„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 19. Februar 2018

Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr. Ein somnambules Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen von Walter Moers und illustriert von Lydia Rode, München 2/2017

Heute möchte ich das neue Buch meines Lieblingsautors besprechen: „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“ (2/2017). Allerdings weiß ich nicht so recht, wie ich ihn nennen soll: Walter Moers oder Hildegunst von Mythenmetz? Denn tatsächlich ist Walter Moers nur der kongeniale Übersetzer der Schriften des Hildegunst von Mythenmetz. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Walter Moers noch keinen großen Literaturpreis erhalten hat, denn meiner Ansicht nach hätte er schon längst mindestens den Literaturnobelpreis für „Rumo“ verdient, meinem besonderen Liebling unter den Zamonienromanen. Allerdings lese ich keine Literaturpreisbücher. Autoren, die Literaturpreisbücher schreiben, schreiben sie nicht für Leser, jedenfalls nicht für Leser wie mich, sondern für Juroren. Und je unlesbarer so ein Buch ist, um so eher kommt es auf die Shortlist.

Was diesen Mythenmetz betrifft, bin ich etwas eingeschüchtert, wie ich gestehen muß. Schließlich haßt Mythenmetz nichts mehr als Rezensenten. Das kann man in „Ensel und Krete“ nachlesen. Es fällt mir schwer, das einzugestehen, schließlich bin ich, wie meine Schwester meint, ein Snob. Sie schenkte mir kürzlich „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ von Bodo Kirchhoff. Als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie, sie habe gelesen, daß der Kirchhoff ein Snob sei und daß das Buch deshalb zu mir passe.

Ich bin also ein Snob und will es deshalb diesem Mythenmetz mal so richtig zeigen: Ihr Buch, lieber Herr Mythenmetz, wimmelt von Drucksatzfehlern! Hier meine Liste:
Auf Seite 67, Zeile 10, fehlt ein ‚n‘ in „I()somnia“!
Auf Seite 84, Zeile 25, ist in „als(o)“ ein ‚o‘ zu viel!
Auf Seite 126, Zeile 18, fehlt in „Unbenn()bares“ eine ganze Silbe!
Auf Seite 327, Zeile 22, fehlt das Endzeichen!
Nachdem ich hiermit klargestellt habe, daß ich ein Rezensent bin, der sich von einem Mythenmetz nicht einschüchtern läßt, möchte ich jetzt gerne zu der wunderbaren Übersetzung seines Buches von Walter Moers zurückkehren. Im Nachwort offenbart Moers den Lesern seines Buches, daß der Anlaß seiner ‚Übersetzung‘ der Brief einer Leserin gewesen sei, die am chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) erkrankt sei. In ihrem Brief schreibt die Leserin, daß sie ihre schlaflosen Nächte mit dem Lesen seiner Zamonienromane verbringe, die sie von ihrer Krankheit ablenken. (Vgl. Moers 2/2017, S.337f.)

Der neue Roman von Moers ist eine Antwort auf diesen Leserbrief, und er ist zugleich eine Liebesromanerklärung eines Autors an seine Leserin. Was mich auf den Gedanken bringt, daß Havarius Opal, der Nachtmahr, eine Verkörperung des Autors sein könnte, denn auch er verliebt sich in Dylia (Prinzessin Insomnia), die ebenfalls unter der Krankheit leidet, nicht einschlafen zu können. Insbesondere die Eigenschaft seiner Schuppenhaut, ständig die Farben zu wechseln, und zwar jede einzelne Schuppe für sich, könnte ein Hinweis auf Moers’ Schreibstil sein, bei dem es auf verbaler Ebene ähnlich ‚bunt‘ zugeht wie auf Havarius Opals Schuppenhaut.

Der Name des Nachtmahrs ist übrigens schon ein Hinweis auf das Ende des Romans. Dies nur als Andeutung, denn viele Leser hassen es, wenn gespoilert wird, was ich überhaupt nicht verstehen kann, denn ich persönlich weiß immer gerne vorher, wie es ausgeht, und ich bevorzuge Happy Ends, darin ganz einig mit Bilbo Beutlin, der sich immer schon gerne zu Beginn einer Geschichte so ein Happy End zurechtlegt. So ermahnt er seinen Neffen Frodo vor seiner Reise nach Mordor: „Books ought to have good endings!“ – Mit dem beruhigenden Gefühl, daß sich alles in Wohlgefallen auflösen wird, kann ich einen Roman viel besser genießen. Sogar „Rumo“ hat ein Happy End.

Viele Motive aus früheren Büchern tauchen in Moers’ neuem Roman wieder auf. Zum Beispiel die Reise durch Dylias Gehirn: schon in „Käpt’n Blaubär“ gibt es eine Reise durch ein Bolloggehirn. Allerdings sieht es in Dylias Gehirn ganz anders aus, was nur noch einmal bestätigt, worauf auch Havarius Opal gerne immer wieder hinweist: Jedes Gehirn ist anders! – Das sollten diese Neurophysiologen bitteschön beherzigen, wenn sie uns das nächste Mal wieder das Blaue vom Himmel runterreden, was sie wieder Neues übers Gehirn rausgefunden haben. Niemand weiß besser, wie es in meinem Gehirn aussieht, als ich selbst! Warum? Weil ich denken kann. Überhaupt bin ich Rezensent! Und ich laß mir von niemandem vorschreiben, wie ich zu denken habe.

Dylias beste Freunde sind ihre Gedanken: denn mit ihnen ist sie nachts, wenn alle schlafen, ganz allein. Ihre Gedanken bewahren sie vor den schlimmsten Auswirkungen der Schlaflosigkeit. Und manchmal ermöglichen sie ihr sogar eine Art „schlafloses Träumen“ (Moers 2/2017, S.67), die an einen „saloppe(n) Rausch“ (Moers 2/2017, S.25) erinnert. Erfahrene Zamonienromanleser erinnern sich vielleicht an die „saloppe Katatonie“, die beim Sturz in ein Dimensionsloch eintritt. Aber das ist was anderes. Dylia jedenfalls hört in diesem Zustand „Gehirnmusik“, die „unverkennbaren Harmonien ihrer Ideen und Phantasmen“. (Vgl. Moers 2/2017, S.67)

Die Beziehung zwischen Havarius Opal und Dylia alias Prinzessin Insomnia erinnert auch aus einem weiteren Grund an die Beziehung zwischen dem Autor und seiner Leserin. Denn die Leserbriefschreiberin lieferte die Illustrationen zu Moers’ neuem Buch. Das Buch ist ein gemeinsames Projekt des Autors und seiner Leserin! Und die Leserin ist wiederum das Herz – bzw. das ‚Gehirn‘? – der Geschichte. Ich muß wieder ein Geständnis machen: die Stelle im Buch, an der das ganz explizit zum Ausdruck gebracht wird, hatte ich zunächst überhaupt nicht verstanden!

Jetzt muß ich leider etwas spoilern. Aber nur weil ich so eine lange Leitung habe und etwas schwer von Begriff bin und weil ich befürchte, daß es vielen Leserinnen und Lesern ähnlich ergeht wie mir!

Auf ihrer Reise durch Dylias Gehirn kommen die beiden ins Gedächtniszentrum, das aus einem riesigen Spinnennetz und seiner Hüterin, einer Spinne natürlich, besteht. Die Spinne schläft gerade. Der Raum, in dem sich das Spinnennetz befindet, ist voller Erinnerungsschätze, vor allem Wörter, denn Dylia denkt sich gerne Wörter aus und sie sammelt auch viele Wörter, vor allem solche, die sich schwer aussprechen lassen. Ich liebe es immer, den Schülern in meiner Bibliotheksgilde aus „Rumo“ vorzulesen. Es macht einen Riesenspaß, all die schwierigen Wörter auszusprechen, von denen es in allen Zamonienromanen nur so wimmelt.

Dylia begegnet in diesem Teil ihres Gehirns ihrem „Oberüberwort“, das auf einem Haufen von anderen Wörtern liegt:
„Dylia erschrak bei dem Anblick, aber nicht aus Furcht oder Bestürzung. Dann musste sie auflachen, aber nur ganz kurz. Und schließlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Ja, da lag es. Ganz oben auf dem Stapel mit den Pfauenwörtern. Lag? Nein – da thronte es. Plötzlich unübersehbar, alles überragend und überstrahlend, den ganzen riesigen Raum mit seiner einzigartigen Präsenz beherrschend.“ (Moers 2/2017, S.145f.)
Wir befinden uns erst  in der Mitte des Buches, und deshalb verrät uns Moers natürlich noch nicht, wie dieses Wort lautet. Aber gewitzt wie ich bin – Achtung Spoilergefahr! – schaue ich am Ende des Buches nach. Und ich bin enttäuscht: ‚Dylia‘ ist das Oberüberwort, also der Name der Prinzessin! Wie langweilig.

Ich blättere wieder zurück zur Stelle, wo ich gerade gewesen bin, und lese weiter. Wie gesagt: mir ist tatsächlich nicht aufgefallen, worin die Pointe liegt. Erst eine Weile, nachdem ich das Buch durchgelesen hatte, ging mir ein Licht auf. Dabei besteht das ganze Buch aus Anagrammen! „Ridikülisierendes Anagrammieren“ (Moers 2/2017, S.142) ist geradezu der Basisstil aller Zamonienromane! Denn wer ist Dylia? Lydia natürlich, besagte Leserbriefschreiberin, die alles überragende und überstrahlende, den Roman beherrschende einzigartige Präsenz.

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Samstag, 3. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Im letzten Kapitel seines Buches geht Martin Grunwald auf die Geschichte des von ihm geleiteten Haptik-Labors ein. (Vgl. Grunwald 2017, S.211ff.) Wie viele universitäre Einrichtungen und Wissenschaftler wurden auch Grunwald und seine Mitarbeiter nur für eine Übergangszeit staatlich finanziert und mußten sich nach zwölf Jahren nach Sponsoren außerhalb der Universität umsehen. (Vgl. Grunwald 2017, Anm.2, S.285f.) Sie stellten ihre Forschung also in den Dienst der Industrie und boten wissenschaftliche Beratung bei der Produktentwicklung an. Zu diesem Zweck gründeten sie das Haptik-Forschungszentrum.

Grunwald betont, daß er seine Expertise keineswegs der Waffenindustrie zur Verfügung stellen würde, weil er überzeugt sei, „dass Vertreter psychologischer Fachbereiche unter keinen Umständen an der Vernichtung menschlichen Lebens beteiligt sein dürfen“. (Vgl. Grunwald 2017, Anm.3, S.286) Sonstige ethische Bedenken erwähnt Grunwald allerdings nicht, was verwunderlich ist, denn im Zusammenhang der Kleinkinderziehung und des Spracherwerbs hatte er sich in einem früheren Kapitel sehr kritisch gegenüber digitalen Technologien geäußert. (Vgl. Grunwald 2017, S.86ff. und S.90ff.)

Diese grundsätzliche Kritik scheint Grunwald aber im Bereich des Neuromarketings nicht für nötig zu halten. (Vgl. Grunwald 2017, S.236) Vielmehr sieht er im Neuromarketing den Kern der wissenschaftlichen Dienstleistung, die das Haptik-Forschungszentrum für die Industriebranche erbringt. Denn, so Grunwald, gerade weil es im  „digitale(n) Zeitalter“ einen gewissen Überdruß an auf visuelle und optische Reize beschränkte Angebote der virtuellen Realität gebe (vgl. Grunwald 2017, S.237), bedürfe es eines speziellen „Haptik-Designs“ (vgl. Grunwald 2017, S.217f.), mit dem z.B. auf der virtuellen Ebene die fehlenden haptischen, olfaktorischen und gustatorischen Aspekte durch Präsentation entsprechender Bild- und Geräuschelemente so vorgespielt werden können, daß Zuschauer auf mimetischer Ebene die zugehörigen Sinnesbereiche miterleben, als wären sie real:
„Allein die Beobachtung körperlicher Erlebnisse anderer Menschen führt zur Aktivierung tastsensibler Verarbeitungsgebiete in unserem Gehirn und schafft auf diese Weise eine quasi körperliche Beteiligung mit entsprechenden Emotionen und Gedächtnisprozessen.“ (Grunwald 2017, S.238)
Zwar verweist Grunwald unter der Überschrift „Manipulation oder Kundenvorteil?“ auf die Ambivalenz von Werbestrategien, führt diese Problematik dann aber nicht weiter aus, sondern er beschränkt sich auf die Präsentation von geglückten Lösungen im Bereich der Produktentwicklung, etwa hinsichtlich des Tragekomforts von Sixpacks aus 1,5-Liter-Flaschen Mineralwasser oder „handelsüblicher Bierkästen“. (Vgl. Grunwald 2017, S.228ff.)

Wenn es um Manipulationen geht, liefert eigentlich die Autobranche viel aufschlußreichere und kritikwürdigere Beispiele. Gerade hier aber weiß Grunwald nur Lobendes zu berichten:
„Aus unserer Sicht war die Automobilindustrie die erste Branche, die sich aktiv – und sehr kontrovers – mit dem Primat des Visuellen im Design auseinandergesetzt hat.“ (Grunwald 2017, S.217; vgl. auch S.15ff.)
Gunwald hebt hervor, wie sehr sich die Produktentwickler in der Autobranche mittlerweise um haptische und tastsensible Oberflächen von der Polsterung der Sitze über die Bedienelemente der Konsole, Pedalen, Schalthebel bis hin zum Lenkrad und darüber hinaus um Geräusch- und Geruchseffekte bemühen, um den Kunden zum Kauf eines Kraftwagens zu animieren. Was Grunwald nicht erwähnt, ist, daß ein multisensorisch angereicherter Fahrkomfort durchaus auch auf Kosten der Fahrsicherheit gehen kann, wenn z.B. die Motorgeräusche nicht mehr vom Motor stammen, sondern simuliert werden, weil die simulierten Geräusche besser klingen als der Motor, oder wenn die verschiedenen technischen Fahrhilfen so sehr von den realen Fahrbedingungen abschirmen, daß der Fahrer jedes Gefühl für das Fahrverhalten des Fahrzeugs und für dessen Geschwindigkeit verliert. So beschreibt Matthew B. Crawford in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ (2016) die Fahrt in einem Toyota Avalon durch die Rocky Mountains, wo er das Kurvenverhalten des durchdigitalisierten Fahrzeugs auch nach längere Fahrt nicht in den Griff bekam, weil er in diesem Wagen kein Gespür für die Straße hatte, auf der er fuhr. (Vgl. meinen Blogpost vom 17.01.2017)

Das ist dann schon nicht mehr so verwunderlich, wenn Autokonzerne die Abgaswerte manipulieren. Hauptsache, die Kunden fühlen sich wohl mit ihrem Produkt, das ihnen eine saubere Technologie simuliert. Abgasmnanipulationen und die Manipulation der Öffentlichkeit mit Hilfe gesponsorter Forschungsergebnisse bilden also letztlich auch nur eine Form von Design. Insofern steckt Ironie im ‚Forschungsdesign‘.

Der Design-Aspekt, den Grunwald in seinem letzten Kapitel hervorhebt, unterschlägt die Frage nach dem grundsätzlichen Gebrauchswert der Produkte, die multisensorisch aufgewertet werden. Das gilt auch dort, wo Grunwald einen ganzen Abschnitt der Frage nach der „Handhabungswertigkeit“ von Produkten widmet. (Vgl. Grunwald 2017, S.221ff.) Dabei sollte es nicht nur um das leichtere Öffnen von Verpackungen oder um die Beseitigung von Gefahrenquellen beim Spielzeug für kleine Kinder gehen, was sicher wichtig genug ist. Es geht mir hier vielmehr um den grundsätzlichen Sinn von Technik bzw. Technologie. Wozu sollen Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren noch zusätzlich digital aufgemotzt werden und multisensorische Erlebnisräume eröffnen, die mit ihrem eigentlichen Zweck, dem Fahren, nichts mehr zu tun haben? Wozu soll es überhaupt noch Verbrennungsmotoren geben? – Das ‚neueste‘ Argument unserer Bundeskanzlerin lautet: weil sie eine Brückentechnologie bilden! Irgendwoher kennen wir das schon.

Der einzige technologische Fortschritt im Bereich der Automobilindustrie bestünde in der Abschaffung von Verbrennungsmotoren, nicht in der Erfindung neuer Designs für diese Produkte des fossilen Energiezeitalters. Aber solche Fragen lassen sich in universitären Einrichtungen, die seit der berüchtigten Bolongareform auf Sponsoren aus der Industriebranche angewiesen sind, wohl nicht mehr stellen.

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Freitag, 2. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Nicht nur das Gesamtsinnessystem funktioniert multimodal, indem sich die verschiedenen Sinnesbereiche bei der Wahrnehmung unserer dreidimensionalen Wirklichkeit gegenseitig unterstützen. Auch das Tastsinnessystem ist multisensorisch aufgebaut und bildet einen Sinnesverbund aus vielfältigen, unterschiedlichen, auf und in unserem ganzen Körper verteilten Rezeptortypen:
„Ob jedoch die Haut die Körperregion mit den meisten tastsensiblen Rezeptoren ist, kann bezweifelt werden, denn die sonstigen Bindegewebestrukturen im Körper – einschließlich der Knochenhäute – sind ebenfalls mit tastsensiblen Rezeptoren ausgestattet, außerdem die Schleimhäute, die Wände von Venen und Arterien, die Muskeln, die Sehnen und Gelenke.() ... Einige reagieren nur auf Druck- und Verformungskräfte, die kurz andauern, andere auf lang anhaltende Kräfte, wieder andere registrieren Spannungsänderungen von Muskeln, Sehnen und Bindegewebsfasern. Es gibt schmerzsensitive und temperatur-sensitive Rezeptoren und solche, die auf Geschwindigkeitsänderungen des Gewebes oder des gesamten Körpers reagieren. Je nachdem, welche anatomische Klassifikation genutzt wird, lassen sich etwa zehn verschiedene Rezeptortypen unterscheiden.“ (Grunwald 2017, S.97)
Die Schmerzempfindung bildet nicht etwa bloß eine extreme Variante von Druck- und Dehnungsreizen oder von Kälte- und Wärmeempfindungen. (Vgl. Grunwald 2017, S.121) Sie hat ihre eigenen Rezeptoren, sogenannte Nozirezeptoren, die krankheitsbedingt ausfallen können, ohne daß das übrige Tastsinnessystem davon betroffen ist. (Vgl. Grunwald 2017, S.177f.)

Grunwald rechnet auch den Gleichgewichtssinn zum Tastsinnessystem, weil es einen unverzichtbaren Bestandteil der „Propriozeption“, also der Orientierung im Raum bildet. (Vgl. Grunwald 2017, S.27) Die Propriozeption bildet neben der Exterozeption und der Interozeption eine von drei Grundfunktionen des Tastsinnessystems. Die Exterozeption beinhaltet die nach außen gerichteten Tastsinnesempfindungen und wird hauptsächlich durch in der Haut verteilte Rezeptortypen gewährleistet, während die Interozeption durch in den inneren Organen und im Bindegewebe verteilte Rezeptortypen ermöglicht wird, die Informationen über innere Körperereignisse wie Hunger, Durst, Wärme- und Kälteempfindungen liefern. (Vgl. Grunwald 2017, S.44)

Neben der Funktion des Gleichgewichtssinns für die Propriozeption spricht auch der Umstand, daß dieser Sinn mittels „mikroskopisch kleine(r) Haarsensoren“ funktioniert, für seine Zuordnung zum Tastsinnessystem; denn Haare bilden wichtige Rezeptortypen für Berührungs- und Dehnungsreize:
„Dass selbst Insekten, die nur wenige Mikrogramm schwer sind, einen vergleichsweise riesigen Organismus wie den unsrigen auf sich aufmerksam machen können, liegt daran, dass unsere Körperhaut ca. fünf Millionen Haare enthält.() Auch wenn gewöhnlich dem Haupthaar die größte persönliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, befindet sich am Kopf – je nach Alter, Geschlecht und Veranlagung – nur ein geringer Prozentsatz unserer Haare. Grundsätzlich sind ca. 80 Prozent der menschlichen Körperhaut (bei Frauen etwas weniger) mit Haaren bedeckt.“ (Grunwald 2017, S.99)
Die bei Frauen verbreitete Epilierung der Bein- und Armbehaarung führt zu einer deutlichen Einschränkung der Berührungsempfindlichkeit. (Vgl. Grunwald 2017, S.100)

Unsere Körperbehaarung bildet also keineswegs eine evolutionäre Reminiszenz an irgendwelche felltragenden Vorfahren, wie es etwa von der Lanugobehaarung heißt, einer den ganzen Fötus umfassenden Körperbehaarung zwischen der 17. und der 33. Schwangerschaftswoche. Deren tatsächliche Funktion besteht Grunwald zufolge darin, das Gehirn des Fötus mit den für sein Wachstum nötigen Stimulationen zu versorgen:
„Dank der Lanugobehaarung ist jetzt für den Fötus eine permanente körperliche Stimulationsumgebung entstanden, die sowohl in Ruhelagen als auch bei Fremd- und Eigenbewegungen für eine Anregung des Tastsinnessystems und damit auch für eine neuronale Stimulation sorgt.“ (Grunwald 2017, S.30)
Das Tastsinnessystem ist der einzige Sinnesbereich, für den es weder im Gehirn einen spezialisierten Bereich noch am Körper ein spezifisches Organ gibt, das für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Tastsinnesempfindungen zuständig ist. Dieser Umstand wie auch die qualitative Vielfalt von Rezeptortypen und die schiere Quantität von Tastsinnesrezeptoren macht das Tastsinnessystem innerhalb des Gesamtsinnessystems zu etwas Besonderem:
„Unsere vorsichtige Schätzung der tastsensiblen Rezeptoren ... ergibt ca. 710 Millionen. Legt man großzügigere Maßstäbe an, sind Größenordnungen bis zu 900 Millionen nicht unwahrscheinlich.() Eine quantitative Gegenüberstellung verdeutlicht, dass das Tastsinnessystem im Vergleich zu den übrigen Sinnessystemen schon allein auf der Rezeptorebene ein biologisches Schwergericht darstellt: Die Rezeptoren des visuellen Systems werden pro Auge auf 120 Millionen Stäbchenzellen und sechs Millionen Zapfenzellen geschätzt, die geruchssensitiven Rezeptoren auf zehn bis 100 Millionen. Die des auditiven Systems enthalten pro Ohr ca. 20 000 Rezeptoren, und die Zunge hat ca. 2000 Geschmacksknospen mit jeweils zehn bis 50 Rezeptorzellen.“ (Grunwald 2017, S.124)
Das zentrale Nervensystem ist rund um die Uhr zu 100 Prozent damit befaßt, alle vom Tastsinnessystem eingehenden Informationen zu verarbeiten. (Vgl. Grunwald 2017, S.130) Zu diesen ‚Informationen‘ gehört das permanente „Hintergrundrauschen“ des Ruhepotenzials – einer Art stand-by-modus der Rezeptoren, die ihre sofortige Aktivierung gewährleistet –, das Grunwald zufolge „die biologische Basis für unser stetiges Körpererleben und auch für unsere Bewusstseinstätigkeit darstellt“. (Vgl. Grunwald 2017, S.98)

Damit spannt Grunwald den Bogen zur meines Erachtens wichtigsten These seines Buches, daß nämlich unser Tastsinnessystem „im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen(hält)“. (Vgl. Grunwald 2017, S.10) Damit ermöglicht das Tastsinnessystem auch „die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins“. (Vgl. Grunwald 2017, S.44)

An dieser Stelle sehe ich gleichzeitig die Nähe und die Differenz zu Plessners Körperleib. Grunwald und Plessner denken ‚Bewußtsein‘ und ‚Geist‘ immer im engen, unlöslichen Verbund mit dem menschlichen Körper. Aber bei Grunwald fehlt die exzentrische Dimension des menschlichen Selbstbewußtseins. Dieses wird als Ichbewußtsein immer nur mit der Gewißheit der eigenen Existenz gleichgesetzt. Es kommt bei Grunwald zu keinem Bruch zwischen der menschlichen Intentionalität und ihrer menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt, allenfalls zu einer Verkümmerung des Außenweltbezugs, wenn digitale Technologien das haptische Entwicklungspotential von kleinen Kindern unterfordern. (Vgl. Grunwald 2017, S.86f.)

Im nächsten Blogpost werde ich zeigen, daß Grunwalds technologiekritischer Ansatz angesichts der Möglichkeiten des Neuromarketings, zu denen sein Leipziger Haptik-Labor einen Beitrag leisten will, zu wünschen übrig läßt.

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Donnerstag, 1. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Mit dem Kommentartitel „Einheit der Sinne“ möchte ich Martin Grunwalds Buch „Homo Hapticus“ (2017) gleich zu Beginn meiner Besprechung in einen engen Zusammenhang mit Helmuth Plessners Ästhesiologie stellen. Beiden Autoren geht es gleichermaßen um ein Einheitskonzept von Geist und Körper, wobei Plessner diese Einheit vom Geist her begründet, während Grunwald vom Körper selbst ausgeht, den er als Funktionseinheit, nämlich als „‚Rezeptor‘ und ‚Akteur‘“ thematisiert. (Vgl. Grunwald 2017, S.170) Die Grundlage dieser Funktionseinheit bildet Grunwald zufolge das Tastsinnessystem:
„In jeder Millisekunde eines Tages können wir unser körperliches Dasein mit Gewissheit empfinden. Unser Tastsinnessystem hält im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen.“ (Grunwald 2017, S.10)
Die bisherige Sinnesphysiologie stellte seit der griechischen Antike vor allem den Gesichtssinn ins Zentrum ihres Interesses und hob dessen bewußtseinsbildende und bewußtseinsformende Bedeutung hervor, für den dann in der Neurophysiologie auch gerne 80 Prozent der Gehirnleistung in Anspruch genommen werden. (Vgl. Grunwald 2017, S.18) Grunwald zufolge ist das falsch. Tatsächlich beansprucht nicht der Gesichtssinn 80, dafür aber unser Tastsinnessystem 100 Prozent unseres Gehirns. Das steht auch im Widerspruch zu der Mär, daß wir angeblich nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen:
„Es mag wohl möglich sein, dass einige Menschen für die kurzen Momente aktiver Denkleistung nur zehn Prozent ihrer Hirnaktivität aktivieren, doch für die Prozesse des Tastsinnessystems reserviert die Natur vorsorglich 100 Prozent. Immer.“ (Grunwald 2017, S.130)
Diese hundertprozentige Beanspruchung des Gehirns durch das Tastsinnessystem ist auch darauf zurückzuführen, daß es für den Tastsinn, anders als für die anderen klassischen Sinne, keinen spezifischen Gehirnbereich gibt, so wie es auch kein spezifisches Organ gibt, das ausschließlich für den Tastsinn zuständig ist. Nicht einmal die Haut hat das Primat für Berührungs- und Tastereignisse, weil das Tastsinnessystem ein vielfältiges (multisensorisches) nach innen wie nach außen gerichtetes System bildet, von dem sich in fast allen Körperorganen spezifische Rezeptoren befinden. (Vgl. Grunwald 2017, S.96f.)

Wie wichtig der Tastsinn ist, zeigt sich unter anderem daran, daß schon das sieben Wochen alte Embryo, das noch über keine Sinnesleistungen verfügt und auch nicht über Motorik, und dessen Organe sich gerade erst zu entwickeln beginnen, auf Berührungen an seinen Lippen reagiert und zusammenzuckt. Obwohl das Embryo in diesem Alter kaum mehr ist als ein Zellverbund in der Größe einer Blaubeere, kann es also schon ganzkörperlich auf Berührungsreize reagieren. Diese Fähigkeit haben auch einzelne Zellen, die sich in ihrer jeweiligen Umwelt orientieren können und gezielt unangenehme Kontexte meiden und angenehme Kontexte aufsuchen können.

Ein weiteres Moment, das das Tastsinnessystem so existentiell wichtig macht, besteht in dem Umstand, daß es anders als die anderen Sinnesleistungen für unser Überleben unverzichtbar ist. Alle klassischen Sinne, Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, können ausfallen, ohne unsere Existenz zu gefährden. Für das Tastsinnessystem gilt das nicht:
„Die Wahrnehmungssinne, die mit dem Hören, dem Sehen, dem Riechen und dem Schmecken verbunden sind, stellen im biologischen Sinn praktikable ‚Angebote‘ dar, die zur Interpretation von Umweltereignissen und Umwelteigenschaften genutzt werden können Sie sind fakultative Hilfsmittel und erleichtern unseren individuellen Lern- und Anpassungsprozess an die uns umgebende dreidimensionale Umwelt. Sie sind überhaus nützlich und dienen auch dem sozialen Austausch, aber sie stellen bei Verlust oder Schädigung – sofern wir in sozialen Umwelten leben, die diese sensorisch-analytischen Mängel kompensieren können – eben nicht das Überleben infrage.“ (Grunwald 2017, S.22)
An dieser Stelle fällt auf, daß sich Grunwald – anders als Plessner – nicht für die verschiedenen ‚Angebote‘ der übrigen Sinnesbereiche und ihre Funktion für das Überleben wie für unser Bewußtsein interessiert. Grunwald fokussiert ausschließlich auf das Tastsinnessystem und seine Bedeutung für den Entwicklungsprozeß des Gesamtsinnessystems. Dabei berücksicht Grunwald verschiedene Entwicklungsebenen:
„Einige dieser Fragen betreffen den biologischen – den phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen – Ursprung unserer Tastsinnesfähigkeit. Andere die wundersame ontogenetische Gebundenheit der menschlichen Existenz an die Erfahrungen einer körperlichen Interaktion und Stimulation.“ (Grunwald 2017, S.20)
Grunwald berücksichtigt also wie Plessner den Menschen auf allen Entwicklungsebenen seiner Existenz, mit dem Fokus auf das Tastsinnessystem.

Zum fundamentalen Beitrag des Tastsinnessystems zum Menschen als Einheit aus Geist und Körper gehört die Ermöglichung eines ersten, auf den Körper gerichteten „Ichbewußtseins“:
„Über diese Art einer grundsätzlichen Erkenntnis der eigenen Existenz verfügen wir – und wahrscheinlich auch jedes andere Lebewesen – selbst dann, wenn wir blind und taub geboren werden. Vor und nach unserer Geburt ist dieses lebenswichtige Grundwissen dank des Tastsinnessystems in uns verankert, alle übrigen Sinne haben an dieser Form der Gewahrwerdung nur einen fakultativen Anteil.“ (Grunwald 2017, S.45)
Zu diesem Ichbewußtsein gehört das schon in der vorgeburtlichen Entwicklung grundgelegte Körperschema (vgl. Grunwald 2017, S.42f.), das erste Fähigkeiten wie das Daumennuckeln und das damit einhergehende Training der für den Saugreflex unverzichtbaren Muskeln ermöglicht, ohne das der Säugling nach der Geburt verhungern würde (vgl. Grundwald 2017, S.28f.). Ohne ein solches Körperschema würde der Daumen seinen Weg zum Mund nicht finden und die Saugmuskulatur bliebe untrainiert.

Die Bedeutung des Körperschemas wird bei verschiedenen Störungen dieses Schemas deutlich. Interessant ist hier insbesondere die Magersucht, die Grunwald in seinem Leipziger Haptik-Labor experimentell mit Hilfe eines Neoprenanzugs zu behandeln versuchte. (Vgl. Grunwald 2017, S.207ff.) Er ließ einer 19-jährigen Patientin einen Neoprenanzug maßschneidern, den sie dreimal täglich je eine Stunde tragen sollte. Sie trug den Anzug 15 Wochen und beendete dann den Behandlungsversuch auf eigenen Wunsch, weil sie sich als geheilt betrachtete:
„In der Tat hatte die Patientin innerhalb der 15-wöchigen Tragephase 2,5 Kilogramm zugenommen.“ (Grunwald 2017, S.208)
Grunwalds These war, daß der Neoprenanzug das Tastsinnessystem der Patientin ganzkörperlich angeregt hatte und so dem Gehirn auf einer unbewußten Ebene laufend Informationen über den tatsächlichen Zustand ihres Körpers lieferte. Das führte zu einer zeitlich befristeten Korrektur des gestörten Körperschemas und aktivierte das Hungergefühl und die Lust am Essen. Diese Korrektur hielt zwei Monate nach Beendigung des Therapieversuchs an, ging dann aber wieder verloren. (Vgl. Grunwald 2017, S.209)

Ich finde dieses Experiment mit dem Neoprenanzug deshalb so interessant, weil es ein Stadium in der vorgeburtlichen Entwicklung gibt, wo dem Fötus auf dem ganzen Körper Haare wachsen: die sogenannte Lanugobehaarung, die von manchen Wissenschaftlern als evolutionärer Überrest aus der Zeit, als unsere Vorfahren noch ein Fell getragen hatten, gedeutet wird. (Vgl. Grunwald 2017, S.29ff.) Ganz anders Grunwald. Ihm zufolge bildet die Lanugobehaarung ein empfindliches, auf Bewegungen der Mutter und der Uterusflüssigkeit reagierendes Sensorium, das das Gehirn in der reizarmen Umgebung dieser Lebensphase mit den für die Entwicklung des Fötus unverzichtbaren Umweltreizen versorgt
„... nach Ansicht verschiedener Wissenschaftler ist das fötale Wachstum direkt an die Stimulation durch die Bewegungen der Lanugohärchen gebunden.() Sie vermuten, dass die Impulssalven aus den Haarsensoren wichtige Hirnregionen (Hypothalamus, Inselkortex) erreichen und das parasympathische Nervensystem aktivieren. Diese neuronale Erregungskette im Gehirn löst die Ausschüttung des Wachstumshormons Oxytocin aus, das ab der 16. Schwangerschaftswoche im Hypothalamus von Föten nachgewiesen werden kann. Gleichzeitig führt die Erregung des Inselkortex wahrscheinlich zu ersten positiven Körperempfindungen des Fötus.“ (Grunwald 2017, S.30)
Vor dem Hintergrund des Experiments mit dem Neoprenanzug liegt hier noch eine andere Vermutung nahe, die von Grunwald aber nicht explizit angesprochen wird: wir könnten die ganzkörperliche Lanugobehaarung auch als eine Art Neoprenanzug verstehen, der zur Bildung eines ersten rudimentären Körperschemas beiträgt.

Im Gesamtverbund der verschiedenen Sinnessysteme bildet der Tastsinn aber nicht nur eine erste und in Form eines fortwährenden Hintergrundrauschens unverzichtbare Grundlage unserer Existenz. (Vgl. Grunwald 2017, S.10 und S.97f.) Wenn er, wie Grunwald schreibt, den Geist unseres Körper zusammenhält, so auch deshalb, weil das Gesamtsinnessystem ‚multimodal‘ mit dem Tastsinnessystem zusammenarbeiten muß, damit elementare Leistungen wie Sehen und Hören und sogar das Sprechenlernen überhaupt erst möglich werden. Beim Hören ist das schon auf rein sinnesphysiologischer Ebene der Fall, denn in gewisser Weise bildet das Gehör einen Teil des Tastsinnessystems. Grunwald zufolge hat sich „die Natur“ beim Gehör am „Grundprinzip der Tastsinneswahrnehmung“ orientiert: die Schallwellen werden über kleine „Haarzellen innerhalb des Cortischen Organs in der Basilarmembran des Ohres“ aufgenommen. Haare bilden aber generell einen wichtigen Bestandteil des Tastsinnessystems. Kleiner Hinweis an die Damen: die Entfernung der Beinbehaarung führt zu einer Einschränkung der Berührungsempfindlichkeit der Haut. Was das Gehör betrifft, konstatiert Grunwald:
„Vor diesem Hintergrund ist das Hören eine spezialisierte und auf eine bestimmte Körperregion begrenzte Form der Tastsinneswahrnehmung.“ (Grunwald 2017, S.32)
Was das Sehen betrifft, lernen wir unsere Umwelt allererst über Berührungskontakte mit den uns umgebenden Gegenständen kennen. Kleine Kinder erkennen Gegenstände auf einem Bild leichter, wenn sie sie vorher in der Hand (oder im Mund) gehabt haben. Grunwald bezeichnet das als „multimodalen Transfer“:
„Diese Prozesse sind zum Beispiel dafür verantwortlich, dass im Experiment ein Säugling von drei Monaten einen Gegenstand, den er nur ertasten, aber nicht sehen kann, später auf einem Bildschirm länger betrachtet als solche, die nicht vorher in seiner Hand waren. Die ertasteten Eigenschaften werden sofort auf die Ebene einer anderen Sinnesmodalität – des Sehsinns – transferiert, sodass der Säugling späterhin seine visuelle Aufmerksamkeit auf etwas richten kann, was er vorab fühlen konnte.()“ (Grunwald 2017, S.80)
Dieser zeitliche Vorrang des Tastsinns, erst das Tastsinneserlebnis, dann das Sehen, gilt auch für das Erlernen der Sprache. Erst wenn kleine Kinder ihre Umgebung tastend und greifend ausgiebig erkundet haben, können sie den Gegenständen, die sie ertastet haben, vorrangig zunächst Teile des eigenen Körpers, auch Namen geben. Es gibt also eine unverzichtbare „Verbindung zwischen Tastsinneserfahrung und Spracherwerb“:
„Damit diese Prozesse des Spracherwerbs stattfinden können, müssen die Objekte der äußeren Welt eine Bedeutung für das Kind erhalten, und diese Bedeutungen sind zu Beginn der Sprachentwicklung durchweg körperlicher Natur.“ (Grunwald 2017, S.91)
Dieser bemerkenswerte Umstand führt Grunwald zu einer Kritik hinsichtlich der naiven Verwendung digitaler Technologien schon in der Erziehung von kleinen Kindern, die an entsprechende Warnungen von Matthew Crawford erinnert. (Vgl. meinen Blogpost vom 15.01.2017) Gunwald zufolge behindert es die Sprachentwicklung von Kindern, wenn man sie schon im Kleinkindalter mit digitalen ‚Lesebüchern‘ in Form von tablets versorgt. (Vgl. Grunwals 2017, S.86ff.) Das Erkunden der physischen Umwelt ist ungleich mühsamer für das kleine Kind als die multimediale Berieselung mit Bildern und Geräuscheffekten über ein tablet. In Verbund mit dem Vorbild der Erwachsenen, die mit entsprechenden Geräten Umgang haben und ihnen ihre Aufmerksamkeit zuwenden, prägt das auch die Präferenzen des kleinen Kindes und – behindert seine Sprachentwicklung:
„Aus biologischer Perspektive ist selbst das ‚Nichtstun‘ eines gelangweilten und nörgelnden, mit sich selbst unzufriedenen Kindes in seiner kognitiven und emotionalen Komplexität reichhaltiger als jedes Touchpad-, Maus- oder Tastaturangebot ...“ (Grunwald 2017, S.87)
Grunwald weist darauf hin, daß nichts ‚Intelligentes‘ in der Fähigkeit des kleinen Kindes liegt, mit dem Finger über ein touchpad zu wischen. Das, so Grunwald, können auch Schimpansen. In der Entwicklung wird es auch nicht zurückbleiben, wenn ihm solche digitalen Erlebnisse versagt werden, denn „selbst hochbetagte Menschen ohne Vorerfahrungen (sind) in der Lage ..., Touchpad-Funktionen zu verstehen und zu nutzen“. (Vgl. Grunwald 2017, S.89)

Es gibt kein entwicklungsspezifisches Zeitfenster für das Erlernen von Medienkompetenz. Für das Sprechenlernen hingegen schon.

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