„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 19. Februar 2018

Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr. Ein somnambules Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen von Walter Moers und illustriert von Lydia Rode, München 2/2017

Heute möchte ich das neue Buch meines Lieblingsautors besprechen: „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“ (2/2017). Allerdings weiß ich nicht so recht, wie ich ihn nennen soll: Walter Moers oder Hildegunst von Mythenmetz? Denn tatsächlich ist Walter Moers nur der kongeniale Übersetzer der Schriften des Hildegunst von Mythenmetz. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Walter Moers noch keinen großen Literaturpreis erhalten hat, denn meiner Ansicht nach hätte er schon längst mindestens den Literaturnobelpreis für „Rumo“ verdient, meinem besonderen Liebling unter den Zamonienromanen. Allerdings lese ich keine Literaturpreisbücher. Autoren, die Literaturpreisbücher schreiben, schreiben sie nicht für Leser, jedenfalls nicht für Leser wie mich, sondern für Juroren. Und je unlesbarer so ein Buch ist, um so eher kommt es auf die Shortlist.

Was diesen Mythenmetz betrifft, bin ich etwas eingeschüchtert, wie ich gestehen muß. Schließlich haßt Mythenmetz nichts mehr als Rezensenten. Das kann man in „Ensel und Krete“ nachlesen. Es fällt mir schwer, das einzugestehen, schließlich bin ich, wie meine Schwester meint, ein Snob. Sie schenkte mir kürzlich „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ von Bodo Kirchhoff. Als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie, sie habe gelesen, daß der Kirchhoff ein Snob sei und daß das Buch deshalb zu mir passe.

Ich bin also ein Snob und will es deshalb diesem Mythenmetz mal so richtig zeigen: Ihr Buch, lieber Herr Mythenmetz, wimmelt von Drucksatzfehlern! Hier meine Liste:
Auf Seite 67, Zeile 10, fehlt ein ‚n‘ in „I()somnia“!
Auf Seite 84, Zeile 25, ist in „als(o)“ ein ‚o‘ zu viel!
Auf Seite 126, Zeile 18, fehlt in „Unbenn()bares“ eine ganze Silbe!
Auf Seite 327, Zeile 22, fehlt das Endzeichen!
Nachdem ich hiermit klargestellt habe, daß ich ein Rezensent bin, der sich von einem Mythenmetz nicht einschüchtern läßt, möchte ich jetzt gerne zu der wunderbaren Übersetzung seines Buches von Walter Moers zurückkehren. Im Nachwort offenbart Moers den Lesern seines Buches, daß der Anlaß seiner ‚Übersetzung‘ der Brief einer Leserin gewesen sei, die am chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) erkrankt sei. In ihrem Brief schreibt die Leserin, daß sie ihre schlaflosen Nächte mit dem Lesen seiner Zamonienromane verbringe, die sie von ihrer Krankheit ablenken. (Vgl. Moers 2/2017, S.337f.)

Der neue Roman von Moers ist eine Antwort auf diesen Leserbrief, und er ist zugleich eine Liebesromanerklärung eines Autors an seine Leserin. Was mich auf den Gedanken bringt, daß Havarius Opal, der Nachtmahr, eine Verkörperung des Autors sein könnte, denn auch er verliebt sich in Dylia (Prinzessin Insomnia), die ebenfalls unter der Krankheit leidet, nicht einschlafen zu können. Insbesondere die Eigenschaft seiner Schuppenhaut, ständig die Farben zu wechseln, und zwar jede einzelne Schuppe für sich, könnte ein Hinweis auf Moers’ Schreibstil sein, bei dem es auf verbaler Ebene ähnlich ‚bunt‘ zugeht wie auf Havarius Opals Schuppenhaut.

Der Name des Nachtmahrs ist übrigens schon ein Hinweis auf das Ende des Romans. Dies nur als Andeutung, denn viele Leser hassen es, wenn gespoilert wird, was ich überhaupt nicht verstehen kann, denn ich persönlich weiß immer gerne vorher, wie es ausgeht, und ich bevorzuge Happy Ends, darin ganz einig mit Bilbo Beutlin, der sich immer schon gerne zu Beginn einer Geschichte so ein Happy End zurechtlegt. So ermahnt er seinen Neffen Frodo vor seiner Reise nach Mordor: „Books ought to have good endings!“ – Mit dem beruhigenden Gefühl, daß sich alles in Wohlgefallen auflösen wird, kann ich einen Roman viel besser genießen. Sogar „Rumo“ hat ein Happy End.

Viele Motive aus früheren Büchern tauchen in Moers’ neuem Roman wieder auf. Zum Beispiel die Reise durch Dylias Gehirn: schon in „Käpt’n Blaubär“ gibt es eine Reise durch ein Bolloggehirn. Allerdings sieht es in Dylias Gehirn ganz anders aus, was nur noch einmal bestätigt, worauf auch Havarius Opal gerne immer wieder hinweist: Jedes Gehirn ist anders! – Das sollten diese Neurophysiologen bitteschön beherzigen, wenn sie uns das nächste Mal wieder das Blaue vom Himmel runterreden, was sie wieder Neues übers Gehirn rausgefunden haben. Niemand weiß besser, wie es in meinem Gehirn aussieht, als ich selbst! Warum? Weil ich denken kann. Überhaupt bin ich Rezensent! Und ich laß mir von niemandem vorschreiben, wie ich zu denken habe.

Dylias beste Freunde sind ihre Gedanken: denn mit ihnen ist sie nachts, wenn alle schlafen, ganz allein. Ihre Gedanken bewahren sie vor den schlimmsten Auswirkungen der Schlaflosigkeit. Und manchmal ermöglichen sie ihr sogar eine Art „schlafloses Träumen“ (Moers 2/2017, S.67), die an einen „saloppe(n) Rausch“ (Moers 2/2017, S.25) erinnert. Erfahrene Zamonienromanleser erinnern sich vielleicht an die „saloppe Katatonie“, die beim Sturz in ein Dimensionsloch eintritt. Aber das ist was anderes. Dylia jedenfalls hört in diesem Zustand „Gehirnmusik“, die „unverkennbaren Harmonien ihrer Ideen und Phantasmen“. (Vgl. Moers 2/2017, S.67)

Die Beziehung zwischen Havarius Opal und Dylia alias Prinzessin Insomnia erinnert auch aus einem weiteren Grund an die Beziehung zwischen dem Autor und seiner Leserin. Denn die Leserbriefschreiberin lieferte die Illustrationen zu Moers’ neuem Buch. Das Buch ist ein gemeinsames Projekt des Autors und seiner Leserin! Und die Leserin ist wiederum das Herz – bzw. das ‚Gehirn‘? – der Geschichte. Ich muß wieder ein Geständnis machen: die Stelle im Buch, an der das ganz explizit zum Ausdruck gebracht wird, hatte ich zunächst überhaupt nicht verstanden!

Jetzt muß ich leider etwas spoilern. Aber nur weil ich so eine lange Leitung habe und etwas schwer von Begriff bin und weil ich befürchte, daß es vielen Leserinnen und Lesern ähnlich ergeht wie mir!

Auf ihrer Reise durch Dylias Gehirn kommen die beiden ins Gedächtniszentrum, das aus einem riesigen Spinnennetz und seiner Hüterin, einer Spinne natürlich, besteht. Die Spinne schläft gerade. Der Raum, in dem sich das Spinnennetz befindet, ist voller Erinnerungsschätze, vor allem Wörter, denn Dylia denkt sich gerne Wörter aus und sie sammelt auch viele Wörter, vor allem solche, die sich schwer aussprechen lassen. Ich liebe es immer, den Schülern in meiner Bibliotheksgilde aus „Rumo“ vorzulesen. Es macht einen Riesenspaß, all die schwierigen Wörter auszusprechen, von denen es in allen Zamonienromanen nur so wimmelt.

Dylia begegnet in diesem Teil ihres Gehirns ihrem „Oberüberwort“, das auf einem Haufen von anderen Wörtern liegt:
„Dylia erschrak bei dem Anblick, aber nicht aus Furcht oder Bestürzung. Dann musste sie auflachen, aber nur ganz kurz. Und schließlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Ja, da lag es. Ganz oben auf dem Stapel mit den Pfauenwörtern. Lag? Nein – da thronte es. Plötzlich unübersehbar, alles überragend und überstrahlend, den ganzen riesigen Raum mit seiner einzigartigen Präsenz beherrschend.“ (Moers 2/2017, S.145f.)
Wir befinden uns erst  in der Mitte des Buches, und deshalb verrät uns Moers natürlich noch nicht, wie dieses Wort lautet. Aber gewitzt wie ich bin – Achtung Spoilergefahr! – schaue ich am Ende des Buches nach. Und ich bin enttäuscht: ‚Dylia‘ ist das Oberüberwort, also der Name der Prinzessin! Wie langweilig.

Ich blättere wieder zurück zur Stelle, wo ich gerade gewesen bin, und lese weiter. Wie gesagt: mir ist tatsächlich nicht aufgefallen, worin die Pointe liegt. Erst eine Weile, nachdem ich das Buch durchgelesen hatte, ging mir ein Licht auf. Dabei besteht das ganze Buch aus Anagrammen! „Ridikülisierendes Anagrammieren“ (Moers 2/2017, S.142) ist geradezu der Basisstil aller Zamonienromane! Denn wer ist Dylia? Lydia natürlich, besagte Leserbriefschreiberin, die alles überragende und überstrahlende, den Roman beherrschende einzigartige Präsenz.

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