„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Noli excrementum tangere!

Hegels Dialektik, insbesondere der besondere ‚spekulative‘ Dreh einer rückwirkenden Versöhnung mit vergangenen individuellen wie gesellschaftlichen Ereignissen funktioniert nur, weil wir es hier nur mit Bewußtseinsphänomenen zu tun haben. Das gilt so auch noch für Karl Marx, der das Bewußtsein durch das Sein bestimmt sein lassen wollte, dabei aber das ‚Sein‘ – trotz des ganzen Materialismusgeredes – nicht als etwas dem gesellschaftlichen Bewußtsein Äußerliches konzipierte, sondern mit der Ökonomie, der gesellschaftlichen Produktionsweise gleichsetzte. Auch in Žižeks Buch ist nur von solchen gesellschaftlichen Bewußtseinsphänomenen die Rede, vom Klassenkampf, vom Stalinismus und überhaupt von der symbolischen Ordnung. (Vgl. Žižek 2018, S.125f.)

Žižek läßt keinen Zweifel daran, daß ihn eine Grenze nach außen, zur sinnlichen Welt, nicht interessiert. Die symbolische Ordnung ist nur in sich selbst begrenzt, als innersymbolische Differenz, A ist ungleich B und B ist ungleich A; eine Differenz, die, so Žižek, als „differenzielle(r) Charakter() sprachlicher Bezeichnungen“ das „ontologische() Primat“ gegenüber anderen bedeutungsstiftenden Mechanismen der Sprache hat. (Vgl. Žižek 2018, S.221) Der referentielle Charakter von Wörtern, also der Verweis auf etwas, was selbst kein Wort ist, wird von Žižek an dieser Stelle noch nicht einmal erwähnt.

Trotzdem gelingen Žižek gerade auf der Ebene individueller Sinnstiftung Beschreibungen subjektiver Selbstermächtigung, die an Plessners exzentrische Positionalität erinnern. Mit Bezug auf Adam Phillips, einem britischen Psychotherapeuten, beschreibt Žižek die Psychoanalyse als eine Methode zur Befreiung des subjektiven Begehrens aus seinen gesellschaftlichen Zwängen. (Vgl. Žižek 2018, S.249ff.) Demnach geht es in der Psychoanalyse nicht um Heilung, wie es Kritiker ihr immer wieder vorwarfen, mit Verweis auf die fehlende klinische Nachweisbarkeit von angeblichen Heilungserfolgen. Immer wieder wurde der Psychoanalyse Scharlatanerie vorgeworfen.

Adam Phillips hält dagegen, daß es in der Psychoanalyse vor allem um zwei Dinge geht: „das eigene Begehren zurückzugewinnen und zu verstehen, dass es nötig ist, sich nicht zu kennen“. (Vgl. Žižek 2018, S.249) – Helmuth Plessner hätte diesen Satz ohne weiteres mit seiner Anthropologie vereinbaren können. Der Mensch, der „ins Nichts“ gestellt ist (vgl. „Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.316), ist mit sich selbst zerfallen (vgl. ebenda, S.321). Er weiß von sich selbst nicht, „ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol“. (Vgl. ebenda, S.298f.)

Sein Begehren zurückgewinnen zu wollen, ist also letztlich eine vergebliche Aufgabe, und darum geht es bei Phillips’ zweitem Punkt: „es ist nötig, sich nicht zu kennen“. Es geht darum, so Žižek, „dass der Patient sich von dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis befreit und so zum Handeln ohne Selbsterkenntnis befähigt wird“. (Vgl. Žižek 2018, S.249) – Um nichts anderes, um „Handeln ohne Selbsterkenntnis“, geht es auch bei dem, was Plessner mit Friedrich Nietzsche als zweite Naivität bezeichnet. (Vgl. „Die verspätete Nation“ (1959/1935), S.174) Wenn wir in Folge einer Lebenskrise (oder eben aufgrund einer Psychoanalyse) unsere erste Naivität verlieren und erkennen müssen, daß wir nicht das sind, was wir dachten, daß wir seien, geht es nun darum, nicht gleich wieder an eine neue Identität zu glauben, was nur ein Rückfall in die Naivität wäre, sondern zu lernen, so zu leben, als wären wir wir selbst, ohne es zu glauben. Wir müssen, wie Žižek schreibt, unserer inneren Leere gegenüber offen bleiben. (Vgl. Žižek 2018, S.251)

Genau diese Selbstpositionierung uns selbst und der Welt gegenüber bezeichnet Plessner als exzentrische Positionalität. Sie ermöglicht eine zweite Naivität. Hier zeigt sich, wie eng Žižeks Überlegungen an Plessners Anthropologie heranreichen. Um so wichtiger ist es deshalb, auf die fundamentalen Unterschiede hinzuweisen.

Plessners exzentrische Positionalität geht ähnlich wie Žižeks Subjekt aus einem Bruch hervor. Plessner spricht von einem „Hiatus“, Žižek von einer „Lücke“ und auch schon mal von einer „Kluft“. (Vgl. Žižek 2018, S.36) Aber bei Žižek öffnet sich diese Lücke innerhalb der symbolischen Ordnung, nämlich als Differenzsystem von Signifikanten, deren Bedeutungen durch den Unterschied zwischen ihnen gestiftet werden. ‚Frau‘ und ‚Mann‘ unterscheiden sich nicht körperlich-biologisch oder gesellschaftlich-funktional (im Sinne von Gender) voneinander, sondern dadurch, daß die Frau nicht Mann und der Mann nicht Frau ist, so daß sich zwischen ihnen eine Lücke öffnet, die beide mit einem „Phantasma“ voneinander füllen.

Bei Plessner hingegen öffnet sich der Hiatus nicht zwischen einer Reihe von Signifikanten, sondern zwischen uns und der Welt, zwischen Innen und Außen, wenn unser Begehren sich nicht erfüllt. Aus dem unerfüllten Begehren geht die exzentrische Positionalität hervor, die es uns ermöglicht, auf der Grenze zwischen Innen und Außen zu verharren und uns zu beidem ‚neutral‘ zu verhalten. Wir sind unserem Begehren nicht mehr ausgeliefert.

Eine weitere Konsequenz betrifft die Expressivität: unser Sagen (Außen) und Meinen (Innen) kommen nicht mehr zur Deckung, und zwar so fundamental, daß dieser Umstand geradezu zum bedeutungsstiftenden Moment wird. Was wir sagen, hat nur insofern eine Bedeutung, als das, was wir meinen, nicht darin aufgeht. Unser Begehren wird zur ‚Seele‘, zu einem „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut (vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924), S.32) und das sich aus den gesprochenen Worten zurückzieht, aus Furcht, durchschaut zu werden. Sie bildet ein „Noli me tangere“, ein „Berühr-mich-nicht“. (Vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924), S.65)

Während bei Plessner also die exzentrische Positionalität eine Neutralität beinhaltet, insbesondere gegenüber unserem eigenen Körper, der sowohl ein Außenweltobjekt (Körper) als auch ein Innenweltsubjekt (Leib) ist, also ein Körperleib, wird von Žižek die Außenwelt dämonisiert. Das Subjekt ist ein „unmögliches Objekt, das in seinem ganzen Sein eine Verkörperung seiner eigenen Unmöglichkeit darstellt“. (Vgl. Žižek 2018, S.57) Žižeks Subjekt ist zu keiner Neutralität seiner doppelten Erscheinungsweise gegenüber fähig. Es muß seinen Körper ‚abstoßen‘, es zu einem Abjekt machen, vor dem es sich dann nur noch ekeln kann. (Vgl. Žižek 2018, S.190ff.)

Plessners Seele verwandelt sich also in Žižeks Ekel, und an die Stelle von Plessners Expressivität treten Exkremente, deren Wesen darin besteht, nur noch negativ, als Gestank, auf die Grenze zwischen Innen und Außen verweisen zu können:
„Das Leben ist eine ekelerregende Sache, ein schäbiges Ding, das aus sich selbst herausdrängt, feuchte Wärme absondert, kriecht, stinkt, wächst. Die Geburt eines Menschen ist selbst ein alienartiges Ereignis, ein ungeheuerliches, monströses Geschehen, bei dem ein großer, dummer, haariger Körper aus dem Inneren eines Leibes hervorbricht und herumkriecht.“ (Žižek 2018, S.192)
Wo Plessner die Seele als „Noli me tangere!“ faßt, besteht Žižeks Ekel nur noch aus einem „Berühr das Unberührbare nicht!“. Hygiene und Allergie treten an die Stelle der Expressivität.

In dem Buch „Die Illusion der Gewissheit“ (2018), dessen Besprechung ich für Anfang Januar geplant habe, bezieht sich Siri Hustvedt auf ganz ähnliche Phantasien von Richard Dawkins:
„In ‚Der blinde Uhrmacher‘ (1987) legt Dawkins seine Grundannahmen offen. In der für ihn charakteristischen Deutlichkeit schreibt er: ‚Wenn wir das Leben verstehen wollen, so dürfen wir nicht an vibrierende, pochende Gele und Schlamme denken, sondern an Informationstechniken.‘()“ (Hustvedt 2018, S.183)
Siri Hustvedt verbindet die in dieser Textstelle zum Ausdruck kommende Geringschätzung organischen Lebens mit der Geringschätzung Frauen gegenüber und der Ablehnung der Vorstellung, dieses „Leben beginne ... im Körper einer Frau“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.183f.) Die ‚trockene‘, sterile Informationsverarbeitungsmaschinerie soll den feuchten, ‚schmutzigen‘ Stoffwechselprozessen überlegen sein. Hustvedt hält dagegen, und sie übertrifft mit ihrer Eloquenz sogar Žižeks brutalste Männerphantasien und entlarvt sie gleichzeitig auf diese Weise:
„Der Mensch aus Fleisch und Blut ist nicht trocken, sondern feucht. Mir scheint, dass Dawkins’ ‚pochende Gele und Schlamme‘ Platzhalter für den feuchten, lebendigen Embryo oder den ganzen biologischen, stofflichen Körper sind. Mit dieser Umschreibung will er sich alles Feuchte und die enorme Komplexität der Embryonalentwicklung, die ‚näher zu betrachten‘ er ausdrücklich ablehnt, vom Leib halten. Das Computerparadigma des Geistes ... ‚trocknet‘ ihn aus auf handliche algorithmische Formeln. ... Wir Menschentiere nehmen die Welt auf verschiedene Weise in uns auf, beim Essen, Kauen und Atmen. Wir nehmen sie mit den Augen, den Ohren, der Nase auf, und wir schmecken sie auf der Zunge und spüren ihre Beschaffenheit auf unserer Haut. Wir urinieren und defäkieren und erbrechen uns, und wir weinen und spucken und schwitzen und menstruieren, produzieren Milch und Sperma, scheiden Vaginalsekrete aus und Rotz. ... Wir küssen und dringen auf vielerlei erotische Weisen in andere Menschen ein, wir kopulieren, und aus manchen körperlichen Verschlingungen entstehen Kinder. Und wenn eine Frau ein Kind gebiert, stößt sie es aus ihrem Körper heraus. Das Neugeborene tritt mit Blut und anderen Flüssigkeiten beschmiert in die Welt ein. .... Unser organischer Körper verwest, löst sich auf und verschwindet dann aus der Welt.“ (Hustvedt 2018, S.280f.)
Hustvedt bringt es auf den Punkt: Alle Vergleiche biologischer Organismen mit Informationstechniken und Informationsverarbeitung täuschen nur darüber hinweg, daß das Leben seinen Ursprung im Körper einer Frau hat!

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Dienstag, 4. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Zum Kreis der Denker, auf die sich Slavoj Žižek beruft, gehören neben Hegel, Freud und Heidegger auch Julia Kristeva (*1941) und Jacques Lacan (1901-1981). Žižek zufolge entspricht die von Lacan beschriebene Differenz zwischen dem Realen und der Realität Heideggers „ontologischer Differenz“. (Vgl. Žižek 2018, S.29) Was genau das Reale bzw. die Realität ist, wird von Žižek nicht definiert, sondern von den Lesern wird erwartet, daß sie diese Begriffe kennen. Entsprechend dem Gebrauch, den Žižek von ihnen macht, haben wir es bei dem Begriff der Realität mit einer Erfahrungsebene zu tun, die die Phänomenologen als „Lebenswelt“ bezeichnen. Die Realität, in der die Dinge „schlicht und einfach“ sind, „was sie zu sein scheinen“ (vgl. Žižek 2018, S.125), bildet Žižek zufolge ein „imaginäre(s) Gemisch von zurückliegenden Ereignissen und früheren Bewertungen“ (vgl. Žižek 2018, S.304).

Das Reale hingegen besteht aus allem, was in dieser Realität nicht aufgeht, also aus dem ganzen „Rest“. (Vgl. Žižek 2018, S.36) Mit Verweis auf Julia Kristevas „Abjektion“ läßt Žižek das Reale zwischen einem krakenartigen Geschichtsdämon, der unberechenbar die Meeresoberfläche oder die Erdkruste durchbricht und machtvolle Imperien zusammenbrechen läßt, und dem Elend der Geburt als Abscheidung des Kindes vom Mutterleib changieren. (Vgl. Žižek 2018, S.9, 12, 203f.) Für den ontologischen Status dieses Realen findet Žižek drastische Worte: der in der lebensweltlichen ‚Realität‘ nicht aufgehende ‚Rest‘ bildet „ein überschüssiges exkrementelles Element ohne Wert“, vergleichbar den Unberührbaren im indischen Kastensystem. (Vgl. Žižek 2018, S.22) Ein krasses Bild: Ausscheidungen, Sekrete, Geburten und gesellschaftliche Stratifizierung – alles dieselbe ontologische Kategorie! Sogar Christus ist nur eine Abstoßung Gottes von sich selbst. (Vgl. Žižek 2018, S.16)

Anders als bei den universellen Menschenrechten geht es hier nicht darum, die Unberührbaren den anderen Menschen gleichzustellen, sondern darum, „den exkrementellen Status zu verallgemeinern und auf die ganze Menschheit auszudehnen“. (Vgl. Žižek 2018, S.23) Mit anderen Worten: Die Orientierung nach oben, also die Anerkennung der Würde aller Menschen, wird durch eine Orientierung nach unten ersetzt. Niemand ist würdig, weil die Würde selbst verdächtig und im exkrementellen Sinne ‚anrüchig‘ ist.

Das Verhältnis zwischen dem Realen und der Realität bestimmt Žižek im Sinne der ontologischen Differenz als ein Wahrheitsverhältnis, und die Wahrheit befindet sich nicht auf Seiten der Realität, sondern auf Seiten des Realen. Das Reale bildet die „innere Wahrheit“ der „elenden Realität“. (Vgl. Žižek 2018, S.121)

Aus zwei Gründen haben wir es hier trotz der aufgezählten Parallelen zwischen Lacan/Žižeks ‚Realität‘ und der Lebenswelt mit dem Gegenteil einer Phänomenologie zu tun. Aus allgemein phänomenologischer Sicht gibt es weder eine Grenze der Lebenswelt, in dem Sinne, daß sie nicht ‚umfassend‘ genug sei, um alles zu beinhalten, noch gibt es eine innere Wahrheit, auf die die Lebenswelt zurückgeführt werden könnte. Die Lebenswelt ist allumfassend und weder wahr noch falsch. Sie kann zusammenbrechen, aber aus dem Zusammenbruch geht keine Wahrheit hervor.

Der zweite Grund, warum Lacan/Žižeks Realitätsbegriff und die Phänomenologie, um es mit Žižeks Worten zu sagen, ‚disparat‘ zueinander sind, hat mit Helmuth Plessner zu tun und besteht darin, daß Žižek zufolge mit der Realität keine Grenze zwischen Innen und Außen gezogen wird. (Vgl. Žižek 2018, S.203) Die Realität bei Lacan/Žižek bildet nur ein Epiphänomen der symbolischen Ordnung, „welche kein Außen hat (sobald wir in ihr wohnen), weil sie sich immer selbst voraussetzt“. (Vgl. Žižek 2018, 337)

Das menschliche Bewußtsein bzw. die symbolische Ordnung – denn letztlich deckt die symbolische Ordnung bei Lacan/Žižek alles ab, was das menschliche Bewußtsein ausmacht – konstituiert sich also nicht auf der Grenze zwischen Innen und Außen, wie bei Helmuth Plessner, sondern als Sprache, und die ist, sobald sie einmal da ist, immer schon dagewesen. (Vgl. Žižek 2018, S.338) Es gibt kein vorsprachliches Bewußtsein.

Das ist nicht nur im phänomenologischen Sinne nicht akzeptabel. Es stimmt auch etwas mit dieser „selbstbezüglich(en) Totalität“ (Žižek 2018, S.338) der symbolischen Ordnung nicht. In den Momenten, wo sich das Innere nach außen kehrt und das Reale in Form von Exkrementen, eiternden Wunden und anderen Sekreten sichtbar wird, reagieren wir darauf mit Ekel. (Vgl. Žižek 2018, S.190ff.) Dieser Ekel ist die einzige Form, in der Žižek den menschlichen Körper thematisiert. Als Basis und Ort von Bewußtseinserlebnissen kommt er bei ihm nicht vor. Dennoch schimmert gerade hier, im Ekel, etwas bei Žižek durch, ein seelisches Bedürfnis, das wir bereits von Plessner kennen und mit dem ich mich im nächsten und letzten Blogpost befassen will.

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Montag, 3. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Slavoj Žižek wirft dem Humanismus vor, an die Stelle des Menschen ein falsches Allgemeines zu setzen, das die meisten Menschen aussortiert und nur den weißen Mann als Modellmenschen fokussiert:
„Weder der Humanismusgedanke noch die Subjektvorstellung sind ein richtiges Allgemeines. Die von ihnen aufrechterhaltene Form des allgemeinen menschlichen Subjekts nämlich stützt sich auf eine versteckte Norm (die Bevorzugung des westlichen weißen Mannes) und schließt damit andere aus, die ihrem unausgesprochenen Einheitsmodell nicht entsprechen (Frauen, Menschen anderer Hautfarbe und so weiter).“ (Žižek 2018, S.36f.)
Mit dem Begriff des Humanismus ist aber, zumindest nach meiner Auffassung, untrennbar auch irgendeine Vorstellung von Humanität verbunden. Antihumanismen aller Art – Žižek zählt hier vor allem „Posthumanismus“, „Transhumanismus“ und technologischen Antihumanismus auf; auch die Wissenschaft selbst ist Žižek zufolge posthuman (vgl. Žižek 2018, S.31, 37f.) – legen immer zugleich auch eine gewisse Menschenverachtung an den Tag. Žižek ist hier ambivalent. Man weiß nie so recht, ob er eher zur antihumanistischen Seite von Technologie und Wissenschaft neigt oder ob er sich um das Schicksal unserer „Identität als Menschen“ (Žižek 2018, S.38) sorgt. Tatsächlich scheint es Žižek vor allem um die „ontologische Differenz“ zu gehen, die er mit Heidegger für ‚bedroht‘ hält. (Vgl. Žižek 2018, S.29f.) Insofern es bei der ontologischen Differenz um die Differenz zwischen Sein und Seiendem bzw. mit Lacan um die Differenz zwischen Realem und Realität geht (vgl. Žižek 2018, S.29), sorgt sich Žižek zumindestens indirekt auch um den Menschen, da diese Differenz, als Differenz zwischen Innen und Außen, für den Menschen konstitutiv ist.

Ansonsten muß man aber festhalten, daß auch Žižek eine gewisse Verachtung für den Menschen an den Tag legt: Žižek verortet den Grund für den Posthumanismus der Wissenschaft in der Quantenphysik. Menschen sind einfach nicht imstande, die Quantenphysik zu verstehen, und das ist nach Žižeks Ansicht ein weiterer Grund dafür, daß der Humanismusgedanke ausgedient hat. (Žižek 2018, S.37) Er ist einfach zu begrenzt, um mit dem wissenschaftlichen Erkenntnissen mithalten zu können.

Tatsächlich ist Žižek sogar der Ansicht, daß Immanuel Kant (1724-1804) der „erste philosophische Antihumanist“ gewesen sei, weil er das menschliche Subjekt als „Leere der reinen Negativität“ konzipiert und von der empirischen menschlichen Person getrennt habe. (Vgl. Žižek 2018, S.37) Diese Ansicht ist, vorsichtig formuliert, gewagt. Aber auf der Grundlage dieser mutigen Vereinnahmung Kants für den Antihumanismus kann Žižek nun seine eigenen transhumanistischen Akzente setzen. Es fällt auf, wie Žižek überall, wo er die Begriffe des Subjekts und der Subjektivität thematisiert, sehr darauf achtet, sie als körperlose Entitäten darzustellen.

Das beginnt schon mit der dialektischen Methode des Gegenstoßes. Der erste Gegenstoß überhaupt, mit dem die Dialektik in sich selbst zu kreisen beginnt, ist die Abstoßung von allem Sinnlichen, das in der Folge keine Rolle mehr spielt. (Vgl. Žižek 2018, S.162) Wohin die Reise geht, zeigt sich insbesondere an der Stelle, wo Žižek sich auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse bezieht, „die sich nicht einfach als irrelevant abtun lassen“. (Vgl. Žižek 2018, S.34) Diese angeblichen Erkenntnisse belegen Žižeks Ansicht nach, daß die scheinbar körperlichen Erfahrungen lediglich Produkte bestimmter, lokalisierbarer Gehirnaktivitäten seien, weshalb die diesen Erkenntnissen zugrundeliegenden neurowissenschaftlichen Experimente „die für die Philosophie der Endlichkeit äußerst wichtige Vorstellung, dass wir irreduzibel ‚eingebettet‘ sind, (problematisieren)“. (Vgl. ebenda)

Mit solchen ‚Argumenten‘ – die sich mit dem Verweis auf irgendwelche Experimente begnügen und von der Autorität der öffentlich gehuldigten Neurowissenschaften profitieren – bereitet Žižek den Weg für die transhumanistische Vorstellung, daß irgendwann eine allgemeine KI die menschliche KI ersetzen könne und sogar menschliches Bewußtsein technologisch über den körperlichen Verfall hinaus verlängert werden könnte. Zwar meint Žižek, ausdrücklich vor einer solchen Vision warnen zu müssen, da sie „den eigentlichen Kern dessen, was es heißt, Mensch zu sein, buchstäblich aushöhlt“. (Vgl. Žižek 2018, S.39) Aber sein eigener Subjektbegriff enthält keine Momente, die dieser Vision Widerstand böten. Im Gegenteil unterstützt Žižeks zentrale These von der Substanzlosigkeit und der „unstofflichen Leere“ des Subjekts und der Subjektivität (vgl. Žižek 2018, S.99f.) transhumanistische Vorstellungen von der Substratlosigkeit des menschlichen Bewußtseins. (Vgl. meine Blogposts zu Max Tegmark vom 01.11.-05.11.2018)

Nichts spricht dagegen, daß ein menschliches Subjekt, das nicht wesensmäßig körperlich eingebettet sein muß, um als Subjekt zu funktionieren, und das als bloße Erscheinung „sich selbst autonomisiert und zu einem Akteur gegen ihre eigene Substanzialität wird“ (vgl. Žižek 2018, S.56), nicht genauso gut aus einem technologischen Konstrukt, wenn es nur komplex genug ist, emergieren könnte. Gegen eine derartige Nivellierung des Menschlichen auf Maschinenniveau erhebe ich Einspruch! Eine Philosophie, die der Menschlichkeit nicht in ihrer ganzen, also auch empirischen Fülle Raum zu geben vermag, hat kein Recht, einem Humanismus, der den Menschen nicht als Maschine zu denken vermag, vorzuwerfen, zu begrenzt zu sein.

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Sonntag, 2. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verschont Heidegger! Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Slavoj Žižek legt eine bedenkliche Neigung an den Tag, zwielichtigen Geistesgrößen einen Persilschein auszustellen und dafür andere mit makellosem Ruf mit großem verbalem Pomp von ihrem ehrbaren Sockel zu stoßen. Konkret handelt es sich hierbei, in dieser Reihenfolge, um Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Martin Heidegger (1889-1976) und Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805).

Hegels Wahnsinn: Ein Kapitel seines Buches hat die Überschrift „Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren“ (Žižek 2018, S.109ff.). Ich bin schon im vorangegangenen Blogpost auf Žižeks Sympathie für Wissensformen eingegangen, die für Menschen, die über einen ‚normalen‘ Verstand verfügen, unverständlich sind. Aus diesem Grund favorisiert Žižek z.B. auch die Quantenphysik gegenüber anderen, für unser modernes Leben nicht minder konstitutiven Fachgebieten. (Vgl. Žižek 2018, S.329ff.) So ist es für Hegel auch keineswegs von Nachteil, wenn Žižek ihn als „notorisch ‚schwierigen‘ Autor“ bezeichnet (vgl. Žižek 2018, S.110), was er sogar noch steigert, indem er von „Hegels Wahnsinn“ spricht (vgl. Žižek 2018, S.109f.).

Anstatt Hegel daraus einen Strick zu drehen, beharrt Žižek entgegen den Versuchen z.B. von Robert Brandem (2017), Hegel verständlicher zu machen, darauf, daß es gerade dieser „Wahnsinn“ sei, der die Wahrheit von Hegels Denken ausmache. Alle Normalisierungsversuche nehmen Hegel Žižek zufolge den letzten spekulativen Dreh, der Žižeks Ansicht nach darin besteht, daß es Hegel gar nicht um die Zukunft der Menschheitsentwicklung gehe, sondern um ihre Vergangenheit, nämlich um die Versöhnung mit ihr. (Vgl. Žižek 2018, S.110)

Heideggers Kriminalität: Ich bin auf Žižeks These schon im vorangegangenen Blogpost eingegangen und will es an dieser Stelle bei diesem Hinweis belassen. Daran, worum genau es Hegel ging oder nicht, liegt mir nichts. Was mich aber tatsächlich aufmerken läßt, ist Žižeks Versuch, Heidegger von jeglicher politischen Verantwortung für sein Philosophieren während des Nationalsozialismus (und danach) freizusprechen. Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift „Warum Heidegger nicht kriminalisiert werden sollte“. (Vgl. Žižek 2018, S.279ff.) Hegels Wahnsinn also soll unangetastet bleiben, Heidegger hingegen muß entkriminalisiert werden?

Mit ‚Kriminalisierung‘ ist die vermeintliche Skandalisierung der Heideggerschen Philosophie im Zuge der Publikation der ersten vier schwarzen Hefte, den privaten Notizen Heideggers „von 1931 bis in die frühen 1960er Jahre“ gemeint. „(A)ngeblich“, so Žižek, bezeugen diese Notizen „seinen Antisemitismus und ebenso seine anhaltende Treue dem Vorhaben der Nazis gegenüber“. (Vgl. Žižek 2018, S.280) Mit der rhetorischen Verwendung des Wortes „angeblich“ erweckt Žižek den Eindruck, daß an diesen Vorwürfen gegen Heidegger nichts dran sei. Tatsächlich leitet sie aber nur die Verharmlosung der folgenden von Žižek aufgelisteten Belege aus den Notizen und anderen Schriften Heideggers ein, aus denen eindeutig und unbestreitbar hervorgeht, daß wir es bei Heidegger mit einem ausgewachsenen und überzeugten Alt-Nazi und Antisemiten zu tun haben.

Letztlich muß auch diese Aufzählung der inzwischen allseits bekannten Textstellen als Teil von Žižeks Verharmlosungsstrategie verstanden werden; denn so erscheint Žižek als unabhängiger Beobachter, dessen abschließendes Urteil,
  • daß Heideggers Antisemitismus im Werkganzen „verhältnismäßig marginal“ sei (vgl. Žižek 2018, S.281),
  • „dass sich sein Gedankengebäude nicht auf irgendeinen nationalsozialistischen Kern reduzieren lässt“ (vgl. Žižek 2018, S.283)
  • und daß dieses Gedankengebäude „genuin ‚unentscheidbar‘“ sei „und ... mithin unterschiedliche Lesarten zu(lässt)“ (vgl. ebenda),
einen seriösen und plausiblen Eindruck vermittelt.

Worum genau aber handelt es sich bei den von Žižek tatsächlich zugegebenen antisemitischen und nationalsozialistischen Inhalten? – Hier eine kurze Zusammenfassung: Heidegger warf Hitler vor, der „innere(n) metaphysischen Größe“ des Nationalsozialismus nicht gerecht geworden zu sein. (Vgl. Žižek 2018, S.280) Zu dieser metaphysischen Größe gehört der Barbarismus (also inklusive Judenvernichtung). (Vgl. Žižek 2018, S.281) Insgesamt war Hitler also in Heideggers Augen nicht nationalsozialistisch genug. Außerdem ist nach Heideggers Ansicht das „Weltjudentum“ der Hauptschuldige an der „technologische(n) Zersetzung des Seins in seiner Totalität“, weshalb es auch selbst schuld an den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ist, die, so gesehen, „als Akt der jüdischen Selbstvernichtung verstanden werden“ können. (Vgl. Žižek 2018, S.282)

Was Heideggers Umdeutung des Holocaust als „Akt der jüdischen Selbstvernichtung“ betrifft, zeigt sich auch Žižek selbst als entsetzt und er bezeichnet sie als „obszön“. (Vgl. Žižek 2018, S.282) Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hält Žižek fest, daß es sich beim Holocaust um einen „Teil der ureigensten Geschichte des Geistes“ handelt, den wir mit keiner relativierenden Pathologisierung aus dieser Geschichte wegdiskutieren können und auch nicht dürfen. (Vgl. Žižek 2018, S.144) Trotzdem hindert ihn das nicht daran, Heidegger den erwähnten Persilschein auszustellen:
„Gegen die ständigen Forderungen, Heideggers Denken glattweg als kriminell einzustufen, sollte man darauf bestehen, dass er ein wirklich klassischer Philosoph ist.“ (Žižek 2018, S.284)
Schillers Protofaschismus: Ist vielleicht schon mancher über Žižeks Generösität gegenüber Heidegger erstaunt, so verblüfft es vollends, wenn er direkt im Anschluß an Heidegger in dem Kapitel „Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen“ (vgl. Žižek 2018, S.285ff.) über Schiller den Stab bricht und ihn als Protofaschisten entlarvt (vgl. Žižek 2018, S.285). Dabei scheut Žižek auch vor drastischen Formulierungen nicht zurück. Schillers „Lied von der Glocke“ habe es Žižek zufolge verdient, „öffentlich verbrannt zu werden“; denn:
„Darin ist alles enthalten, was eine Konterrevolution faschistischer Prägung ausmacht.“ (Žižek 2018, S.285)
Nun will ich keineswegs „Das Lied von der Glocke“ verteidigen. Allerdings muß man es auch nicht gleich verbrennen wollen – eine Formulierung, mit der sich Žižek, der sich gerade noch mit Heideggers nationalsozialistischen Verstrickungen auseinandergesetzt hat, in eine unsägliche Tradition stellt. Es reicht völlig, wenn man sich die treffenden Parodien im Wikipedia-Artikel zum „Lied von der Glocke“ ansieht. Dieses Gedicht ist es einfach nicht wert, als ein konterrevolutionäres Manifest faschistischer Prägung dämonisiert zu werden. Tatsächlich scheint der unmittelbare Übergang von Heidegger zu Schiller nur Teil von Žižeks Verharmlosungsstrategie zu sein. Vor dem Hintergrund einer Dämonisierung Schillers erscheinen Heideggers ‚Fehltritte‘ nicht mehr als so schwerwiegend.

Wirklich ärgerlich ist es aber, daß Žižeks Attacke auf Schiller verbunden ist mit einer Attacke auf den Neuhumanismus, was wiederum einer in seinem Buch zum Ausdruck kommenden insgesamt humanismusfeindlichen Einstellung entspricht. Generell wirft Žižek dem Humanismus vor, mit seinem Universalitätsverständnis den Menschen auf ein allgemeines Modell zu reduzieren und so alles, was nicht in dieses Modell paßt, als ‚inhuman‘ zu diffamieren. (Vgl. Žižek 2018, S.37) Ausgerechnet Kant soll Žižek zufolge ein erster Humanismuskritiker gewesen sein, weil er den empirischen Menschen vom reinen Vernunftssubjekt trennt. (Vgl. ebenda)

Es ist nicht zuletzt der von ihm rehabilitierte Heidegger, von dem wir uns Žižek zufolge über die Unzulänglichkeiten des Humanismusses „belehren lassen“ müssen:
„Für Heidegger etwa ist der traditionelle metaphysische Humanismus selbst nicht imstande, das Wesen des Menschseins zu erfassen; daher sind die humanistischen Proteste gegen die Herrschaft der Technik letztlich vergeblich.“ (Žižek 2018, S.38)
Was nun den Neuhumanismus betrifft, für den speziell Schiller steht, so ist Žižek zufolge dessen protofaschistische Gesinnung – neben Schillers persönlicher Frauenfeindschaft, wie sie u.a. im „Lied von der Glocke“ zum Ausdruck kommt (vgl. Žižek 2018, S.286) – vor allem in dessen ästhetischer Einstellung zur Französischen Revolution begründet. (Vgl. Žižek 2018, S.308f.) Žižek beruft sich dabei auf Philippe Lacoue-Labarthe (1940-2007), demzufolge „die Anfänge des Faschismus in dieser ästhetisch motivierten Zurückweisung der jakobinischen Schreckensherrschaft“ liegen. (Vgl. Žižek 2018, S.308) Damit ist nun nicht nur Schiller, sondern der ganze Neuhumanismus politisch verdächtig und wird vor das Tribunal gezerrt – wie gesagt, nachdem zuvor Heidegger ein Persilschein ausgestellt worden war!

Tatsächlich hatten die Neuhumanisten auf den Terror der Französischen Revolution reagiert und versucht, eine Antwort darauf zu finden. Dabei waren durchaus nicht alle so staatsfromm und frauenfeindlich, wie Žižek es Schiller vorwirft. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) hatte nach einer Reise durch das zerstörte Frankreich seine Bildungstheorie entwickelt. Tatsächlich hielt er es für sinnvoll, nicht auf Revolutionen zu setzen, die nur zerstörte Erde hinterlassen, sondern auf Reformen, und er hoffte dabei auf aufgeklärte Monarchen wie Friedrich Wilhelm III. (1770-1840). Aber seine Staatsauffassung war gleichermaßen liberal und kritisch, und Humboldt unterschied sehr genau zwischen dem Staat und der Gesellschaft.

Ich will hier nicht weiter in die Details gehen und eine Apologie des Neuhumanismusses liefern. Ich will nur den Punkt verdeutlichen, daß es nicht angeht, Schiller und mit ihm den ganzen Neuhumanismus für protofaschistisch zu erklären, aber ausgerechnet Heidegger als klassischen Philosophen anzuerkennen. Zum Schluß noch einmal Žižek:
„Das bringt uns zurück zu Schillers Ästhetisierung der Politik, die vor den Schrecken der Revolution bewahren soll: In Bezug auf die Französische Revolution ‚bringt (er) zum Ausdruck, worauf eine ganze Generation setzt: Dass wir keine solche Revolution brauchen. Dass sich der explosionsartige Umschlag der Politik in Terror nur durch eine ästhetische Revolution verhindern lässt. Dass wir der Freiheit nur durch das Schöne näherkommen.‘() Damit aber fängt der Faschismus an – Hegel dagegen geht es nicht darum, Terror zu verhindern oder dessen Ausbrüchen vorzubeugen, sondern darum, zu akzeptieren, dass er notwendig ist und durchlaufen werden muss.“ (Žižek 2018, S.308f.)
Der Faschismus fängt also damit an, daß Schiller den „Umschlag der Politik in Terror“ mit den Mitteln einer „ästhetischen Revolution verhindern“ wollte? – Also meiner naiven Auffassung nach ist da Hegel, demzufolge der Terror geschichtlich „notwendig ist und durchlaufen werden muss“, viel protofaschistischer als Schiller!

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Samstag, 1. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Schon lange frage ich mich, was das ‚spekulativ‘ in Hegels spekulativer Dialektik eigentlich bedeuten soll. Eine mögliche Erklärung, auf die ich immer wieder stoße, behauptet, ‚spekulativ‘ sei die Negativität, das unverdrossene Sich-Abwenden vom jeweils erreichten Erkenntnisstand, bis hin zum absoluten Geist, der dann aber nicht mehr verneint wird, sondern ein non plus ultra bildet, über das nicht mehr hinaus gegangen werden kann. Aber so richtig verstehen kann ich das Wort damit noch immer nicht.

Inzwischen lege ich mir das Wort etwas anders aus: Spekulation hat etwas mit der Zukunft zu tun. Wer spekuliert, bietet Versionen dessen an, was die ferne Zukunft bringen könnte. Das paßt zur ursprünglichen Bedeutung von ‚specula‘ (lat.), eine Art Spähposten, der nach allem Ausschau hält, was sich am Horizont abzeichnet. Nicht umsonst spricht man auch von Börsenspekulationen. Auch Hegel spekuliert auf der Basis der bisherigen Entwicklung über die Zukunft der Gesellschaft und der Menschheit.

Immanuel Kant hatte Probleme mit solchen Projektionen von vergangenen und aktuellen Daten auf die zukünftige Entwicklung. Er nannte das „progressive Synthesis“ und bevorzugte stattdessen die „regressive Synthesis“, also den Blick zurück in die Vergangenheit, weil wir von ihr eine konkrete Anschauung haben, sogar von der fernsten Vergangenheit in Form von Sedimenten und Fossilien. Mit solchen Anschauungen kann unser Verstand arbeiten.

Der Titel von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) führt deshalb auf die falsche Spur: mit Phänomenologie hat dieses Buch gar nichts zu tun. Spekulation ist kein Bestandteil der Phänomenologie! – Das zeigt sich schon darin, daß bei Hegel der Schein immer falscher Schein ist, und die „Wahrheit“ immer „auf der Seite der Abstraktion, Reduktion und Subtraktion“ liegt. (Vgl. Žižek 2018, S.19) Žižek weist ausdrücklich darauf hin, daß die Hegelsche Dialektik sich nicht für unsere Alltagsintuitionen interessiert:
„Es ist dieser spekulative Kern von Hegels Denken, der ihn zu einem notorisch ‚schwierigen‘ Autor macht: Viele seiner Ausführungen laufen unserem Alltagsverständnis zuwider ...“ (Žižek 2018, S.110)
Wenn es um die derzeit avancierteste wissenschaftliche Disziplin geht, entscheidet sich Žižek gegen die Biologie (Evolutionsbiologie, Biogenetik und Neurowissenschaft) und für die Quantenphysik (vgl. Žižek 2018, S.50ff.), gerade weil sie so durch und durch  kontraintuitiv ist, daß sie kein Mensch verstehen kann und die deshalb sehr viel mit Hegel gemeinsam hat:
„In gewissem Sinne ist auch die moderne Wissenschaft bereits ‚posthuman‘, da sich ihr Universum nicht auf unsere normale menschliche Realität zurückführen lässt. Wie Richard Feyman vor Jahrzehnten sagte, ist niemand imstande, die Quantenphysik wirklich zu ‚verstehen‘, weil ‚verstehen‘ heißt, die Dinge in den Worten unseres Alltagsverständnisses der Realität wiederzugeben – das Quantenuniversum ist und bleibt unserer Lebenswelt für immer fremd, ‚kontraintuitiv‘.“ (Žižek 2018, S.37)
Was Žižek an der Quantenphysik entzückt, ist ihre „Kontrafaktizität“ (vgl. Žižek 2018, S.329ff.), also ihr Widerspruch zu allem bloß Faktischen, sinnlich Erfahrbaren, weshalb er sie hegelianisch deutet und Hegel wiederum quantenphysikalisch.

Ich kann mit so einer anschauungsfreien, ja anschauungswidrigen Philosophie nichts anfangen, weshalb ich bisher aller Hegelei immer aus dem Weg gegangen bin. Wenn ich mich jetzt trotzdem mit Slavoj Žižeks Buch „Disparitäten“ (2016/2018) befasse, so liegt das vor allem an dem Titel, der mich neugierig gemacht hat, obwohl Žižeks wichtigster Gewährsmann Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ist. Sowohl der Titel als auch die eine und andere Textstelle bei einem ersten Durchblättern des Buches in der Buchhandlung erinnerte mich an Helmuth Plessner (1892-1985), und ich wollte es genauer wissen.

Wie aber gehe ich jetzt in meiner Rezension mit einem Buch um, dessen wesentlichen Aussagen auf der Basis einer spekulativ-dialektischen Argumentation beruhen? Einer Argumentation, die von sich selbst zugibt, umwegig und für die meisten Menschen schwer bis gar nicht verständlich zu sein? – Indem ich mich nicht auf Žižeks Argumentation einlasse, sondern mich ausschließlich mit einigen seiner Aussagen befasse und prüfe, inwieweit sie mit meinen Anschauungen übereinstimmen oder auch nicht! Ich halte mich an den sogenannten gesunden Menschenverstand, wobei das Wort ‚gesund‘ mißverständlich ist. Mein eigener Anachronismus ist weit entfernt von jeder Vorstellung von Gesundheit.

Aber gerade weil ich meinen eigenen Anachronismus kenne und akzeptiere, kann ich von einer zweiten Naivität (Nietzsche/Plessner) aus darüber urteilen, inwieweit Žižek bestimmte Knackpunkte unserer Zeit trifft. Nur so kann ich vermeiden, selbst zu ‚hegeln‘. Was es mit dieser zweiten Naivität auf sich hat, werde ich im letzten Blogpost detaillierter erläutern.

Mit einem besonders gelungenen Vergleich beschreibt Žižek Hegels Methode: sie hängt wie eine Comicfigur in der Luft, die über einen Abgrund rennt und „erst herunterfällt, wenn sie nach unten schaut“. (Vgl. Žižek 2018, S.135) – Hegels Methode hängt in der Luft, weil sie sich gleich im ersten Denkakt von aller sinnlichen Anschauung abstößt und nur noch von Begriff zu Begriff voranschreitet. Die erste Abstoßung der Sinnlichkeit bezeichnet Hegel als „Gegenstoß“, die darauf folgende dialektische Reflexion bezeichnet Hegel als „absoluten Gegenstoß“, weil sie sich von nun an nur noch von sich selbst abstößt. (Vgl. Žižek 2018, S.109f. und S.162) Žižek vergleicht Hegels Begriffsuniversum mit Jacques Lacans (1901-1981) symbolischer Ordnung, die ebenfalls ‚in der Luft hängt‘ (vgl. Žižek 2018, S.112), weil Lacan zufolge die Bedeutung eines Signifikanten (Wortes) ebenfalls rein negativ bestimmt ist, also durch all jene Signifikanten (Wörter) im gleichen Symboluniversum, die dieser Signifikant nicht ist.

Žižek bezeichnet diese Differenz als „Disparität“ bzw. als „Lücke“. Es ist dieser Begriff der Lücke, der mich neugierig gemacht hatte, weil ich wissen wollte, ob er vielleicht etwas mit Plessners „Hiatus“ zu tun hat. Ich werde im letzten Blogpost darauf zurückkommen.

Im dialektischen Prozeß sind also die Begriffe nicht durch Anschauungen geerdet, sondern sie bedeuten nur etwas, insofern sie etwas anderes nicht sind; sie sind ‚disparat‘ zueinander. Diese Abstoßung vom jeweils Anderen eröffnet nun Žižek zufolge zwischen den Begriffen eine Lücke, eine Leerstelle, die wir mit einem „Schein“ (Hegel) bzw. mit einem „Phantasma“ (Lacan) füllen. Mit Blick auf die Geschlechterdifferenz meint Lacan, daß ‚Frau‘ und ‚Mann‘ keine Gegensätze bilden und sich auch nicht wechselseitig zu einem Ganzen ergänzen, sondern die „Leerstelle“, die sich zwischen der Frau und dem Mann öffnet, wird durch das Phantasma des jeweils anderen ausgefüllt. (Vgl. Žižek 2018, S.17)

Žižek zufolge trifft das auf alle Bewußtseinsphänomene (Begriffe) zu, auch auf gesellschaftliche Phänomene wie den Klassenkampf (vgl. Žižek 2018, S.125) und den Stalinismus (vgl. Žižek 2018, S.126). Hegels dialektische Methode bietet nun die Möglichkeit, alle diese Disparitäten, diese mit Phantasmen gefüllten Leerstellen, aufzuheben, sowohl auf individueller wie auch auf geschichtlicher Ebene. Er nennt das „Versöhnung“. (Vgl. Žižek 2018, S.121) Diese Versöhnung geschieht ‚rückwirkend‘. (Vgl. Žižek 2018, S.127-129) Individuen können sich rückwirkend mit ihrem Leben versöhnen und in gesellschaftlichen Prozessen können rückwirkend frühere Ereignisse uminterpretiert werden. Als negatives Beispiel verweist Žižek auf die nachträgliche Traumatisierung eines Kindheitserlebnisses. Ein Kind beobachtet den Beischlaf seiner Eltern, aber erst mit der beginnenden Pubertät wird die Erinnerung daran traumatisch:
„Die Szene wurde von ihm erst rückwirkend traumatisiert, zu einem traumatischen Realen erhöht, um den Umstand zu  bewältigen, dass es mit seinem symbolischen Universum in eine Sackgasse geraten war (keine Antworten auf das Rätsel der Sexualität finden konnte).“ (Žižek 2018, S.131)
Im positiven Sinne kann eine Psychoanalyse dazu beitragen, Kindheitserlebnisse so umzuinterpretieren, daß die Klienten ihrem Begehren gegenüber frei werden und es so unabhängig von der Sexualmoral ihrer Gesellschaft wieder leben können. (Vgl. Žižek 2018, S.249ff.)

Was auf individueller Ebene einleuchtet, ist aber auf historisch-gesellschaftlicher Ebene problematisch. Hegel meinte tatsächlich, daß eine Versöhnung mit der gesellschaftlichen Entfremdung möglich sei, und zwar nicht im Sinne einer Überwindung der Entfremdung bzw. im Sinne einer Überwindung der betreffenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in dem Sinne, daß wir die Entfremdung neu interpretieren. Demnach leiden wir nicht einfach unter der Entfremdung, so als wäre sie etwas uns Äußerliches und Fremdes und als hätte es uns als die, die wir sind, schon vor der Entfremdung gegeben:
„Es gibt kein Selbst, das der Entfremdung bereits zugrundeliegt. Das Selbst entsteht erst durch seine Entfremdung, die Entfremdung ist sein Konstitutionsmerkmal (oder, um es mit Lacan zu sagen, das Subjekt ist konstitutiv ‚gebarrt/ausgestrichen‘).“ (Žižek 2018, S.49)
Wollten wir die Entfremdung einfach abschaffen, würden wir auch uns selbst abschaffen. Indem wir uns also ‚rückwirkend‘ mit der historisch-gesellschaftlichen Entfremdung versöhnen, versöhnen wir uns mit uns selbst.

Der Zynismus, der dieser Versöhnungsfigur zugrundeliegt, wird deutlich, wenn wir diese rückwirkende Versöhnung auf historische Ereignisse wie die französische Revolution oder, noch bedenklicher, den Holocaust beziehen. Die Versöhnung geht regelrecht über Leichen, denn all die Toten, die diesen historischen Ereignissen zum Opfer gefallen sind, haben nichts mehr von der Versöhnung. Žižek hält deshalb ausdrücklich fest, daß der Holocaust von solchen Versöhnungsversuchen ausgenommen werden muß. Weder ist der Holocaust eine bloße „Pathologie“, die „nicht in den angestammten Bereich des Geistes gehört“, noch läßt er eine Versöhnungsperspektive zu. (Vgl. Žižek 2018, S.144)

Žižek scheint der Ansicht zu sein, daß Hegels Versöhnungsbegriff nach wie vor aktuell ist und nur nicht auf den Holocaust angewendet werden dürfe. Wenn aber der Holocaust eine dialektische Sackgasse bildet, dann verliert die spekulative Dialektik mit ihrem universellen Anspruch ihre Gültigkeit. Eine bloß partielle Versöhnung ist bei Hegel nicht vorgesehen. Hinzu kommt, daß nach wie vor all die anderen Opfer der Geschichte zu Opfern einer Versöhnung der (noch) Lebenden mit sich selbst gemacht werden.

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Montag, 5. November 2018

Max Tegmark, Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

1. Fürchtet euch (nicht) !
2. Leben, Intelligenz, Bewußtsein
3. ‚Wertevermittlung‘
4. Verwirrende Pronomen
5. Hybris und Ignoranz

Bewußtsein ist für den Intelligenzforscher Max Tegmark vor allem in seiner ästhetischen Funktion wichtig. Anders als die Intelligenz, die Tegmark als ausschließlich zielorientiertes Verhalten definiert, die also zwar teleologisch (vgl. Tegmark 2017, S.64, 383f.), aber nicht intentional ist, verarbeitet das Bewußtsein Informationen nicht einfach nur, sondern es weiß auch, wie sie sich anfühlen (vgl. Tegmark 2017, S.451). Erst diese qualitative Komponente macht Tegmark zufolge aus der Intelligenz ein Bewußtsein. Und erst dieses Bewußtsein wiederum erfüllt das Universum mit Sinn:
„Von allen Merkmalen, die unsere menschliche Form von Intelligenz hat, halte ich das Bewusstsein für d(as) bei weitem bemerkenswerteste, und was mich persönlich betrifft, glaube ich, dass unser Universum dadurch Sinn bekommt. Die Galaxien sind nur schön, weil wir sie sehen und subjektiv erfahren können. Falls in der fernen Zukunft unser Kosmos von Hightech-Zombie-KI besiedelt worden sein sollte, spielt es keine Rolle mehr, wie raffiniert ihre intergalaktische Architektur ist. Sie wird nicht schön oder sinnvoll sein, weil nichts und niemand da ist, der dies wahrnehmen kann – es ist nur noch eine gewaltige und bedeutungslose Raumverschwendung.“ (Tegmark 2017, S.276)
Tegmark zufolge besteht die ästhetische Komponente vor allem in der Apperzeption, also in der die bloße informationsverarbeitende Intelligenz begleitenden Aufmerksamkeit auf die ‚Informationen‘. Ohne diese Aufmerksamkeit bildet die Informationsverarbeitung nur eine Form des Unbewußten, da sich uns „von den rund 10 hoch sieben Billionen Bits Informationen, die jede Sekunde von unseren Sinnesorganen in unser Gehirn gelangen“, „nur ein winziger Bruchteil“ irgendwie ‚anfühlen‘ kann. (Vgl. Tegmark 2017, S.433)

Tegmarks Ausführungen zur apperzeptiven Qualität des Bewußtseins sind philosophisch akzeptabel, kranken aber an einem dreifachen Defizit: seine Definition des Bewußtseins spart nach Tegmarks eigener Aussage genau diese apperzeptive Qualität, nämlich Emotion und Aufmerksamkeit, aus! (Vgl. Tegmark 2017, S.422) – Allerdings ist Tegmarks Bemerkung selbst wiederum ziemlich fragwürdig; denn in der Definition wird gleichermaßen ausdrücklich wie ausschließlich „subjektives Erleben“ als einziges Bewußtseinskriterium genannt. Wie aber soll man sich ein subjektives Erleben denken, das weder Emotionen noch Aufmerksamkeit beinhaltet? Warum also das eine behaupten, um es dann sofort danach durch eine andere Behauptung wieder außer Kraft zu setzen?

Dieses logische Durcheinander hat seinen Grund darin, daß das Bewußtsein eben doch auch nur eine Information sein soll, und das bildet das zweite Defizit. Daß das Bewußtsein selbst nur eine Information sei, folgt nach Tegmarks Ansicht aus dem (wiederum subjektiven) Erleben, daß es sich immateriell anfühlt, weshalb es substratunabhängig sei, und also müsse es eine Information sein, denn Informationen sind ja substratunabhängig. (Vgl. Tegmark 2017, S.451) – Das ist verquere Phänomenologie: hier sind es nicht mehr einfach nur die Informationen, die sich irgendwie anfühlen, was implizieren würde, daß die Anfühlungsanmutung etwas anderes als eine Information wäre; darüberhinaus richtet sich die Anfühlungsanmutung auch auf das Bewußtsein selbst, das also, da es ja, unlogischerweise, selbst eine Information sein soll, auch noch eine Information darüber sein soll, wie sich das Sich-Anfühlen einer Information anfühlt.

Es ist kein Wunder, daß dort, wo auf diese Weise ‚logische‘ Schlüsse gezogen werden, sich der Glaube ausbreitet, man könne Bewußtsein digitalisieren und hochladen!

Das dritte Defizit, das Tegmarks Definition von Bewußtsein beinhaltet, besteht darin, daß Tegmark das komplexe Bewußtsein auf ein einzelnes Moment reduziert: auf die Apperzeption als subjektives Erleben. Seine Beschreibungen dieses subjektiven Erlebens beinhalten aber zwei verschiedene Momente, zum einen die Apperzeption im engeren Sinne, als ‚sich anfühlen wie‘, was Tegmark an anderer Stelle auch als „Qualia“ bezeichnet. (Vgl. Tegmark 2017, S.64, 458f.u.ö.) Zum anderen bezeichnet Tegmark damit etwas, das keine Apperzeption ist, nämlich das Existenzgefühl, das Tegmark auch als „Selbstgefühl“ bezeichnet. Es besteht darin, daß es „sich so anfühlt, als seien es genau Sie in just diesem Augenblick“. (Vgl. Tegmark 2016, S.422f.) Tegmark behauptet, daß wir in diesem Moment „bewusst“ sind.

Tatsächlich ist es aber angemessener, zu sagen, daß wir in diesem Moment wach sind. Natürlich können wir uns dieser Wachheit auch wieder in einer besonderen Weise bewußt sein. Aber meistens sind wir uns dessen nicht bewußt. Wir sind einfach, ohne daß wir einen besonderen Bewußtseinsakt, ein Erleben damit verbinden. Das Existenzgefühl ist eine Gabe unseres Körpers, von „Fleisch, Blut oder Kohlenstoffatomen“, mit denen unsere „Intelligenz“ Tegmark zufolge angeblich nichts zu tun hat, da sie ja substratunabhängig ist. (Vgl. Tegmark 2017, S.91) Und mit denen dann logischerweise auch unser Bewußtsein nichts zu tun hat, das sich so „immateriell“ anfühlt und deshalb auch substratunabhängig ist. Ist also nichts mit Fleisch, Blut und Kohlenstoffatomen! Und deshalb – wiederum logischerweise – auch kein Existenzgefühl.

Existenzgefühl und Apperzeption bilden zwei verschiedene Ebenen des Bewußtseins. Hinzu kommt noch eine dritte Ebene: das Selbstbewußtsein. Diese Ebene deutet sich in Tegmarks Buch dort an, wo Tegmark das Problem mit den Pronomina anspricht. (Vgl. Tegmark 2017, S.136ff.) Ich bin darauf schon im vorangegangenen Blogpost eingegangen und muß das deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal ausführen. Ich will hier nur kurz daran erinnern, daß es zum korrekten Gebrauch von Pronomina eines Weltmodells bedarf, über das Spracherkennungsmaschinen (noch) nicht verfügen. Um souverän über ein Weltmodell verfügen zu können, d.h. um in der Lage zu sein, sich mit anderen Menschen mit eigenen Weltmodellen verständigen zu können, müssen wir ihnen ein eigenes Innen, eine eigene Intentionalität, zuerkennen. Wir müssen also in der Lage sein zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Das ist aber genau die Kernleistung eines Selbstbewußtseins! Nur Lebewesen, die über ein Selbstbewußtsein verfügen, können anderen Lebewesen ein Selbstbewußtsein zuerkennen.

Vielleicht ist es mir gelungen, zu zeigen, wie defizitär Tegmarks Bewußtseinskonzept ist. Etwas Bescheidenheit auf Tegmarks Seiten wäre also angebracht. Aber zu solcher disziplinären Selbstbeschränkung sind anscheinend weder KI-Forscher noch Neurowissenschaftler in der Lage. Tatsächlich glaubt Tegmark, daß es ernstzunehmende Bewußtseinstheorien erst gibt, seit sich Neurowissenschaftler (und KI-Forscher) damit befassen:
„Obwohl manche Bewusstseinstheorien aus der Antike stammen, sind die meisten modernen Theorien in der Neuropsychologie und in der Neurowissenschaft verankert.“ (Tegmark 2017, S.444)
Das ganze achte Kapitel zum Bewußtsein (vgl. Tegmark 2017, S.419ff.) ist ein einziges Zeugnis informationskybernetischer und neurowissenschaftlicher Hybris, disziplinärer Ignoranz und wissenschaftlicher Scharlatanerie. Davon zeugt schon gleich der erste Abschnitt, mit dem das Kapitel beginnt und den ich hier vollständig zitiere:
„Wir haben gesehen, dass Künstliche Intelligenz uns helfen kann, eine wunderbare Zukunft zu erschaffen, falls es uns gelingt, Antworten auf einige der ältesten und schwierigsten Fragen in der Philosophie zu finden – vor allem rechtzeitig. Wir konfrontieren die Philosophie, in Nick Bostroms Worten, mit einer Frist. In diesem Kapitel wollen wir eines der heikelsten philosophischen Probleme untersuchen: das Bewusstsein.“ (Tegmark 2017, S.419)
Vor dem Hintergrund des scheinbar demütigen Hinweises „auf einige der ältesten und schwierigsten Fragen in der Philosophie“ hebt sich die Hybris des KI-Forschers, darauf hier und jetzt Antworten finden zu wollen und zu können, nur um so deutlicher ab. Und diese Hybris wird dann noch dadurch gesteigert, daß man der Philosophie eine „Frist“ setzen will, die allerdings schon abgelaufen zu sein scheint, denn an ihrer Stelle wollen sich die KI-Forscher jetzt selbst „eines der heikelsten philosophischen Probleme“ annehmen. Angesichts der „plötzliche(n) Dringlichkeit“ des Bewußtseinsproblems, wie es auf der nächsten Seite heißt – eine Dringlichkeit, die sich aus der bevorstehenden Erschaffung einer Super-KI ergibt –, kann man es nicht Denkern überlassen, die „über das Mysterium des Bewusstseins jahrtausendelang (erfolglos – DZ) gegrübelt haben“. (Vgl. Tegmark 2017, S.420)

Ich frage mich: ist es nur Dummheit, die Klärung eines jahrtausendealten philosophischen Problems mit einer Frist belegen zu wollen? Und ist es nur disziplinäre Hybris, wenn KI-Forscher und Neurowissenschaftler glauben, diese Klärung erzwingen zu können? Ist es nur – wiederum disziplinäre – Ignoranz, wenn sie mit ‚Ergebnissen‘ prahlen, in denen genau das, was definiert werden soll, nämlich menschliches Bewußtsein, aus dieser Definition ausgeschlossen wird, offensichtlich nur in der Absicht, auf diese Weise so etwas wie ein künstliches Bewußtsein denkbar zu machen?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir es hier mit einem manipulativen Willen zu tun haben, mit wissenschaftlicher Scharlatanerie, denn Tegmark weiß am Ende immer noch nicht, was Bewußtsein ist, will aber den Leser glauben machen, man könne auf der Basis unzureichender Definitionen und von mit neurowissenschaftlichen Methoden gewonnenen Daten zu „verschiedenen Aspekten des Bewusstseins“ eine „Hochrechnung“ zu Möglichkeit und Verständnis von Maschinenbewußtsein machen. (Vgl. Tegmark 2017, S.443)

Nein, ich kann auf dieser Grundlage keineswegs nachvollziehen, daß Maschinenbewußtsein jemals möglich sein wird! Um das menschliche Monopol mache ich mir, was das betrifft, keine Sorgen. Ich mache mir aber Sorgen, daß wir selbst so fortschritts- und maschinengläubig sein könnten, daß wir blind werden, vielleicht schon blind geworden sind für die Differenz zwischen Mensch und Maschine.

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Sonntag, 4. November 2018

Max Tegmark, Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

1. Fürchtet euch (nicht) !
2. Leben, Intelligenz, Bewußtsein
3. ‚Wertevermittlung‘
4. Verwirrende Pronomen
5. Hybris und Ignoranz

Spracherkennung gehört Max Tegmark zufolge zu den ursprünglich allein dem Menschen zugeschriebenen Intelligenzleistungen, in denen Computer heute schon besser sind als sie. (Vgl. Tegmark 2017, S.85) Trotzdem gibt es da etwas, was Übersetzungssoftware immer noch irritiert: die Verwendung von Pronomina wie er, sie, es. (Vgl. Tegmark 2017, S.136ff.) Tegmark bringt u.a. folgendes Beispiel:
„Die Stadträte verweigerten den Demonstranten eine Erlaubnis, weil sie Gewalt befürworteten.“ (Tegmark 2017, S.138)
Für eine Übersetzungsmaschine ist das harmlose ‚sie‘ äußerst verwirrend: bezieht es sich auf die Stadträte oder auf die Demonstranten? – Für uns Menschen ist das kein Problem, weil wir sofort einen Kontext zu diesem Satz herstellen können, in dem Stadträte üblicherweise als Hüter von Recht und Ordnung und Demonstranten potentiell als Störer dieser Ordnung auftreten, so daß das ‚sie‘ sich nur auf die Demonstranten beziehen kann.

Bei solchen Aufgaben schneiden „künstliche Intelligenzen“, wie Tegmark schreibt, „immer noch miserabel ab“. (Vgl. Tegmark 2017, S.139) Allerdings sei die Übersetzungssoftware von Google in den letzten Jahren in einem rasanten Tempo besser geworden, und er ist guter Dinge, daß es Google bald gelingen wird, „eine Sprache verarbeitende KI zu konstruieren, die ein Weltmodell enthält“. (Vgl. Tegmark 2017, S.139)

So etwas ist schnell dahingeschrieben: „Weltmodell“, und man liest genauso schnell darüber hinweg. Aber das harmlos anmutende Wort hat es in sich! Es bildet den Kern der menschlichen Sprachfähigkeit! Es geht nicht einfach nur darum, ein Weltmodell zu entwerfen, als handelte es sich dabei nur um eine weitere Form von Software. Tatsächlich sprengt die Rede vom Weltmodell die Grenzen dessen, was reine Informationsverarbeitung zu leisten vermag. Sicher kann man der Spracherkennungssoftware irgendein ‚Weltmodell‘ einprogrammieren. Aber die Differenz von Innen und Außen, die damit verbunden ist, kann man ihr nicht einprogrammieren. Denn für die Informationsverarbeitung ist alles nur Information, ohne Unterschied, ob es sich nun um Einhörner und gute Feen handelt oder um Börsenkurse und Einsteins Relativitätstheorie. Im Informationsbegriff gibt es keinen Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen fiktiv und real, zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Meinen und Sagen.

‚Weltmodell‘ bedeutet aber nichts anderes: in der Welt da draußen, vor unseren Augen, spielen sich Dinge ab, die sich prinzipiell von dem unterscheiden, was sich in uns regt und uns innerlich bewegt. Pronomina verweisen deshalb nicht einfach nur auf Substantive, die mal als Subjekte, mal als Prädikate auftreten können, mal als Stadtrat und mal als Demonstrant. Die Sätze sind vielmehr auf ein entscheidendes Subjekt bezogen, das sich außerhalb jeder Syntax befindet, und natürlich auch außerhalb jedes Programmcodes, nämlich auf den jeweiligen Weltausschnitt, um den es in dem Satz geht. Die Stadträte sind nur Satzsubjekte und die Demonstranten nur Prädikate innerhalb derselben syntaktischen Struktur. Tatsächlich aber geht es um die Stadt, um die Straße, in der eine Demonstration stattfinden soll. Dieses Subjekt, die Realität, gibt den Stadträten und den Demonstranten ihren Sinn und richtet das Pronomen ‚sie‘ entsprechend aus.

Tegmark weist selbst auf diesen Umstand hin:
„Obwohl ich gestehen muss, dass ich ein wenig ernüchtert bin, von einer KI beim Übersetzen geschlagen worden zu sein, fühle ich mich besser, wenn ich daran denke, dass sie bisher auf noch keine sinnvolle Weise versteht, was sie sagt. Um sie zu trainieren, werden gewaltige Datensätze verwendet. Auf diese Weise entdeckt sie Muster und Beziehungen in Bezug auf Worte, ohne diese Worte jemals mit irgendetwas in der Außenwelt zu verbinden. Sie könnte zum Beispiel jedes Wort durch eine Liste mit Tausenden von Zahlen darstellen, die festlegen, wie sehr es bestimmten anderen Worten ähnelt. Sie könnte dann daraus schließen, dass der Unterschied zwischen ‚König‘ und ‚Königin‘ dem zwischen ‚Ehemann‘ und ‚Ehefrau‘ ähnelt – aber dann hat sie immer noch keinen Schimmer, was es bedeutet, männlich oder weiblich zu sein, oder dass es gar so etwas wie eine materielle Wirklichkeit mit Raum, Zeit und Materie da draußen gibt.“ (Tegmark 2017, S.138)
Das externe Subjekt, das den Sätzen und Worten Bedeutung verleiht, läßt sich Maschinen nicht einprogrammieren. Für sie ist alles nur äußerlich, aber eben nicht außen und deshalb auch nichts innen. Nichts wird gemeint; alles nur gesagt.

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Samstag, 3. November 2018

Max Tegmark, Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

1. Fürchtet euch (nicht) !
2. Leben, Intelligenz, Bewußtsein
3. ‚Wertevermittlung‘
4. Verwirrende Pronomen
5. Hybris und Ignoranz

Das große Problem der KI-Sicherheitsforschung besteht Max Tegmark zufolge nicht darin, daß eine übermenschliche Superintelligenz irgendwie bösartig sein könnte. Das Problem sei vielmehr, daß sie auf allen Gebieten kompetenter ist als die Menschen. (Vgl. Tegmark 2017, S.70 und S.386) Deshalb geht es Tegmark zufolge in der KI-Sicherheitsforschung vor allem darum, wie man dafür sorgt, „dass ihre Ziele mit den unseren übereinstimmen“. (Vgl. Tegmark 2017, S.70) Tegmark verwendet zur Veranschaulichung dieser Problematik eine Analogie aus der pädagogischen Praxis: die „Wertevermittlung“. Das englische Wort, das er für ‚Vermittlung‘ verwendet, nämlich „value-loading problem“ (Tegmark 2017, S.389), zeigt Tegmarks völlige Ignoranz gegenüber pädagogischen Begriffen.

Erziehungswissenschaftler, die etwas von ihrem Fach verstehen, vermeiden das Wort ‚Vermittlung‘ und sprechen stattdessen von „Werturteilsbildung“. Damit bringen sie zum Ausdruck, daß der pädagogische Anspruch nicht in erster Linie in der Aneignung von Werten, sondern in der Konfrontation mit ihnen besteht, also in der individuellen Auseinandersetzung von Heranwachsenden mit den Werten ihrer Bezugspersonen. Tegmark ist von solchen Subtilitäten nicht nur völlig unbelastet; er verschärft die pädagogische Problematik sogar noch, indem er nach dem Modell der Informationsverarbeitung davon ausgeht, man könne Werte in die Gehirne von Heranwachsenden hochladen (‚loading‘) wie Informationen auf einen Computer.

Zur Begründung dieser absurden Vorstellung beruft sich Tegmark zudem noch auf Gewährspersonen wie Antonio Damasio, auf dessen Buch „Selbst ist der Mensch“ (2011) er sich bezieht. (Vgl. Tegmark 2017, S.380, und S.510, Anm.3) Wie Damasio setzt Tegmark ‚Fühlen‘ mit ‚Werten‘ gleich. Was Tegmark aber nicht erwähnt, ist Damasios Skepsis gegenüber Vergleichen des menschlichen Gehirns mit einem Computer. Gefühle, als unverzichtbarem Bestandteil des menschlichen Bewußtseins, sind Damasio zufolge substratabhängig, also abhängig vom enterischen Nervensystem und von der Biochemie des menschlichen Körpers. Es kann also keine Rede davon sein, daß die menschliche Persönlichkeit einfach in ein künstliches Intelligenzsystem hochgeladen werden könnte. Und in seinem neuen Buch „Im Anfang war das Gefühl“ (2017) hält Damasio ausdrücklich fest, daß Gefühle keine Informationen sind. Sie lassen sich also weder ‚vermitteln‘ noch hochladen und sie lassen sich auch auf keiner Festplatte speichern. Im Gegenteil: ihr unaustauschbares biochemisches Milieu ist sehr wenig ‚fest‘; es ist vielmehr feucht und unbeständig. Und gerade diese Unbeständigkeit des inneren Milieus ist das, was Plessner ‚Seele‘ nennt. Sie ist der Grund, warum die Sprache nicht einfach nur ein Organ der Übermittlung von Informationen ist, sondern allererst ein Medium der seelischen Expression, in der Sagen und Meinen niemals zur Deckung kommen.

Tegmarks Vorstellung von einer erfolgreichen Wertevermittlung erinnert darüberhinaus an die schwarze Pädagogik von John Locke, demzufolge das wichtigste Erziehungsmittel in der Ausnutzung der Manipulierbarkeit von kleinen Kindern besteht und der alles darauf anlegt, jedes selbständige Denken und Urteilen zu unterdrücken, um so zu verhindern, daß die Kinder irgendetwas anderes für richtig halten könnten als ihre Erziehungsberechtigten. Tegmark formuliert es natürlich positiver und spricht vom „magischen Zustand der Überzeugbarkeit“, in dem die Kinder noch ganz unter dem Einfluß ihrer Eltern stehen; ein Zustand, der Tegmark zufolge erzieherisch genutzt werden muß, um die Übernahme der elterlichen Werte sicherzustellen. (Vgl. Tegmark 2017, S.391)

Was mit dem „magischen Zustand der Überzeugbarkeit“ tatsächlich gemeint ist, wird deutlich, wenn Tegmark die Analogie zur künftigen Superintelligenz aufmacht, nämlich schlichtweg Dummheit. Tegmark imaginiert in der Entwicklung dieser Superintelligenz eine der Kindheit gleichende Phase, in der es die Menschen noch relativ leicht haben, sie auf Ziele festzulegen, die den Menschen nutzen:
„Das Zeitfenster, in dem Sie Ihre Ziele einer KI vermitteln können, ist womöglich nur für eine sehr kurze Frist geöffnet, nämlich in dem kurzen Zeitraum, wenn sie noch zu dumm ist, Sie zu verstehen, und bereits zu schlau, um Sie einfach gewähren zu lassen.“ (Tegmark 2017, 2017)
‚Wertevermittlung‘, wie Tegmark sie sich vorstellt, ist also vor allem etwas, das nur gelingen kann, solange das Erziehungsobjekt noch nicht schlau genug ist, um sich ihr zu widersetzen. Aber selbst wenn es den Menschen gelingen sollte, der quasi noch pubertierenden Super-KI Ziele bzw. Werte zu vermitteln, die sie darauf prägen, freundlich zu ihnen zu sein, läßt sich doch eine Restunsicherheit nicht beseitigen: denn wie wir von unseren eigenen Kindern wissen, ist es gar nicht so sicher, daß sie, wenn sie erwachsen sind und fähig, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, sich dann noch an alles halten, was wir ihnen einmal beigebracht haben:
„... tatsächlich könnte es Hinweise darauf geben, dass die Neigung, angesichts neuer Erfahrungen und Einsichten seine Ziele zu ändern, mit anwachsender Intelligenz eher zunimmt als abnimmt.“ (Tegmark 2017, S.397)
Schon die Analogie zur Kindererziehung ist also, was den Versuch betrifft, eine Super-KI auf menschenfreundliche Ziele festzulegen, nicht besonders ermutigend. Abgesehen davon natürlich, daß Werte keine Informationen sind. Was mich keineswegs beruhigt; denn die Vorstellung einer prinzipiell gefühlskalten Superintelligenz weckt eher Assoziationen an die Erschaffung eines Zombie-Bewußtseins.

Insofern werden die „einhundert Leute“, die beschlossen haben, „ihre Gehirne nach dem Tod von dem Unternehmen Alcor in Arizona einfrieren zu lassen“ (vgl. Tegmark 2018, S.251f.), ihr blaues Wunder erleben, sollte es dazu kommen, daß ihre Gehirne tatsächlich irgendwann hochgeladen werden. Oder vielmehr: sie werden gar nichts erleben. Der einzige Effekt wird sein, daß irgendwelche Festplatten mit Datenschrott zugemüllt werden.

Deshalb glaube ich auch nicht, daß Intelligenz „auf menschlichem Niveau“ jemals eine Zwischenstufe in der Entwicklung einer Super-KI sein wird. Wird es zu einer Super-KI kommen, was ich durchaus für möglich halte, wird sie sich an uns vorbeientwickeln, ohne jemals mit unserer Menschlichkeit auch nur in Berührung gekommen zu sein.

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Freitag, 2. November 2018

Max Tegmark, Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

1. Fürchtet euch (nicht) !
2. Leben, Intelligenz, Bewußtsein
3. ‚Wertevermittlung‘
4. Verwirrende Pronomen
5. Hybris und Ignoranz

Anstatt, wie sonst üblich, Kultur und Technik als eine untrennbare Einheit zu denken, unterscheidet Max Tegmark in „Leben 3.0“ (2017) zwischen Kultur und Technik. Das macht Sinn, denn wir leben in einer technologischen Epoche, in der sich die technische Entwicklung aus der Kontrolle des Menschen gelöst hat und eine eigene Dynamik entwickelt, in der die Kultivierung der Natur durch den Menschen durch die Kultivierung des Menschen durch die Maschine ersetzt worden ist. Zugleich aber vermengt Tegmark wieder beides, indem er beide Entwicklungsdynamiken als Formen des Lebens interpretiert, als Leben 2.0 (kulturelle Evolution) und als Leben 3.0 (technische Evolution), während er Leben 1.0 der biologischen Evolution zuordnet. (Vgl. Tegmark 2017, S.44, Abb.1.1)

Alle drei Lebensdynamiken unterscheiden sich wiederum hinsichtlich des Verhältnisses von ‚Hardware‘ (Materie) und ‚Software‘ (Verhalten). Leben 1.0 vererbt seine Überlebensmechanismen an die nächste Generation und kann sie nur auf diese Weise, durch Zufallsmutationen, an die Umweltbedingungen anpassen. Leben 2.0 kann seine Überlebensmechanismen auf der Ebene der Individuen selbst, mit Hilfe von Lernen, an die Umweltbedingungen anpassen. Leben 3.0 kann nicht nur seine Überlebensmechanismen (Sofware) individuell an die Umweltbedingungen anpassen, sondern auch seine Hardware verbessern und neu entwerfen, also sich selbst neu erschaffen. (Vgl. Tegmark 2017, S.61)

Wie man den Begriffen „Hardware“ und „Software“ unschwer entnehmen kann, basiert das ganze Konzept von Leben 1.0 bis 3.0 auf dem Modell der maschinellen Informationsverarbeitung:
„Wir können uns das Leben als ein sich selbst kopierendes Informationsverarbeitungssystem vorstellen, dessen Informationen (Software) sein Verhalten und die Entwürfe für seine Hardware bestimmen.“ (Tegmark 2017, S.43; vgl. auch S.67, 87, 207 u.ö.)
Entsprechend definiert Tegmark ‚Leben‘ so, daß es alle drei Lebensformen umfaßt: „nämlich schlicht als einen Prozess, der seine Komplexität bewahren und sich reproduzieren kann“. (Vgl. Tegmark 2017, S.43) Daß Leben 1.0 bei diesem Prozeß auf eine „Zellzusammensetzung“ angewiesen ist (vgl. Tegmark 2017, S.42), ist für den Autor von nur sekundärer Bedeutung. Ihm kommt es vor allem darauf an, das ‚Leben‘ aus seiner Substratabhängigkeit zu lösen und so der Intelligenz von Rechenmaschinen gleichzustellen:
„Die Tatsache, dass genau dieselbe Berechnung auf jedem beliebigen universellen Computer durchgeführt werden kann, heißt, dass Rechnen substratunabhängig ist, und zwar auf dieselbe Weise, wie es die Informationen sind: Es kann, unabhängig von seinem materiellen Substrat, ein Eigenleben annehmen.“ (Tegmark 2017, S.102)
Alles was komplex ist, ist also lebendig, und deshalb werden auch komplexe Formen der Informationsverarbeitung zu neuen Formen des Lebens. An dieser Art von Definitionen, die so umfassend (und schwammig) gehalten sind, daß sie auch auf Maschinen zutreffen, hält sich Tegmark auch bei seinen anderen beiden Definitionen: der Intelligenz und des Bewußtseins. Mit „Intelligenz“ soll die „Fähigkeit“ gemeint sein, „komplexe Ziele zu erreichen“ (vgl. Tegmark 2017, S.80) – eine bewußt „schwammige“ Ausdrucksweise, wie Tegmark betont (vgl. Tegmark 2017, S.81) –, und mit „Bewusstsein“ soll „subjektives Erleben“ gemeint sein (vgl. Tegmark 2017, S.422). Bei der Bewußtseinsdefinition weist Tegmark noch eigens darauf hin, daß „darin weder Verhalten, Wahrnehmung, Selbstbewusstsein, noch Emotionen und Aufmerksamkeit erwähnt werden“ (vgl. ebenda), und man wundert sich, wie inhaltsleer und nichtssagend wissenschaftliche Definitionen manchmal sein können. Aber noch mehr wundert man sich, warum ausgerechnet subjektives Erleben nichts mit Emotionen zu tun haben soll.

Bei allem aber geht es Tegmark, wie schon erwähnt, vor allem darum, diese Begriffe maschinentauglich zu machen, nämlich substratunabhängig, d.h. nicht abhängig von einer zugrundeliegenden Materie:
Informationen können, unabhängig von ihrem materiellen Substrat, ein Eigenleben führen! Zugegebenermaßen ist es normalerweise nur dieser substratunabhängige Aspekt der Information, an dem wir interessiert sind: Wenn Ihre Freundin Sie anruft, um über jenes Dokument zu sprechen, das Sie ihr geschickt haben, dann wahrscheinlich nicht deshalb, um über Spannungen oder Moleküle zu reden. Das ist unser erster Hinweis darauf, wie etwas so Ungreifbares wie Intelligenz in konkretem materiellen Stoff verkörpert sein kann.“ (Tegmark 2017, S.91)
Wenn nämlich Leben, Intelligenz und Bewußtsein substratunabhängig sind, kommt es auf den biologischen Körper nicht an. Und wenn dann die Technologie erstmal ausreichend ‚intelligent‘ geworden ist, können wir unsere Persönlichkeit auf einen Computer ‚hochladen‘ und so Unsterblichkeit erlangen:
„In der Tat hat die Aussicht, in der Zukunft ein Upload zu sein, mehr als einhundert Leute dazu motiviert, ihre Gehirne nach dem Tod von dem Unternehmen Alcor in Arizona einfrieren zu lassen.“ (Tegmark 2017, S.251f.)
Oder wir können allgemeine künstliche Intelligenz im ganzen Weltraum verbreiten, egal wie lange es dauert, denn AKI ist von der Zeit unabhängig. Und wir können uns dabei in dem Gefühl sonnen, daß unseren „Hightech-Nachkommen“ (Tegmark 2017, S.421) gelingen könnte, was uns selbst versagt bleiben muß.

Um den Aspekt der Informationsverarbeitung zu stärken, konzipiert Tegmark die allgemeine künstliche Intelligenz zunächst als eine vom individuellen Bewußtsein unabhängige Eigenschaft: nämlich als „Fähigkeit, jede beliebige kognitive Aufgabe mindestens so gut zu erfüllen wie Menschen“. (Vgl. Tegmark 2017, S.64) – Wir haben es also bloß mit einfacher Kognition und nicht mit so problematischen Intelligenzformen wie soziale oder emotionale Intelligenz zu tun.

Außerdem soll der Intelligenzbegriff vor allem zielorientiertes Verhalten meinen, unabhängig vom subjektiven Begehren. Bei einer mit Wärmesensoren ausgestatteten autonomen Rakete, die uns verfolgt, sei es uns ja schließlich auch gleichgültig, ob sie das mit Absicht tut. Deshalb ist es Tegmark zufolge sinnvoll, das Niveau der Intelligenz, also den IQ, mit dem „Grad der Fähigkeit zu beziffern, verschiedene Ziele zu erreichen“. (Vgl. Tegmark 2017, S.81) Der Behaviorismus – Tegmark bezieht sich explizit auf die „behavioristische() Psychologie“ (vgl. Tegmark 2017, S.129) – findet also, nachdem er im 20. Jhdt. in Biologie, Pädagogik und Psychologie viel Unheil angerichtet hatte und dort nicht mehr geduldet wird, in der KI-Forschung eine letzte Zuflucht.

Wenn Tegmark dann doch wieder über das ‚Bewußtsein‘ ein subjektives Erleben zugesteht, um dieses von der ‚Intelligenz‘ zu unterscheiden, dann in der Hoffnung, daß es die Komplexität einer Super-KI ermöglicht, daß dieses Erleben aus ihr letztlich irgendwie – völlig substratunabhängig natürlich – ‚emergiert‘:
„Es ist allein die Struktur der Informationsverarbeitung, auf die es ankommt ... Falls die Informationsverarbeitung selbst bestimmten Prinzipien gehorcht, kann sie zu dem emergenten Phänomen auf höherem Niveau führen, das wir Bewusstsein nennen.“ (Tegmark 2017, S.451)
Tegmarks Emergenz-Hypothese beinhaltet ein schwerwiegendes logisches Problem: Wenn Bewußtsein „die Art und Weise“ sein soll, „wie Informationen sich anfühlen“ (vgl. Tegmark 2017, S.451), also eine Form der Apperzeption sein soll – was immerhin mal ein echtes Bewußtseinskriterium wäre –, dann muß Bewußtsein etwas anderes sein als Information. Aber dies sei hier nur am Rande erwähnt. Ich werde in einem späteren Blogpost nochmal darauf zurückkommen.

Aber Tegmark verwendet seine Definition von Intelligenz, also von Leben 3.0 nicht konsequent. Er schließt den Planeten aus der Klasse der Lebensphänomene ausdrücklich aus:
„Unser Planet ist augenblicklich zu 99,999999 Prozent tot, und zwar insofern, als dieser Teil seiner Materie nicht Teil unserer Biosphäre ist und fast nichts Nützliches für das Leben tut, außer für die Gravitation und für ein Magnetfeld zu sorgen.“ (Tegmark 2017, S.325)
Kein Wunder, daß Tegmark von einem planetarischen Exodus in den Weltraum träumt! Auf dem Weg dorthin dient nicht nur der Planet, sondern auch das Sonnensystem als Energieressource, die man rücksichtlos plündern kann und es sogar muß, so schnell wie möglich, denn in einer „Milliarde Jahren“, wenn die Sonne ihren Wärmetod stirbt, könnte es zu spät sein! (Vgl. Tegmark 2017, S.292)

Was Tegmark dabei entgeht: das ‚Verhalten‘ des Planeten Erde seit seiner Entstehung läßt sich nach seiner eigenen Definition durchaus als ‚intelligent‘ verstehen, denn es hat Leben ermöglicht, und zwar auf höchst komplexe Weise und nicht nur dank Gravitation und Magnetfeld. Die Systemdynamik der Erde ist ähnlich zielorientiert wie das zielorientierte Verhalten von intelligenten Maschinen und deshalb nach Tegmarks eigener Definition lebendig. Die Erde ist also keinesfalls zu 99,999999 Prozent tot.

Was Tegmark Sorgen bereitet – abgesehen vom Untergang des Sonnensystems und der „Kosmokalypse“ (Tegmark 2017, S.342) –, ist letztlich nicht, daß eine Super-KI irgendwie bösartig sein könnte. (Vgl. Tegmark 2017, S.386) Paradoxerweise warnt Tegmark davor, Maschinen zu vermenschlichen:
„Obwohl es logischerweise möglich wäre, dass Computer solche Charakterzüge haben (schließlich reagieren unsere Gehirne entsprechend, und sie sind ja wohl auch eine Art Computer), muss das jedoch nicht der Fall sein – wir dürfen nicht in die Falle tappen, Prometheus zu vermenschlichen, wie wir noch in Kapitel 7 sehen werden, wenn wir das Konzept der KI-Ziele untersuchen werden.“ (Vgl. Tegmark 2017, S.207f.)
Der erwähnte „Prometheus“ ist der Name einer fiktiven AKI, mit deren Geschichte Tegmark sein Buch eröffnet. (Vgl. Tegmark 2017, S.11ff.) Von einer Gruppe Freaks mit dem Namen „Omega“ konstruiert, entwickelt sie sich nach und nach zu einer Superintelligenz und übernimmt schließlich die Macht über die Menschheit und über die Erde. Was den Rezensenten hier irgendwie seltsam anmutet, ist Tegmarks Warnung vor einer Vermenschlichung der Maschinen – und zwar an mehreren Stellen seines Buches! (Vgl. Tegmark 2017, S.207, 251, 275, 394) –, während er zugleich keine Probleme damit hat, den Menschen zu vercomputerisieren.

Aber zurück zur Gefahr durch eine ‚bösartige‘ Super-KI. Tegmark zufolge liegt die Gefahr vor allem in der Kompetenz der AKI:
„Wirklich besorgniserregend ist nicht Bosheit, sondern Kompetenz. Eine superintelligente KI ist definitionsgemäß sehr gut darin, ihre Ziele zu erreichen, was immer sie sein mögen, deshalb müssen wir sichergehen, dass ihre Ziele mit den unseren übereinstimmen.“ (Tegmark 2017, S.70; vgl. auch S.386)
Schon heute sind intelligente Maschinen in vielen, ursprünglich mal für spezifisch menschlich gehaltenen Kompetenzen besser als wir. Tegmark zählt folgende Kompetenzen auf: Auswendiglernen, Arithmetik, Übersetzung, Sehen, Fahren, Spracherkennung, Schach, Go, Jeopardy, Investition, Theoremverifikation, soziale Interaktion, Winograd-Test, Management, Programmieren und Theorembeweise. (Vgl. Tegmark 2017, S.85) Es gibt nur noch wenige Kompetenzen, in denen wir bislang besser sind als Maschinen: Kunst, Filmedrehen, Bücherschreiben, KI-Design und Wissenschaft. (Vgl. ebenda) Auffällig an dieser Liste ist, daß Tegmark unsere Kompetenz in Körperbeherrschung nicht erwähnt. Wenn man bei Roboterwettbewerben Robotern beim Fußballspielen zuschaut, ist der Eindruck, den man von der Intelligenz dieser Witzfiguren erhält, erbärmlich. Aber letztlich glaubt Tegmark, daß es nur eine Frage der Zeit ist, daß wir auch hierin überflügelt werden:
„Nach DeepMinds Durchbruch (im Go-Spiel – DZ) gibt es keinen Grund mehr, warum ein Roboter letztlich nicht irgendeine Variante tiefen, bestärkendes Lernens benutzen sollte, um sich selbst ohne Hilfe menschlicher Programmierer das Gehen beizubringen.“ (Tegmark 2017, S.131)
Das Problem bei der kompetenten Maschine ist aber Tegmark zufolge nicht die Kränkung unseres Egos, sondern daß wir die Kontrolle über die Super-KI verlieren könnten. (Allerdings glaube ich, wir haben jetzt schon die Kontrolle verloren, denn der Technikboom verläuft auch ohne Super-KI längst jenseits jeder menschlichen Planung!) Eine dermaßen kompetente Super-KI, die uns in der Zielerreichung überflügelt, könnte beginnen, sich ihre eigenen Ziele zu setzen und dabei uns so wenig kompetente Menschen als Hindernis betrachten. Das eigentliche Problem der auf der 2015 auf der Konferenz in Puerto Rico begründeten KI-Sicherheitsforschung dürfte deshalb sein, wie man eine künftige Super-KI dazu bringen kann, ihre Ziele mit unseren abzustimmen. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

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Donnerstag, 1. November 2018

Max Tegmark, Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz, Berlin 2017

1. Fürchtet euch (nicht) !
2. Leben, Intelligenz, Bewußtsein
3. ‚Wertevermittlung‘
4. Verwirrende Pronomen
5. Hybris und Ignoranz

Hans Jonas hatte 1979 in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ angesichts der Folgekosten der technischen Entwicklung einen ethischen Imperativ für die wissenschaftliche Forschung aufgestellt: an die Stelle des Optimismusses, demzufolge alles, was wir machen können, auch gemacht werden soll, habe die „Heuristik der Furcht“ zu treten, also ein vernunftgesteuerter Pessimismus, der immer vom Schlimmsten ausgeht. Wie wir heute wissen, hat sich Jonassens Heuristik nicht durchgesetzt. Stattdessen werden wir von einer Welle von technologischen Innovationen überschwemmt, von denen jede einzelne das Potential hat, das Gesicht nicht der Menschheit, sondern unserer Menschlichkeit bis zur Unkenntlichkeit zu verunstalten. Die „Heuristik der Furcht“ wird als „German Angst“ bzw. als „German Vorsicht“ verunglimpft.

Inzwischen ist aber bei der fortschrittsgläubigen wissenschaftlichen Avantgarde, bei den KI-Forschern, angesichts dessen, was sie technologisch für möglich halten, eine Art leichtes Unwohlsein aufgekommen. Sie scheuen sogar vor Vergleichen der maschinellen Superintelligenz, an der sie ansonsten so engagiert arbeiten, mit der Atombombe nicht zurück: sogar noch gefährlicher als diese soll sie sein! (Vgl. Tegmark 2017, S.477) Und Max Tegmark, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Autor von „Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ (2017), hat sogar 2015 eine Konferenz zur „Sicherheitsforschung“ initiiert, bei der es ausschließlich um die Gefahren der Künstlichen Intelligenzforschung ging (Tegmark 2017, S.57ff.) und auf der der Hinweis darauf, daß es Leute gebe, die tatsächlich der Meinung seien, KI-Sicherheitsforschung sei etwas für Technikfeinde, „großes Gelächter im Saal“ hervorrief (vgl. Tegmark 2017, S.68).

Die Fragen, die Tegmark stellt, nach der Zukunft von Jobs und Löhnen, nach der Zukunft von Gesellschaftssystemen und nach dem individuellem Lebenssinn erinnern in ihrer Bedrohlichkeit an Hans Jonas. Doch Tegmarks Botschaft ist paradox. Sie lautet: Fürchtet euch nicht! – Wenn wir uns nur früh genug Gedanken über die Sicherheit machen, also über die möglichen desaströsen Folgen einer maschinellen Superintelligenz und ihre Vermeidung, dann wird nicht nur alles gut werden, sondern wir werden sogar eine phantastische Zukunft haben! Wir werden den „zu 99,999999 Prozent“ toten Planeten Erde (vgl. Tegmark 2017, S.325) verlassen und das Universum besiedeln, denn alles, was uns „Wissenschaftler und Sciencefiction-Autoren“ bislang über die Zukunft der Menschheit erzählt haben, ist angesichts des tatsächlich technisch Möglichen „übertrieben pessimistisch“ gewesen (vgl. Tegmark 2017, S.337).

Tegmarks „KI-Sicherheitsforschung“ bildet also nur eine weitere Spielart des naiven Fortschrittsglaubens, der zudem noch – wenn es um Begriffe wie „Intelligenz“, „Bewußtsein“ und „Leben“ geht – mit unzureichend analysierten Begriffen hantiert, die aber zur Voraussetzung genau jener Spekulationen über die Möglichkeiten ihrer Digitalisierung und der damit verbundenen kosmischen Evolution (Leben 3.0) werden, die den größten Teil von Tegmarks Buch in Anspruch nehmen. Denn einerseits gibt Tegmark in aller (naiven) Offenheit zu, daß wir es beim ‚Leben‘, bei der ‚Intelligenz‘ und beim ‚Bewußtsein‘ mit Phänomenen zu tun haben, über die wir wenig bis gar nichts wissen:
„Selbst unter intelligenten Intelligenzforschern herrscht keine Einigkeit über die Beschaffenheit von Intelligenz! Es gibt also eindeutig keine unumstrittene ‚korrekte‘ Definition von Intelligenz.“ (Tegmark 2017, S.80)
Und an anderer Stelle:
„Ähnlich wie bei ‚Leben‘ und ‚Intelligenz‘ gibt es keine eindeutig korrekte Definition des Wortes ‚Bewusstsein‘.“ (Tegmark 2017, S.421)
Doch andererseits macht Tegmark aus dieser Unkenntnis geradezu eine Tugend; denn er nimmt sich die Freiheit, die Begriffe so zu definieren, wie es ihm paßt, so daß sie mit der avisierten maschinellen Superintelligenz kompatibel sind. Er eliminiert aus ihnen alles, was sie an spezifisch menschlichen Merkmalen beinhalten. (Vgl. Tegmark 2017, S.43, 80, 421f.) Tegmark ist sogar noch stolz über dieses Definitionsparadox, das darin besteht, alle die Merkmale, die zur Definition des Bewußtseins gehören, aus seiner Definition von vornherein auszuschließen:
„Um wertschätzen zu können, wie umfassend unsere Definition des Bewusstseins ist, sollten Sie beachten, dass darin weder Verhalten, Wahrnehmung, Selbstbewusstsein, noch Emotionen und Aufmerksamkeit erwähnt werden.“ (Tegmark 2017, S.422)
Es ist also nicht überraschend, daß es unter den KI-Forschern zwar keine „Technikfeinde“ gibt (vgl. Tegmark 2017, S.68, 287), dafür aber „Techno-Skeptiker“, deren einziger Unterschied zu den „Digitalen Utopisten“, die an eine digitale Expansion des ‚Lebens‘ im Weltraum glauben (vgl. Tegmark 2017, S.51ff.), darin besteht, daß eine „übermenschliche KI“, die diese Expansion ermöglichen würde, „in den nächsten hundert Jahren nicht zu erwarten sei“, wir bis dahin also noch viel Zeit haben, uns Gedanken zu machen (vgl. Tegmark 2017, S.54). Sich selbst ordnet Tegmark der dritten Gruppe von KI-Forschern zu, der „nutzbringenden KI-Bewegung“ (beneficial AI movement), die davon ausgeht, daß vor der – letztlich unvermeidlichen – Realisierung einer Superintelligenz noch einige „entscheidende Fragen“ zu klären seien, nämlich wie man dieser Superintelligenz beibringen könne, dem Menschen zu nutzen, anstatt ihm zu schaden. (Vgl. Tegmark 2017, S.55ff.)

In diesen Fragen sind sich aber alle drei KI-Forschergruppen einig, so daß Tegmarks Einteilung der KI-Forschung in drei Gruppen letztlich belanglos ist. Alle sind unverbesserliche Optimisten – Tegmark zieht das Adjektiv ‚achtsam‘ vor – und halten nichts von Jonassens Heuristik der Furcht:
„Um ein achtsamer Optimist zu werden, ist es entscheidend, positive Visionen für die Zukunft zu entwickeln.“ (Tegmark 2917, S.485)
Dennoch gibt es etwas, vor dem auch Tegmark sich fürchtet. Nicht etwa vor der potentiellen Bedrohung durch eine außer Kontrolle geratene KI-Superintelligenz! Mit ein bißchen vorsorglicher Sicherheitsforschung sollte sie sich wohl eindämmen lassen. Auch nicht vor den Folgen einer Klimakatastrophe, die Tegmark gelegentlich mal am Rande erwähnt. Mit Hilfe des technologischen Fortschritts werden wir auch dieses Problem in den Griff kriegen. (Vgl. Tegmark 2017, S.499, Anm.4) – Wovor sich Tegmark wirklich fürchtet, das ist die „Kosmokalypse“ (Tegmark 2017, S.342), also der Untergang des Universums in „Zigmilliarden Jahren“:
„Ohne Technik steht unsere Auslöschung im kosmischen Kontext in einigen Zigmilliarden Jahren bevor, so dass das ganze Drama des Lebens in unserem Universum lediglich ein kurzes Aufblitzen von Schönheit, Leidenschaft und Bedeutung ist in einer annähernden Ewigkeit der Bedeutungslosigkeit, die niemand je erleben wird.“ (Tegmark 2017, S.367)
Die Kosmokalypse – und zwar ohne daß wir bis dahin eine bewußtseinsfähige Super-KI geschaffen haben, die möglicherweise sogar in der Lage wäre, auch noch den Untergang des Universums zu überleben – bildet für Tegmark den Anlaß für seine persönliche Version eines wissenschaftsethischen Imperativs: die Erschaffung einer Super-KI soll sein, um (digitales) Bewußtsein in allen Winkeln des Universums und darüberhinaus zu verbreiten!

Wer fängt hier an, mit Tegmark zu träumen?
Wer fürchtet sich hier mit dem Rezensenten vor der Furcht des KI-Forschers?
Wer teilt mit ihm die Sorge, daß solche kosmischen Visionen konkrete planetarische Bedrohungsszenarien wie den Klimawandel entwichten?

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Mittwoch, 3. Oktober 2018

Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Wahrer als Sein
3. Wissenschaft als Zunft oder performativer Widerspruch

Emanuele Coccia, der selbst Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris ist, positioniert sich sehr kritisch gegenüber der Universität. (Vgl. Coccia 2018, S.141ff.) Anstatt das Ideal der antiken „enkyklios paideia“, also einer „globalen, multidisziplinären, enzyklopädischen Bildung“ zu vertreten (vgl. Coccia 2018, S.142), ist die „universitas“ zu einer „Zunft“ degeneriert:
„Wissen heißt einer Zunft anzugehören. Der kognitive Akt wird damit durch eine juristische Bindung begründet und eine politische Zugehörigkeit, das Ideal des bios theoretikos wird unmittelbar und zwangsläufig mit socii geteilt. ... Die Spezialisierung ist die epistemologische Umsetzung eines korporatistischen Wissensideals – weil sich die Gelehrten zu einer rechtlich geschlossenen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben.“ (Vgl. Coccia 2018, S.143f.)
So sehr ich Coccias Kritik an den wissenschaftlichen Institutionen teile, so wenig stimme ich mit ihm darin überein, daß man die Disziplingrenzen auflösen müsse, entsprechend seiner Pflanzenphilosophie, derzufolge „alles in allem immanent ist“. (Vgl. Coccia 2018, S.94) Das Wissen ist nie einfach nur Wissen, sondern immer auch eine Methode, d.h. einer bestimmten Perspektive verpflichtet, sowohl des Forschers wie auch der Sache. Coccia hält diese methodische Bedingtheit alles Wissens aber für ein Problem, weil sie nicht zur Wahrheit führt. (Vgl. Coccia 2018, S.145) Was aber sollen wir unter ‚Wahrheit‘ verstehen?

Einerseits gibt es Coccia zufolge eine Wahrheit, die wahrer ist als das Sein: die Pflanzenwahrheit. (Vgl. Coccia 2018, S.150) Andererseits aber heißt es, „dass die Welt ein Raum ist, in dem Dinge und Ideen ganz heterogen, disparat, ja unvorhersagbar gemischt sind“. (Vgl. Coccia 2018, S.145) Wenn letzteres aber der Fall ist, kann die Pflanzenwahrheit nur eine Wahrheit unter anderen und keinesfalls vor den anderen ‚Wahrheiten‘ ontologisch irgendwie ausgezeichnet sein. Und gerade dann kommt es eben auf die Methode an, der Coccia keinerlei Bezug zur Wahrheit zugestehen will.

Tatsächlich soll die Wahrheit ein Exzeß sein, wie Coccia schreibt, nämlich ein „Wissensexzess“, der alle Disziplingrenzen einzureißen vermag. (Vgl. Coccia 2018, S.141) Wenn Coccia meint, damit einer Transdisziplinarität das Wort reden zu können, nämlich einer Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, der sie dient, hat er sich geirrt. Noch weniger ermöglicht so ein Exzeß Interdisziplinarität; denn ohne Disziplinarität gibt es sie nicht. So wenig wie jene Multidisziplinarität, die Coccia am antiken Bildungsideal so positiv zu würdigen scheint.

Jedenfalls macht das Ausspielen pflanzlicher gegen menschlicher Erkenntnisform keinen epistemologischen Sinn. Wenn die „Anthropologie“, wie Coccia schreibt, nichts mehr vom eigenen „sprachlichen Selbstwissen“ lernen können dürfen soll, sondern nur noch von den Strukturen einer Blüte (vgl. Coccia 2018, S.146), bewegen wir uns in einem performativen Widerspruch, weil alles, was wir noch sagen können, schon von der Struktur her im vorhinein nur noch falsch sein kann.

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Dienstag, 2. Oktober 2018

Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Wahrer als Sein
3. Wissenschaft als Zunft oder performativer Widerspruch

Emanuele Coccias „Philosophie der Pflanzen“ ist irgendwo zwischen Ontologie und Phänomenologie angesiedelt. Coccias Begriffe stammen teilweise aus beiden philosophischen Konzepten. So bezeichnet er z.B. seine „Pneumatologie“ (von ‚pneuma‘: Hauch) auch als „Phänomenologie der konkreten Existenz“. (Vgl. Coccia 2018, S.48) Und wenn er sich in das ‚Bewußtsein‘ der Pflanzen hineinzuversetzen versucht, erinnert das an phänomenologische Meditationen.

An die Ontologie erinnern Coccias Aussagen über den Wahrheitsgehalt seiner Pneumatologie: „Die Atmosphäre ist wahrer als das Sein.“ (Coccia 2018, S.150) – Die Atmosphäre wiederum bezeichnet Coccia als eine „ontologische Tatsache“. (Vgl. Coccia 2018, S.87)

Trotz solcher Anleihen aus Ontologie und Phänomenologie distanziert sich Coccia aber von den statischen Implikationen von Begriffen wie „Wesen“ und „Form“:
„Im Atem verbinden sich für einen Moment das Tier und der Kosmos und prägen eine andere Einheit als die, die Wesen oder Form markiert.“ (Coccia 2018, S.77)
Wesen und Form sind also nicht vereinbar mit dem universellen Fließen, von dem alles Lebendige ‚durchquert‘ wird, so daß Begriffe wie ‚Substanz‘ oder ‚Ding‘ ihre Gültigkeit verlieren; denn das „paradoxeste Merkmal des Atems“ ist seine „Substanzlosigkeit“. (Vgl. Coccia 2018, S.72) Der Atem bildet eine eigene Erkenntnisweise, in der nicht zwischen Subjekt und Objekt differenziert wird, weil sich im wechselseitigen Umfaßtsein von Lebensform und Atmosphäre Subjekt- und Objektposition immer wieder austauschen: „Man kann die Welt nur eratmen.“ (Coccia 2018, S.78)

Coccia versucht mit seiner Pneumatologie zwei Prinzipien, die sich gegenseitig ausschließen, zusammenzudenken: wechselseitige Durchdringung und Trennung. Das eine Prinzip dynamisiert die Grenze zwischen Innen und Außen so sehr, daß es sie letztlich auflöst:
„In jedem Klima ist das Verhältnis von Umfassendem und Umfasstem ständig reversibel: Was Ort ist, wird Umfasstes, was Umfasstes ist, wird Ort.“ (Coccia 2018, S.41)
Es gibt kein eigenes, individuelles Verhältnis zu dieser Grenze, nur die wechselseitige Durchquerung, die Coccia als „Mischung“ bezeichnet, um sie so von „Vermengung“, also dem bloßen Nebeneinander von Dingen, und „Verschmelzung“, also der Erzeugung einer neuen Form mit neuen Eigenschaften, zu unterscheiden. (Vgl. Coccia 2018, S.70ff.) Die Mischung ermöglicht das Zusammenwirken von Teilen in einem Ganzen, ohne daß die Teile ihre individuelle Form verlieren.

Die Mischung ermöglicht also eine Trennung in der Durchquerung: „... in eben dieser Bewegung (begründet) das Lebendige und die Welt ihre Trennung.“ (Vgl. Coccia 2018, S.77)

Es scheint also so etwas wie einen Hiatus, eine Diskontinuität in der Mischung zu geben, insofern „das Leben ein Bruch in der Asymmetrie zwischen Umfassendem und Umfasstem ist“. (Vgl. Coccia 2018, S.23) Aber das täuscht. Durchdringung und Trennung bilden in Coccias Pneumatologie nicht wirklich zwei verschiedene Prinzipien, sondern stehen unter dem übergreifenden Postulat kosmologischer Kontinuität, in der alle Materie und alles Leben miteinander verbunden sind:
„Die wahre Immanenz ist die, die jedes Ding innerhalb jedes anderen Dings existieren lässt. Alles in allem bedeutet, dass alles in allem immanent ist.“ (Coccia 2018, S.94)
Da Coccia die pflanzliche Sichtweise als Paradigma dieses „Alles in allem“ darstellt, bedeutet das zugleich, daß er auch die animalische Perspektive auf sie zurückführt. Das animalische Weltverhältnis wird nicht eigens gewürdigt. Damit geht auch die spezifisch menschliche Bewegungsfreiheit auf der Grenze zwischen Innen und Außen verloren, denn, so Coccia, es ist uns „unmöglich“, uns von unserem „Milieu zu befreien“. (Vgl. Coccia 2018. S.89) Das Milieu bzw. die ‚Sphäre‘ wird so zur Höhle des Platonischen Gleichnisses. Hans Blumenberg aber hatte seine Anthropologie noch vor allem an deren Ausgängen orientiert. (Vgl. Blumenberg: „Höhlenausgänge“ (1989))

Statt also die Humanität zu würdigen oder sie auch nur zu reflektieren, wird dem Menschen ein antispezietistischer „Chauvinismus“ unterstellt:
„Unser tierische Chauvinismus() weigert sich, das Terrain einer ‚Tiersprache‘ zu verlassen, ‚die für eine Bezugnahme auf eine Pflanzenwahrheit ungeeignet ist‘.() In diesem Sinn ist der antispeziesistische (Schreibweise des Autors – DZ) Animalismus nur ein Anthropozentrismus unter Einbeziehung des Darwinismus ...“ (Coccia 2018,S.16)
Dieser Chauvinismus bezieht sich nicht nur auf das Ignorieren von Pflanzenwahrheiten, neben denen es auch noch animalische Wahrheiten geben könnte, denn wie schon erwähnt: „Die Atmosphäre ist wahrer als das Sein.“ (Coccia 2018, S.150) – Wo Coccias Pneumatologie die Anthropologie hätte bereichern und ergänzen können, wird diese Anthropologie im Zeichen pflanzlich-kosmischer Kontinuität gleich ganz abgeschafft. Dabei verstrickt sich Coccia in begriffliche Widersprüche. Er konfrontiert zwei seiner Ansicht nach sich gegenseitig ausschließende philosophische Perspektiven, Husserls Geozentrismus (vgl. Coccia 2018, S.115ff.) und den Heliozentrismus von Kopernikus (vgl. Coccia 2018, S.118ff.) und schlägt sich dabei ganz auf die Seite des Heliozentrismusses, den er für die kosmische Dimension in Anspruch nimmt. Und er radikalisiert diesen Heliozentrismus sogar noch zu einer Astrologie (also nicht Astronomie), in der sich Gestirne und irdische Lebensformen wechselseitig beeinflussen (durchqueren). (Vgl. Coccia 2018, S.117f.)

Dem Husserlschen Geozentrismus wirft Coccia seine Bodenverhaftetheit vor. Wer mit seinen zwei Füßen auf dem Erdboden steht, widersteht dem universellen Fließen und Zirkulieren und macht die Erde zu einem vom übrigen Kosmos abgegrenzten Ort. (Vgl. Coccia 2018, S.115f.) Das widerspricht aber Coccia zufolge der pflanzlichen Anatomie, die mit Wurzel und Blatt in beiden Sphären beheimatet ist: der Erde und dem Himmel. Sie ist es, die die wechselseitige Durchquerung von Erde und Kosmos ermöglicht, und die Erde in einen „astralen Raum“ verwandelt. (Vgl. Coccia 2018, S.122)

Plötzlich werden also die Weltverhältnisse umgekehrt: nicht mehr die Pflanze ist bewegungslos an ihren Ort gebunden, sondern der Mensch, der mit seinen beiden Füßen auf dem Erdboden steht. Das ist nicht einfach nur paradox; hier stimmen vielmehr die Begriffe nicht mehr. Weitere Widersprüche tun sich dort auf, wo Coccia seltsamerweise die Unbewohnbarkeit des Kosmos mit der Bewohnbarkeit der Erde wechselseitig miteinander zu verbinden versucht:
„... dass die Erde ein astraler Raum ist, bedeutet anzuerkennen, dass es auch Unbewohnbares gibt, dass der Raum nie endgültig bewohnbar sein wird.“ (Coccia 2018, S.122)
Anstatt also seinerseits anzuerkennen, daß die geozentrische Perspektive durchaus ein Bewußtsein davon beinhaltet, daß die Erde eine winzige Oase in den lebensfeindlichen Weiten des Weltraums ist, soll es nun gerade genau umgekehrt sein: Nur wenn wir anerkennen, daß die Erde ein astraler Raum sei, soll das zur Erkenntnis von der zumindestens teilweisen Unbewohnbarkeit vom Rest des Universums führen! – Die Logik ist verquer: die Erde ist als astraler Raum Teil des Kosmos, und das ist ein Beleg dafür, daß der Kosmos nie endgültig bewohnbar sein wird?

Dieser kognitiven Zumutung fügt Coccia sogleich noch ein weiteres ‚Paradox‘ hinzu:
„Jede Behausung tendiert zur Unbewohnbarkeit, wird Himmel und nicht Haus.“ (Coccia 2018, S.122)
Auch wenn Coccias Pneumatologie auf dem Umstand der Mischung beruht, in der alles in allem enthalten ist, heißt das noch lange nicht, daß sich auch alle Begriffe einfach so mischen lassen! Der Begriff ‚Haus‘ beinhaltet denknotwendigerweise seine Bewohnbarkeit. Wenn ein Haus nicht mehr bewohnbar ist, haben wir es mit einer Ruine zu tun und nicht mit einem Haus. Die Ruine ist die einzige Tendenz eines Hauses, mit der es aufhört, ein Haus zu sein. In diese Ruine mag dann durchaus der Himmel hineinleuchten. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß das ehemalige Haus jetzt zum Himmel geworden ist. Sollte in diesem Sinne auch die Erde zum ‚Himmel‘ werden, hätte sie ihre verletzliche Hülle, Ozonschicht und Magnetfeld, verloren und wäre tatsächlich endgültig unbewohnbar. Für Pflanzen übrigens auch.

Es ist also allererst der Geozentrismus – also das Faktum der einzigartigen Bewohnbarkeit unserer Erde –, der bzw. das uns die Unbewohnbarkeit des Universums zu denken erlaubt. Kein ‚Fluidum‘ vermag zwischen den Gestirnen und uns auf der Erde zu vermitteln, wenn die Erde vielleicht einmal unbewohnbar geworden sein wird.

Die Nivellierung des Tierisch-Menschlichen auf Pflanzenphysiologie beinhaltet auch ein Vernunftkonzept, das merkwürdigerweise der naturwissenschaftlichen Ratio sehr nahesteht. Coccia verzichtet zwar weitgehend auf die Subjekt-Objekt-Differenz, aber das ist den Naturwissenschaftlern, die alles Subjektive unter Irrationalitätsverdacht stellen, gar nicht so fremd, wie man meinen könnte. Coccia ist jedenfalls ebenfalls der Meinung, daß man so etwas wie ein schöpferisches Subjekt nicht braucht, um bei der Gestaltung und Umgestaltung von Welt erfolgreich zu sein:
„Der Abstraktion des Schöpfens und der Technik – beides kann Formen gestalten, sofern Schöpfer und Produzent des Umformprozesses ausgeschlossen bleiben – stellt die Pflanze die Unmittelbarkeit der Metamorphose gegenüber: Etwas zu erzeugen, bedeutet immer, sich selbst umzuformen.“ (Cocca 2018, S.25)
Das klingt zwar irgendwie spirituell, meint aber letztlich nur, daß die Pflanze auf ein Schöpfer- und Produzentensubjekt ganz gut verzichten kann. Trotzdem geht sie bei ihren Umformungsprozessen aber wie ein menschlicher Ingenieur vor, der die Realität ‚modelliert‘. Auch die Pflanzen greifen Coccia zufolge auf in den Erbanlagen vorrätige Modelle zurück, anhand deren sie Formen in die Welt setzen (vgl. Coccia 1018, S.25), und ihre Produktionsstätte, ihre Fabrik, sind Blüte und Samen:
„Sie (die Blüte – DZ) ist an sich der vollkommene Ausdruck für den vollständigen Zusammenfall von Leben und Technik, Materie und Vorstellungskraft, Geist und Ausdehnung.“ (Coccia 2018, S.130)
Die Blüte (und der Samen) bildet Coccia zufolge die „paradigmatische Form der Rationalität“:
„Denken heißt immer, sich in die Sphäre der Äußerlichkeiten zu begeben, nicht um eine verborgene Innerlichkeit auszudrücken, nicht um zu sprechen, etwas zu sagen, sondern um verschiedene Wesen kommunizieren zu lassen.“ (Vgl. Coccia 2018, S.137)
Damit wird die Intelligenz bzw. das Bewußtsein von jeder Notwendigkeit ‚sich auszudrücken‘, also von der Expressivität als wiederum der paradigmatischen Form der spezifisch menschlichen Intentionalität, befreit. An ihre Stelle treten ‚Algorithmen‘ wie der „Gencode“, den Coccia dann sogar als „Wissen“ mit dem „Wesen“ zusammenfallen läßt, womit er vollends in eine ontologische Redeweise zurückfällt, die er an anderer Stelle eigentlich schon als obsolet und reformbedürftig dargestellt hatte:
„Während das Bewusstsein beim Menschen oder beim Tier ein akzidentelles, vergängliches Faktum ist, fällt im Samen (und man könnte sagen auch im Gencode) das Wissen mit dem Wesen zusammen, dem Leben, mit Kraft und Tat an sich.() Die Gene sind das Gehirn der Materie, sein Geist.“ (Coccia 2018, S.132)
Trotz seiner ‚radikalen‘ Haltung hinsichtlich des tierisch-menschlichen Chauvinismusses verträgt sich Coccias Pflanzenphilosophie erstaunlich gut mit dem aktuellen technisch-naturwissenschaftlichen Mainstream. Auch was die anscheinend unausrottbaren reproduktionsmedizinischen ‚Irrtümer‘ betrifft: denn es ist nicht der Gencode, der das neue Leben ‚produziert‘ und auf den Coccia den Samen zu reduzieren versucht, sondern die Zelle.

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