
Man kann diese Geschichte kaum ungerührt zur Kenntnis nehmen. Vor dem inneren Auge des Lesers spielen sich Szenen ab, in denen der Arzt den Eltern nüchtern und sachlich mitteilt, daß ihre Tochter nur noch körperlich am Leben, geistig aber bereits tot sei und daß jeder Versuch, mit ihr Kontakt aufzunehmen, vergebliche Liebesmühe bzw. verschwendete Zeit sei. Angehörige, die sich von der ärztlichen Autorität beeindrucken lassen, lassen dann ihre Geliebten im Stich, deren Zustand sich daraufhin – ohne jede Ansprache durch einen Menschen – verschlechtert, bis sie schließlich tatsächlich langsam wegdämmern und nie mehr aus der Grauzone ins Leben zurückfinden.

Adrian Owen hat mit seiner Wachkomaforschung dazu beigetragen, die Öffentlichkeit auf diese hilflosen Menschen aufmerksam zu machen. Das ist ihm hoch anzurechnen, ein Verdienst, das ich in keiner Weise kleinreden will. Aber Owen selbst kommt immer wieder auf das Problem zurück, anhand welcher Kriterien man eigentlich mit Hilfe eines PET- oder fMRT-Scans genau feststellen kann, ob ein Wachkomapatient über Bewußtsein verfügt oder nicht. Wie unterscheidet man automatische Reaktionen – mit ‚Reaktion‘ sind hier immer mit Hilfe von Scans sichtbar gemachte Gehirnaktivitäten gemeint – von einem wachen Bewußtsein von sich und der Welt? Denn die Bildgebungsverfahren, die Owen in seinem Buch detailliert beschreibt, können möglicherweise wie bei Amy ein völlig normal funktionierendes Gehirn zeigen, und trotzdem können sich alle diese Funktionen auch bloß automatisch vollziehen, ohne die geringste Beteiligung eines Ich-Bewußtseins:
„Viele unserer komplexesten Hirnfunktionen, selbst unsere Fähigkeit, gesprochene Sprache zu verstehen, können aufrechterhalten bleiben, auch wenn wir nicht ganz bei vollem Bewusstsein sind.“ (Owen 2017, S.97)
Zwar gibt es bestimmte Gehirnareale, die nur bei ihrer selbst bewußten Menschen aktiv sind, die Frontal- und Parietellappen (vgl. Owen 2017, S.111, 113, 116, 241), aber das Fehlen irgendeiner Aktivität in diesen Bereichen läßt keinesfalls zwingend auf Bewußtlosigkeit schließen, wie der Fall ‚Juan‘ zeigt:
„Wir führten einige fMRT-Scans mit ihm durch, in der Hoffnung, mehr über den Zustand seines Gehirns und die Wahrscheinlichkeit einer Besserung zu erfahren. Wir forderten ihn auf, in seiner Vorstellung Tennis zu spielen. Nichts. Er sollte sich vorstellen, durch sein Haus zu gehen. Wieder nichts. Lorina versuchte es mit der Hitchcock-Aufgabe. ... Die Ergebnisse waren uneinheitlich.“ (Owen 2017, S.248)
Juan kehrte schließlich aus der Grauzone wieder zurück und genaß auch körperlich nahezu vollständig, mithilfe seiner Familie, die ihn nicht aufgegeben und in ihr tägliches Leben vollständig integriert hatte (vgl. Owen 2017, S.257) –, und er konnte Owen berichten, wie er alle Scans von Owen und seinem Team bewußt miterlebt hatte, ohne daß diese Scans irgendein Bewußtsein angezeigt hatten! (Vgl. Owen 2017, S.254)

Owen beschreibt detailliert die zahlreichen Versuche seines Teams, Kriterien zu entwickeln, die mithilfe der bildgebenden Verfahren dazu beitragen können, Bewußtsein zu indizieren und zu messen. Die Palette reicht vom Erkennen von Gesichtern mithilfe von Photos über Spracherkennung, über die Konstruktion von Entscheidungssituationen, mit deren Hilfe die Wahl- und Willensfreiheit von Wachkomapatienten geprüft wird, bis hin zum Vorführen von Filmen (die in einem der vorangegangenen Zitate erwähnte Hitchcock-Aufgabe) und dem Abfragen von autobiographischen Erinnerungen. Viele dieser Experimente mit Wachkomapatienten setzten voraus, daß Owen und sein Team mit den Wachkomapatienten während des Scans kommunizieren konnten. Dazu wurde ein Verfahren entwickelt, in dem sich die Wachkomapatienten bei ihren Antworten – Ja oder Nein – verschiedene Handlungen vorstellen sollten, Tennis spielen oder in der eigenen Wohnung von einem Zimmer in ein anderes Zimmer gehen. (Vgl. Owen 2017, S.127ff.) Dabei werden verschiedene Areale des Gehirns aktiviert, die durch Scans sichtbar gemacht werden können.

Diese Kommunikation funktionierte bei den meisten (nicht bei allen) Probanden, und so konnten sie mit Hilfe verschiedener Kriterien getestet werden. Das Problem war, daß die Ergebnisse nicht durchweg von allen Wissenschaftlern anerkannt wurden, auch nicht die ‚Kommunikation‘, denn auch die Aktivierung der Vorstellung, Tennis zu spielen, könnte ja automatisch als unwillkürlicher Reflex auf die Anweisung durch den Experimentator erfolgt sein. (Vgl. Owen 2017, S.140)

In diesem Zusammenhang diskutiert Owen auch verschiedene Grade von Bewußtheit: verfügen Embryos über Bewußtsein? Oder Säuglinge? Wie bewußt sind Kleinkinder im Alter von zwei Jahren im Vergleich zu erwachsenen Menschen? (Vgl. Owen 2017, S.81ff.) An dieser Stelle wird der – trotz gegenteiliger Behauptung des Autors – eklatante Mangel an philosophischem Sachverstand besonders deutlich. An keiner Stelle geht Owen auf die diesbezügliche philosophische Tradition ein, die sich schon lange mit der Frage befaßt, welchen Status unsere subjektive Gewißheit hat, daß andere Menschen wie wir über Bewußtsein verfügen. Diese Frage bildet auch ein Kernthema von Edmund Husserl, der sich unter dem Stichwort ‚Intersubjektivität‘ damit befaßt. Husserls Antwort auf diese Frage lautet, daß unsere Gewißheit, daß andere Menschen über ein subjektives Bewußtsein verfügen, für uns die gleiche Qualität hat, wie unsere Gewißheit über unser eigenes Bewußtsein. Damit widerspricht Husserl Descartes. Wir können nicht nur unser eigenes Bewußtsein nicht anzweifeln, sondern auch nicht das Bewußtsein unserer Mitmenschen.

Es ist erst die Wissenschaft, die so seltsame Urteile fällt – bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein –, daß Säuglinge schmerzunempfindlich seien, was man inzwischen vorverlegt hat; jetzt sind es die Embryos, die angeblich schmerzunempfindlich sein sollen:
„Wie Daniel Bor 2012 in seinem brillanten Buch The Ravenous Brain darlegte, werden jene Hirnregionen, die intakt und miteinander verbunden sein müssen, damit ein Bewusstsein entsteht, eigentlich erst ab der 29. Schwangerschaftswoche richtig ausgebildet, und es dauert einen weiteren Monat, bis diese Areale wirksam miteinander kommunizieren.() Ausgehend von den wissenschaftlichenFakten ist es daher höchst unwahrscheinlich, dass ein Bewusstsein irgendeiner Form, einschließlich der Schmerzempfindung, vor der 33. Schwangerschaftswoche entsteht.“ (Owen 2017, S.85)
Owens Feststellung zur Schmerzunempfindlichkeit eines Embryos erinnert an seinen Bericht von dem Arzt, der fröhlich verkündete, daß sich Amy in einem vegetativen Zustand befinde.

Es ist verwunderlich, daß Adrian Owen angesichts der Zweifelhaftigkeit der Aussagekraft seiner Scans hinsichtlich der Bewußtheit seiner Probanden immer wieder mit durch nichts begründetem Selbstbewußtsein behauptet, daß seine Scans deutlich machten, „was es im Grunde heißt, ein lebender Mensch zu sein“ (vgl. Owen 2017, S.11), oder daß das Gehirn „der pulsierende Wesenskern des Menschen“ sei (vgl. Owen 2017, S.40), oder wenn er Francis Crick zitiert:
„Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um eine Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen.“ (In: Owen 2017, S.91)
Solche Aussagen sind durch nichts belegt, weder durch Owens eigene Forschung noch durch die zweifelhaften ‚interdisziplinären‘ Beiträge der von ihm konsultierten Wissenschaftler. Sie belegen einzig und allein das Fehlen jeder ernsthaften philosophisch begründeten anthropologischen Reflexion.

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Donnerstag, 1. März 2018

Adrian Owen, Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod, München 2017

(Verlagsgruppe Droemer Knaur, Hardcover, 320 S., 19.-- €)

1. Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie
2. Bewußtseinskriterien I
3. Körper, Gehirn und Bewußtsein
4. Bewußtseinskriterien II
5. Ethik und Seele

Ich habe mich in meinem Blog sehr gründlich und kritisch mit dem Projekt der Neurowissenschaften auseinandergesetzt, anhand des Gehirns den Menschen (weg-)zuerklären. Mit diesem Unterfangen bin ich zu einem gewissen Punkt gelangt, an dem ich das Interesse an der weiteren Entwicklung der Neurowissenschaften verloren habe; vielleicht weil ich alles mir Mögliche dazu gesagt habe. Auf das Buch von Adrian Owen, „Zwischenwelten“ (2017), bin ich aber nochmal neugierig geworden, denn die im verheißungsvollen Untertitel angesprochene „Grauzone zwischen Leben und Tod“ versprach mir viel klinisches Material, mit dessen Hilfe ich hoffte, Plessners „Körperleib“ begrifflich weiter ausdifferenzieren und schärfen zu können.

Was das klinische ‚Material‘ betrifft, bin ich auch nicht enttäuscht worden. Adrian Owen liefert eine Fülle von Fallbeispielen, sprich von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder von Erkrankungen in einen ganz besonderen Zustand verfallen sind, den die Neurologen als „Wachkoma“ bezeichnen. Der Körper ist ohne maschinelle Hilfe lebensfähig, aber die überwiegende Mehrzahl der Wachkomapatienten ist völlig bewußtlos. Nur zirka 15 bis 20 Prozent der Komapatienten verharren Owen zufolge in einem Bewußtseinszustand, der zwischen einem „minimalem Bewußtsein“ und völliger geistiger Präsenz schwankt, ohne sich anderen Menschen, Freunden, Familienangehörigen oder Ärzten, mitteilen zu können. (Vgl. Owen 2017, S.12)

Dieser Zustand ist nicht mit dem Locked-in-Syndrom zu verwechseln, denn Locked-in-Patienten stehen immer noch minimale körperliche Reaktionsweisen zur Verfügung wie etwa Augenbewegungen oder Zwinkern. Auch der Körper von Wachkomapatienten ist noch zu unwillkürlichen Bewegungen fähig. Manche Wachkomapatienten geben sogar Laute von sich. Aber diesen Bewegungen entspricht keine Bewußtheit. Es ist dann besonders schwierig zu entscheiden, bei welchen Wachkomapatienten das doch der Fall ist.

Was diese klinischen Fallbeispiele betrifft, bin ich also nicht enttäuscht worden. Dennoch haben wir es mit Adrian Owen wiedermal mit einem dieser Neurowissenschaftler zu tun, die von ihrem Untersuchungsgegenstand, dem menschlichen Gehirn, vollkommen eingenommen sind. Trotz gelegentlicher Differenzierungsansätze setzt Owen Bewußtsein und Gehirn 1:1 gleich:
„Die Nervenzelle ist eine winzige Maschine der Entscheidungsfindung; sie ‚entscheidet‘, wann sie feuert und wann nicht. ... Ich bin überzeugt, dass sich das Bewusstsein auf die Verbindungen zwischen feuernden Neuronen reduzieren lässt.“ (Owen 2017, S.299f.)
Allerdings durchzieht Owens Buch ein spannender Grundkonflikt im wissenschaftlichen Umgang mit kranken Menschen, den der Autor in seiner eigenen Person austrägt. Auf der einen Seite haben wir den stolzen Wissenschaftler, der in einer ‚total angesagten‘ Disziplin (vgl. Owen 2017, S.65), der Neurophysiologie, arbeitet und wesentlich zu ihrer Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren beigetragen hat. Owen spricht von dem „Glamour“, der seine Arbeit von Anfang an begleitete (und noch immer begleitet):
„Mein Chef schickte mich an exotische Orte, um an seiner Stelle Vorträge zu halten. Bei einer wissenschaftlichen Konferenz in Phoenix, Arizona, aalte ich mich einmal mit zwei anderen englischen Hirnforschern mitten in der Wüste in einem Whirlpool. Kann man sich das vorstellen? Einen Tag zuvor hatten wir uns noch durch den ewigen Nieselregen und die Tristesse Englands geschleppt, und nun genossen wir puren Luxus unter Riesenkakteen.“ (Owen 2017, S.23)
Dieser ‚Glamour‘ wird von Owens bewegendem Bericht über ständige Auseinandersetzungen mit seiner früheren Freundin über das Primat von Forschung oder Pflege konterkariert. Während des gemeinsamen Neurophysiologiestudiums, wo sich die beiden kennengelernt hatten, hatte sich die Freundin von der Forschung an hirngeschädigten Patienten abgewandt und widmete sich fortan ihrer Pflege. (Vgl. Owen 2017, S.23f.) Für Owen dramatisierte sich dieser Konflikt, als seine eigene Mutter an einem Gehirntumor erkrankte und plötzlich die Möglichkeit im Raum stand, daß sie zu seiner Patientin werden könnte:
„Falls sich meine Mutter einer Operation unterziehen musste und dadurch einen Teil ihres Gehirns einbüßte, war es durchaus denkbar, dass sie als Patientin in einer meiner eigenen Forschungsstudien endete. Dieser Gedanke war ein Alptraum. Nun stand ich auf der anderen Seite des Zauns.“ (Owen 2017, S.25)
Schließlich erlitt auch Owens ehemalige Freundin eine Gehirnblutung und fiel ins Koma. Erneut ist der Autor ganz persönlich ‚angefaßt‘, und sein Wunsch, ihr zu helfen, begleitet und motiviert die folgenden Jahre seiner Forschung, bis die Freundin, ohne aus ihrem Koma noch einmal aufzuwachen, stirbt. Etwas schräg mutet es den Rezensenten aber schon an, wenn sich Owen an einer Stelle Rechenschaft über die gescheiterte Beziehung zu geben versucht und sich dabei die Frage stellt: „...  warum hatte sich all das so verändert? Was war nur in ihrem Kopf vorgegangen?“ (Owen 2017, S.34) – Denn später beschreibt Owen, wie er tatsächlich Gelegenheit bekommt, in ihren Kopf zu schauen:
„Während ich die Bilder von Maureens Gehirn betrachtete, kam ich mir vor, als blickte ich in die Tiefen meiner Vergangenheit. Es fühlte sich ganz sonderbar an – so als rührte ich einen entlegenen Teil von mir selbst an, den ich Jahre zuvor begraben hatte. Ich starrte auf das Gehirn eines Menschen, der mir einmal sehr nahegestanden hatte.“ (Owen 2017, S.180)
Irgendwie entsteht der Eindruck, der Autor ist enttäuscht, daß ihm der Blick in das Gehirn seiner ehemaligen Freundin keine Antwort auf das Drama ihrer beidseitigen Entfremdung liefert:
„Da war nichts von der Maureen, die ich einmal gekannt hatte. Überhaupt nichts von Maureen. Wo war das ungestüme Wesen geblieben? Ich war enttäuscht und verwirrt.“ (Owen 2017, S.180f.)
Diese entwaffnende Naivität, mit der der Neurowissenschaftler seinem Forschungsgegenstand begegnet, hat zugleich etwas Rührendes. Owen ist bei aller Voreingenommenheit bemerkenswert ehrlich, und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, kann sehr viel über die Neurophysiologie und ihre Beliebtheit beim Publikum und bei Sponsoren lernen. Owen verweist immer wieder auf das Interesse der Medien, die seine Forschungen von Anfang an begleitet hatten und so für die nötige Finanzierung dieser Forschung gesorgt haben. Er selbst und sein Team bemühen sich dabei redlich, über die reine Forschung hinaus das Interesse ihrer Probanden an Heilung oder auch nur an einer Erleichterung ihrer Situation praktisch ernstzunehmen. Owen beschreibt immer wieder die Schwierigkeiten, die dabei auftreten. Nur selten hat er Gelegenheit, den weiteren Lebensweg seiner Probanden zu verfolgen oder gar zu begleiten.

Alles das ist anerkennenswert, entschuldigt aber in keiner Weise die schon erwähnte Naivität, mit der Owen Bewußtsein und Gehirn gleichsetzt. Immer ist davon die Rede, daß die neurowissenschaftliche Forschung auf Interdisziplinarität angewiesen sei und Bereiche wie Psycholinguistik, Justiz, Medizin, Philosophie, Ethik, Religion und Psychologie umfasse. (Vgl. Owen 2017,S.12, 71, 91, 138, 209, 285) Owen beschreibt ein interdisziplinäres Meeting in einem „Fünf-Sterne-Restaurant“ in Paris, das an Peinlichkeit in nichts dem schon erwähnten Whirlpool in der Wüste von Arizona nachsteht:
„Alle Anwesenden interessierten sich leidenschaftlich für Schwellenzustände, die schwer fassbaren Grenzen zwischen Gehirn und Geist, Sein und Nichtsein sowie Bewusstsein und reinem Nichts. Unser erster Gang wurde aufgetragen – Schnecken aus der Region, in rotem Knoblauch gedünstet. Die Speise war erstklassig angerichtet und sollte allein schon optisch die Kunst des Chefkochs erkennen lassen. Es dauerte nicht lange, bis der Wein die Zungen löste. Wir hatten etwas zu feiern. Das Canadian Institute for Advanced Research (CIFAR) hatte uns und einigen Kollegen Fördergelder bewilligt, um eine Seminarreihe zum Thema ‚Gehirn, Geist und Bewusstsein‘ zu organisieren – zwei oder drei intensive Workshops pro Jahr an Orten unserer Wahl.“ (Owen 2017, S.286)
Unter den anwesenden ‚weltweit anerkannten‘ Experten befindet sich selbstverständlich auch ein Philosophieprofessor. Aber was dieser ‚Professor‘ zu dem Gelage beizutragen hat, kann nicht von besonderer Qualität gewesen sein, denn die Ergebnisse des interdisziplinären Meetings sind dürftig genug. Überhaupt scheinen die Philosophen und Ethiker, auf die sich Owen immer wieder bezieht, alle nicht viel von ihrem Fach zu verstehen, denn was Owen zum ‚Bewußtsein‘ zu sagen weiß, geht über Feld-, Wald- und Wiesenphilosophie nicht hinaus. Das Bewußtsein wird meistens nur als eine Art Informationsverarbeitung thematisiert, nämlich als Speichern, Indexieren und Abrufen von Datensätzen. (Vgl. Owen 2017, S.116) Unter ‚Bedeutung‘ versteht Owen vor allem eine Art Statistik, wenn es etwa um das Verstehen von Wörtern geht, im Sinne der Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Wörtern in Sätzen und Kontexten. (Vgl. Owen 2017, S.97, 104ff. und 280f.) Oder es werden verschiedene Bewußtseinsträger aufgezählt, Tiere, erwachsene Menschen, Kleinkinder, und dann werden am Ende ganz unvermittelt auch noch Maschinen erwähnt, ohne daß Owen in irgendeiner Weise erläutert, was Maschinen in dieser Reihe eigentlich zu suchen haben. (Vgl. Owen 2017, S.295)

Wirklich schwierige, philosophisch gehaltvolle Fragen werden einfach nicht gestellt! Wie kann Owen, der sonst immer sehr detailliert auf die verschiedenen technischen Probleme eingeht, das Bewußtsein von Komapatienten zu ‚messen‘, hochkomplexe Fragen nach der Ich-Identität bei einer möglichen Gehirntransplantation schlicht und einfach ignorieren und stattdessen platterdings konstatieren:
„Nach einer Gehirntransplantation (von einem anderen Körper in ‚meinen‘ Körper – DZ) würde schließlich nicht ‚ich‘ genesen. ‚Ich‘ wäre dann ein ganz anderer. Mein Aussehen bliebe unverändert, aber mit dem Gehirn eines anderen Menschen im Kopf wäre ich eine völlig andere Person. Verpflanzt man umgekehrt mein Gehirn in einen anderen Körper, bliebe ‚ich‘ weiterhin ‚ich‘, selbst im Körper eines anderen.“ (Owen 2017, S.266)
Für Owen gibt es hier offensichtlich überhaupt keinen Anlaß zu einer weiterführenden philosophischen Reflexion zum Verhältnis von Körper, Gehirn und Ich-Bewußtsein. Über die Feststellung, daß „man“ „im Wesentlichen derselbe Mensch (bliebe), nur in einem anderen Körper“, geht Owens ‚Philosophie‘ nicht hinaus. (Vgl. Owen 2017, S.266) Wer sich auf so flachem Niveau durch das interdisziplinäre Feld von Neurowissenschaft und Philosophie bewegt, sollte bitteschön sein Essen selbst bezahlen.

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