„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 5. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

Die von Herrmann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb gegründeten Landerziehungsheime „waren private Unternehmungen, die finanziert werden mußten und nicht von der pädagogischen Idee leben konnten“. (Vgl. Oelkers 2011, S.9) Aber die Gründer waren nicht nur pädagogisch und didaktisch Nieten; sie waren es auch ökonomisch.

Sogar Paul Geheeb, der über seine Frau Edith, der Tochter des wohlhabenden Unternehmers Max Cassirer (1857-1943), finanziell abgesichert war, gelang es nicht, seinen Schulbetrieb finanziell zu konsolidieren. Im „Sonnmer 1919“, schreibt Oelkers, hatte die Odenwaldschule „72 erwachsene Mitglieder bei damals 90 zahlenden Schülern“. (Vgl. Oelkers 2011, S.162) Für diese Mitarbeiter mußte ein jährliches Budget sichergestellt werden, das nur über die Kundennachfrage gewährleistet war. Wie alle Landerziehungsheime war auch die „Odenwaldschule“ mit ihren hohen Schulgebühren eine „Reichenschule“, die sich nur finanziell gut ausgestattete Eltern leisten konnten. (Vgl. Oekers 2011, S.157)

Es kam zu ständigen Konflikten zwischen Paul Geheeb und den Eltern, die ihm Geld schuldig blieben oder auf einen sparsameren und effektiveren Umgang mit Ressourcen und Ausstattung drangen:
„Zahllose Mahnschreiben mussten verfasst werden, die oft empörte Reaktionen auslösten und die zeigen, wie angespannt das Verhältnis zwischen Schulleitung und Eltern gewesen ist.“ (Oelkers 2011, S.163)
Bei den anderen Gründern war es ähnlich. Auch Lietz hatte mit zahlungsunwilligen Eltern zu tun, blieb aber selbst in der Anfangszeit seinen Gläubigern die Begleichung von Rechnungen schuldig. Mahnschreiben wurden von ihm oft einfach nicht geöffnet:
„Allerdings war die finanzielle Basis besonders am Anfang desolat, was auch damit zu tun hatte, dass es eine geordnete Buchführung ebenso wenig gab wie eine wirtschaftliche Leitung der drei Heime. Lietz war damit überfordert und hat sich für diese Seite seiner Schulleitung nicht interessiert. Er ließ Gläubigerbriefe ungeöffnet und verlor die Übersicht über seine finanzielle Lage, auch weil er jahrelang keinen Buchhalter anstellte, und dies weniger aus Gründen der Sparsamkeit, sondern ‚weil er niemand in seine Angelegenheiten hineinblicken lassen wollte‘ ... .“ (Oelkers 2011, S.173)
Insbesondere der Schlußsatz in diesem Zitat ist bezeichnend für das ökonomische Verhalten der Gründer: sie verweigerten sich einer effizienteren Schulverwaltung unter anderem auch deswegen, weil das ihre eigene Leitungstätigkeit einer externen Kontrolle unterworfen hätte. Solange niemand Einblick in ihre finanzielle Lage hatte, konnten sie auch in den anderen, spezifisch pädagogischen Bereichen ihres Internatsbetriebs schalten und walten, wie sie wollten.

Für die Lehrer bedeutete das, daß sie trotz des immens hohen Schulgelds unterbezahlt waren. Bei Hermann Lietz wurden sie in der Anfangszeit manchmal sogar überhaupt nicht bezahlt:
„Bereits Hermann Lietz bezahlte seine Lehrkräfte unter Tarif, wobei es lange dauerte, bis in seinen Landerziehungsheimen überhaupt eine Besoldungsstruktur festgelegt war. Zuvor wurde nach Gutsherrenart bezahlt, mit unregelmäßigen Zuwendungen und nicht mit festgelegten Löhnen.“ (Oelkers 2011, S.168)
Viele pädagogische Mitarbeiter teilten die hohen humanistischen Ideale der Reformpädagogik und waren deshalb bereit, ihre Arbeitskraft für eine Übergangszeit kostenlos zur Verfügung zu stellen, eine Selbstausbeutungsbereitschaft, die die Gründer der Landerziehungsheime ganz bewußt einkalkulierten. (Vgl. Oelkers 2011, S.160f.) Aber es wurden auch immer wieder „Lehrkräfte ohne staatliches Examen“ eingestellt, „die dann aus der Besoldungsstruktur herausfielen und wesentlich weniger Lohn erhielten“. (Vgl. Oelkers 2011, S.168f.)

Die Folge war eine hohe Fluktuationsrate unter den Lehrkräften: „... die meisten gingen, wenn sie eine staatliche Stelle fanden und galten dann schnell als Verräter.“ (Oelkers 2011, S.168)

Auch unter der Schülerschaft gab es eine hohe Fluktuationsrate. Die Landerziehungsheime waren keineswegs die Eliteschulen, als die ihre Gründer sie nach außen hin darstellten. Tatsächlich waren nur die Eltern mit dem nötigen Kleingeld bereit, ihre Kinder in ein Landerziehungsheim zu schicken, die alle anderen Möglichkeiten, ihnen einen Schulabschluß zu ermöglichen, schon ausgeschöpft hatten:
„... gewählt wurden die Schulen nicht primär wegen ihres Konzepts, sondern fast immer aus persönlichen Notlagen heraus.“ (Oelkers 2011, S.9)
Zunächst waren es insbesondere die Jungen, die für ihr berufliches Fortkommen auf das Abitur angewiesen waren:
„Die Kunden von Hermann Lietz waren oft Eltern, deren Söhne mit mehr oder weniger starken Schulproblemen zu tun hatten und die unbedingt einen Abschluss – möglichst das Abitur – erreichen sollten. ... Jungen aus bürgerlichen Familien hatten ohne Abitur keine Chancen, die geplante Karriere zu machen; dieser Zwang schuf neben medizinischen Gründen oder Problemen in den Familien die Nachfrage für Landerziehungsheime.“ (Oelkers 2011, S.77)
Später kamen mit der Öffnung des Bildungswesens auch Mädchen dazu, und die Landerziehungsheime stellten auf Koedukation um.

Ein großer Teil der Klientel bestand also aus schulmüden Kindern, die zudem oft nicht lange blieben. Oelkers spricht von einer hohen „Drop-Out-Quote“ in der Schülerschaft. (Vgl. Oelkers 2011, S.20) Oft mußten Schüler, die aufgrund ihrer bisherigen Schulkarriere einfach nicht mehr beschulbar oder integrierbar waren, entlassen werden. Verbunden mit dem ständigen Kommen und Gehen von Lehrkräften während eines Schuljahres ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich die hohe Fluktuationsrate auf beiden Seiten auf die Unterrichtsqualität auswirkte:
„Die Kluft der Leistungen zu den normalen Abiturienten war zu groß, was auch mit der schlechten Unterrichtsqualität in den Landerziehungsheimen zu tun hatte. Angesichts der ständigen Wechsel in der Lehrerschaft war es ausgeschlossen, den Unterricht zu verbessern, denn immer neue Lehrer mussten eingearbeitet werden und verließen die Schule schnell wieder.“ (Oelkers 2011, S.82f.)
Alles das schadete dem Ruf der Landerziehungsheime erstaunlicherweise nicht. Zwar gab es eine verbreitete Unzufriedenheit unter den Eltern, aber das betraf immer nur einzelne isoliert bleibende Fälle. Sie hielten entweder bis zum Ende durch, in der Hoffnung, daß ihr Kind das Abitur schaffen würde, oder sie nahmen es enttäuscht von der Schule und wandten sich von ihr ab. Ansonsten sorgte das selektive deutsche Bildungssystem dafür, daß die Landerziehungsheime immer wieder neue Kunden fanden, die sich in ihrer Not an sie wandten. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit nahm nur die glänzenden Broschüren mit Bildern von Schülern wahr, die Holzhütten bauten, handwerklichen Tätigkeiten nachgingen, sich musisch bildeten, wanderten und die Natur entdeckten und ihre Mußezeit für die Befriedigung ihrer Lernbedürfnisse nutzten:
„Solche Bilddokumente zeigen allerdings nicht die täglich erlebte Praxis, sondern nur das, was im besten Licht erscheinen soll, nämlich die Schule als Erziehungsgemeinschaft. Mit den Bildern sollten die Kunden gewonnen werden.“ (Oelkers 2011, S.81)
Im folgenden und letzten Blogpost werde ich mich deshalb nochmal mit der gesellschaftlichen Verantwortung für die Bildung der nachwachsenden Generationen befassen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen