„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 1. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Mit dem Kommentartitel „Einheit der Sinne“ möchte ich Martin Grunwalds Buch „Homo Hapticus“ (2017) gleich zu Beginn meiner Besprechung in einen engen Zusammenhang mit Helmuth Plessners Ästhesiologie stellen. Beiden Autoren geht es gleichermaßen um ein Einheitskonzept von Geist und Körper, wobei Plessner diese Einheit vom Geist her begründet, während Grunwald vom Körper selbst ausgeht, den er als Funktionseinheit, nämlich als „‚Rezeptor‘ und ‚Akteur‘“ thematisiert. (Vgl. Grunwald 2017, S.170) Die Grundlage dieser Funktionseinheit bildet Grunwald zufolge das Tastsinnessystem:
„In jeder Millisekunde eines Tages können wir unser körperliches Dasein mit Gewissheit empfinden. Unser Tastsinnessystem hält im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen.“ (Grunwald 2017, S.10)
Die bisherige Sinnesphysiologie stellte seit der griechischen Antike vor allem den Gesichtssinn ins Zentrum ihres Interesses und hob dessen bewußtseinsbildende und bewußtseinsformende Bedeutung hervor, für den dann in der Neurophysiologie auch gerne 80 Prozent der Gehirnleistung in Anspruch genommen werden. (Vgl. Grunwald 2017, S.18) Grunwald zufolge ist das falsch. Tatsächlich beansprucht nicht der Gesichtssinn 80, dafür aber unser Tastsinnessystem 100 Prozent unseres Gehirns. Das steht auch im Widerspruch zu der Mär, daß wir angeblich nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen:
„Es mag wohl möglich sein, dass einige Menschen für die kurzen Momente aktiver Denkleistung nur zehn Prozent ihrer Hirnaktivität aktivieren, doch für die Prozesse des Tastsinnessystems reserviert die Natur vorsorglich 100 Prozent. Immer.“ (Grunwald 2017, S.130)
Diese hundertprozentige Beanspruchung des Gehirns durch das Tastsinnessystem ist auch darauf zurückzuführen, daß es für den Tastsinn, anders als für die anderen klassischen Sinne, keinen spezifischen Gehirnbereich gibt, so wie es auch kein spezifisches Organ gibt, das ausschließlich für den Tastsinn zuständig ist. Nicht einmal die Haut hat das Primat für Berührungs- und Tastereignisse, weil das Tastsinnessystem ein vielfältiges (multisensorisches) nach innen wie nach außen gerichtetes System bildet, von dem sich in fast allen Körperorganen spezifische Rezeptoren befinden. (Vgl. Grunwald 2017, S.96f.)

Wie wichtig der Tastsinn ist, zeigt sich unter anderem daran, daß schon das sieben Wochen alte Embryo, das noch über keine Sinnesleistungen verfügt und auch nicht über Motorik, und dessen Organe sich gerade erst zu entwickeln beginnen, auf Berührungen an seinen Lippen reagiert und zusammenzuckt. Obwohl das Embryo in diesem Alter kaum mehr ist als ein Zellverbund in der Größe einer Blaubeere, kann es also schon ganzkörperlich auf Berührungsreize reagieren. Diese Fähigkeit haben auch einzelne Zellen, die sich in ihrer jeweiligen Umwelt orientieren können und gezielt unangenehme Kontexte meiden und angenehme Kontexte aufsuchen können.

Ein weiteres Moment, das das Tastsinnessystem so existentiell wichtig macht, besteht in dem Umstand, daß es anders als die anderen Sinnesleistungen für unser Überleben unverzichtbar ist. Alle klassischen Sinne, Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, können ausfallen, ohne unsere Existenz zu gefährden. Für das Tastsinnessystem gilt das nicht:
„Die Wahrnehmungssinne, die mit dem Hören, dem Sehen, dem Riechen und dem Schmecken verbunden sind, stellen im biologischen Sinn praktikable ‚Angebote‘ dar, die zur Interpretation von Umweltereignissen und Umwelteigenschaften genutzt werden können Sie sind fakultative Hilfsmittel und erleichtern unseren individuellen Lern- und Anpassungsprozess an die uns umgebende dreidimensionale Umwelt. Sie sind überhaus nützlich und dienen auch dem sozialen Austausch, aber sie stellen bei Verlust oder Schädigung – sofern wir in sozialen Umwelten leben, die diese sensorisch-analytischen Mängel kompensieren können – eben nicht das Überleben infrage.“ (Grunwald 2017, S.22)
An dieser Stelle fällt auf, daß sich Grunwald – anders als Plessner – nicht für die verschiedenen ‚Angebote‘ der übrigen Sinnesbereiche und ihre Funktion für das Überleben wie für unser Bewußtsein interessiert. Grunwald fokussiert ausschließlich auf das Tastsinnessystem und seine Bedeutung für den Entwicklungsprozeß des Gesamtsinnessystems. Dabei berücksicht Grunwald verschiedene Entwicklungsebenen:
„Einige dieser Fragen betreffen den biologischen – den phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen – Ursprung unserer Tastsinnesfähigkeit. Andere die wundersame ontogenetische Gebundenheit der menschlichen Existenz an die Erfahrungen einer körperlichen Interaktion und Stimulation.“ (Grunwald 2017, S.20)
Grunwald berücksichtigt also wie Plessner den Menschen auf allen Entwicklungsebenen seiner Existenz, mit dem Fokus auf das Tastsinnessystem.

Zum fundamentalen Beitrag des Tastsinnessystems zum Menschen als Einheit aus Geist und Körper gehört die Ermöglichung eines ersten, auf den Körper gerichteten „Ichbewußtseins“:
„Über diese Art einer grundsätzlichen Erkenntnis der eigenen Existenz verfügen wir – und wahrscheinlich auch jedes andere Lebewesen – selbst dann, wenn wir blind und taub geboren werden. Vor und nach unserer Geburt ist dieses lebenswichtige Grundwissen dank des Tastsinnessystems in uns verankert, alle übrigen Sinne haben an dieser Form der Gewahrwerdung nur einen fakultativen Anteil.“ (Grunwald 2017, S.45)
Zu diesem Ichbewußtsein gehört das schon in der vorgeburtlichen Entwicklung grundgelegte Körperschema (vgl. Grunwald 2017, S.42f.), das erste Fähigkeiten wie das Daumennuckeln und das damit einhergehende Training der für den Saugreflex unverzichtbaren Muskeln ermöglicht, ohne das der Säugling nach der Geburt verhungern würde (vgl. Grundwald 2017, S.28f.). Ohne ein solches Körperschema würde der Daumen seinen Weg zum Mund nicht finden und die Saugmuskulatur bliebe untrainiert.

Die Bedeutung des Körperschemas wird bei verschiedenen Störungen dieses Schemas deutlich. Interessant ist hier insbesondere die Magersucht, die Grunwald in seinem Leipziger Haptik-Labor experimentell mit Hilfe eines Neoprenanzugs zu behandeln versuchte. (Vgl. Grunwald 2017, S.207ff.) Er ließ einer 19-jährigen Patientin einen Neoprenanzug maßschneidern, den sie dreimal täglich je eine Stunde tragen sollte. Sie trug den Anzug 15 Wochen und beendete dann den Behandlungsversuch auf eigenen Wunsch, weil sie sich als geheilt betrachtete:
„In der Tat hatte die Patientin innerhalb der 15-wöchigen Tragephase 2,5 Kilogramm zugenommen.“ (Grunwald 2017, S.208)
Grunwalds These war, daß der Neoprenanzug das Tastsinnessystem der Patientin ganzkörperlich angeregt hatte und so dem Gehirn auf einer unbewußten Ebene laufend Informationen über den tatsächlichen Zustand ihres Körpers lieferte. Das führte zu einer zeitlich befristeten Korrektur des gestörten Körperschemas und aktivierte das Hungergefühl und die Lust am Essen. Diese Korrektur hielt zwei Monate nach Beendigung des Therapieversuchs an, ging dann aber wieder verloren. (Vgl. Grunwald 2017, S.209)

Ich finde dieses Experiment mit dem Neoprenanzug deshalb so interessant, weil es ein Stadium in der vorgeburtlichen Entwicklung gibt, wo dem Fötus auf dem ganzen Körper Haare wachsen: die sogenannte Lanugobehaarung, die von manchen Wissenschaftlern als evolutionärer Überrest aus der Zeit, als unsere Vorfahren noch ein Fell getragen hatten, gedeutet wird. (Vgl. Grunwald 2017, S.29ff.) Ganz anders Grunwald. Ihm zufolge bildet die Lanugobehaarung ein empfindliches, auf Bewegungen der Mutter und der Uterusflüssigkeit reagierendes Sensorium, das das Gehirn in der reizarmen Umgebung dieser Lebensphase mit den für die Entwicklung des Fötus unverzichtbaren Umweltreizen versorgt
„... nach Ansicht verschiedener Wissenschaftler ist das fötale Wachstum direkt an die Stimulation durch die Bewegungen der Lanugohärchen gebunden.() Sie vermuten, dass die Impulssalven aus den Haarsensoren wichtige Hirnregionen (Hypothalamus, Inselkortex) erreichen und das parasympathische Nervensystem aktivieren. Diese neuronale Erregungskette im Gehirn löst die Ausschüttung des Wachstumshormons Oxytocin aus, das ab der 16. Schwangerschaftswoche im Hypothalamus von Föten nachgewiesen werden kann. Gleichzeitig führt die Erregung des Inselkortex wahrscheinlich zu ersten positiven Körperempfindungen des Fötus.“ (Grunwald 2017, S.30)
Vor dem Hintergrund des Experiments mit dem Neoprenanzug liegt hier noch eine andere Vermutung nahe, die von Grunwald aber nicht explizit angesprochen wird: wir könnten die ganzkörperliche Lanugobehaarung auch als eine Art Neoprenanzug verstehen, der zur Bildung eines ersten rudimentären Körperschemas beiträgt.

Im Gesamtverbund der verschiedenen Sinnessysteme bildet der Tastsinn aber nicht nur eine erste und in Form eines fortwährenden Hintergrundrauschens unverzichtbare Grundlage unserer Existenz. (Vgl. Grunwald 2017, S.10 und S.97f.) Wenn er, wie Grunwald schreibt, den Geist unseres Körper zusammenhält, so auch deshalb, weil das Gesamtsinnessystem ‚multimodal‘ mit dem Tastsinnessystem zusammenarbeiten muß, damit elementare Leistungen wie Sehen und Hören und sogar das Sprechenlernen überhaupt erst möglich werden. Beim Hören ist das schon auf rein sinnesphysiologischer Ebene der Fall, denn in gewisser Weise bildet das Gehör einen Teil des Tastsinnessystems. Grunwald zufolge hat sich „die Natur“ beim Gehör am „Grundprinzip der Tastsinneswahrnehmung“ orientiert: die Schallwellen werden über kleine „Haarzellen innerhalb des Cortischen Organs in der Basilarmembran des Ohres“ aufgenommen. Haare bilden aber generell einen wichtigen Bestandteil des Tastsinnessystems. Kleiner Hinweis an die Damen: die Entfernung der Beinbehaarung führt zu einer Einschränkung der Berührungsempfindlichkeit der Haut. Was das Gehör betrifft, konstatiert Grunwald:
„Vor diesem Hintergrund ist das Hören eine spezialisierte und auf eine bestimmte Körperregion begrenzte Form der Tastsinneswahrnehmung.“ (Grunwald 2017, S.32)
Was das Sehen betrifft, lernen wir unsere Umwelt allererst über Berührungskontakte mit den uns umgebenden Gegenständen kennen. Kleine Kinder erkennen Gegenstände auf einem Bild leichter, wenn sie sie vorher in der Hand (oder im Mund) gehabt haben. Grunwald bezeichnet das als „multimodalen Transfer“:
„Diese Prozesse sind zum Beispiel dafür verantwortlich, dass im Experiment ein Säugling von drei Monaten einen Gegenstand, den er nur ertasten, aber nicht sehen kann, später auf einem Bildschirm länger betrachtet als solche, die nicht vorher in seiner Hand waren. Die ertasteten Eigenschaften werden sofort auf die Ebene einer anderen Sinnesmodalität – des Sehsinns – transferiert, sodass der Säugling späterhin seine visuelle Aufmerksamkeit auf etwas richten kann, was er vorab fühlen konnte.()“ (Grunwald 2017, S.80)
Dieser zeitliche Vorrang des Tastsinns, erst das Tastsinneserlebnis, dann das Sehen, gilt auch für das Erlernen der Sprache. Erst wenn kleine Kinder ihre Umgebung tastend und greifend ausgiebig erkundet haben, können sie den Gegenständen, die sie ertastet haben, vorrangig zunächst Teile des eigenen Körpers, auch Namen geben. Es gibt also eine unverzichtbare „Verbindung zwischen Tastsinneserfahrung und Spracherwerb“:
„Damit diese Prozesse des Spracherwerbs stattfinden können, müssen die Objekte der äußeren Welt eine Bedeutung für das Kind erhalten, und diese Bedeutungen sind zu Beginn der Sprachentwicklung durchweg körperlicher Natur.“ (Grunwald 2017, S.91)
Dieser bemerkenswerte Umstand führt Grunwald zu einer Kritik hinsichtlich der naiven Verwendung digitaler Technologien schon in der Erziehung von kleinen Kindern, die an entsprechende Warnungen von Matthew Crawford erinnert. (Vgl. meinen Blogpost vom 15.01.2017) Gunwald zufolge behindert es die Sprachentwicklung von Kindern, wenn man sie schon im Kleinkindalter mit digitalen ‚Lesebüchern‘ in Form von tablets versorgt. (Vgl. Grunwals 2017, S.86ff.) Das Erkunden der physischen Umwelt ist ungleich mühsamer für das kleine Kind als die multimediale Berieselung mit Bildern und Geräuscheffekten über ein tablet. In Verbund mit dem Vorbild der Erwachsenen, die mit entsprechenden Geräten Umgang haben und ihnen ihre Aufmerksamkeit zuwenden, prägt das auch die Präferenzen des kleinen Kindes und – behindert seine Sprachentwicklung:
„Aus biologischer Perspektive ist selbst das ‚Nichtstun‘ eines gelangweilten und nörgelnden, mit sich selbst unzufriedenen Kindes in seiner kognitiven und emotionalen Komplexität reichhaltiger als jedes Touchpad-, Maus- oder Tastaturangebot ...“ (Grunwald 2017, S.87)
Grunwald weist darauf hin, daß nichts ‚Intelligentes‘ in der Fähigkeit des kleinen Kindes liegt, mit dem Finger über ein touchpad zu wischen. Das, so Grunwald, können auch Schimpansen. In der Entwicklung wird es auch nicht zurückbleiben, wenn ihm solche digitalen Erlebnisse versagt werden, denn „selbst hochbetagte Menschen ohne Vorerfahrungen (sind) in der Lage ..., Touchpad-Funktionen zu verstehen und zu nutzen“. (Vgl. Grunwald 2017, S.89)

Es gibt kein entwicklungsspezifisches Zeitfenster für das Erlernen von Medienkompetenz. Für das Sprechenlernen hingegen schon.

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