„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Die ersten vier Textseiten seines zweiten Essays „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86) befassen sich hauptsächlich mit dem wissenschaftlichen Status, den Agamben der politischen Philosophie von Thomas Hobbes (1588-1679) eingeräumt wissen will. (Vgl. Agamben 2016, S.43) Zweifel daran weckt eine Äußerung von Carl Schmitt (1888-1985), der für Agamben bei der Interpretation des „Leviathan“ (1651) eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) im ersten Essay zur griechischen Antike. Schmitt behauptet:
„Hobbes hatte, wie alle großen Denker seiner Zeit, Sinn für esoterische Verhüllungen.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.41)
Wissenschaftliche Texte können nun aber niemals esoterisch sein. Andernfalls verlören sie nämlich sofort ihren wissenschaftlichen Anspruch. Carl Schmitt hatte seine Feststellung auf das Frontispiz zu Hobbes‘ „Leviathan“ bezogen, einer Allegorie über den Staat. Agamben befaßt sich nun, wie gesagt über vier Seiten hinweg, mit der Frage, inwiefern die „emblematische Literatur“, also die symbolisch-bildliche Ausgestaltung von abstrakten Gedanken und Ideen, wissenschaftlich sein kann.

Für jemanden wie den Rezensenten ist das erstaunlich. Immerhin hat Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem Buch zur „Theorie der Unbegrifflichkeit“ (2007) und auch schon in einer früheren Abhandlung zur Metapherologie (1960) Bilder und Metaphern in einen engen Kontext zur Genese von wissenschaftlichen Begriffen gestellt. Wieso glaubt also Agamben, er müsse die Wissenschaftstauglichkeit von Allegorien nochmal eigens betonen?

Nun sind Allegorien selbstverständlich keine Metaphern. Anders als Metaphern bedürfen Allegorien eines Schlüssels, der bei ihrer Entschlüsselung hilft. Allegorien bilden also tatsächlich eine Art Geheimcode, wenn auch viele Allegorien so allgemein verbreitet und verständlich sind, daß dieses Entschlüsselungsproblem oft genug nicht weiter ins Gewicht fällt. Aber die Worte einer Sprache – und dazu gehören eben auch Metaphern – brauchen keinen besonderen Schlüssel, um verständlich zu sein. Es reicht, sprechen zu können.

Carl Schmitt hatte also mit seinem Hinweis auf die Esoterik durchaus Recht. Trotzdem kann sich das Allegorische mit dem exoterischen Anspruch der Wissenschaft durchaus vertragen, wenn wir nur über den Schlüssel zu seiner Dechiffrierung verfügen. Warum also meint Agamben trotzdem, eigens hervorheben zu müssen, daß wir es bei Hobbes’ „Leviathan“ mit einer wissenschaftlichen Abhandlung zu tun haben?

Das Rätsel löste sich für mich, als ich feststellte, daß für Agamben nicht Hobbes, sondern Schmitt das Problem ist; und zwar gerade weil Schmitt für ihn so ein wichtiger Gewährsmann bei der Interpretation von Hobbes ist. Schmitt war ein ausgewachsener Antisemit. Das zeigt sich an einer Stelle in der Schmittschen Interpretation von Hobbes, wo er auf die Gefahr von so wirkmächtigen Bildern wie dem Leviathan hinweist:
„Wer solche Bilder benutzt, gerät leicht in die Rolle eines Magiers, der Gewalten herbeiruft, denen weder sein Arm, noch sein Auge, noch das sonstige Maß seiner menschlichen Kraft gewachsen ist. Er läuft dann Gefahr, statt eines Verbündeten einen herzlosen Dämon zu treffen, der ihn seinen Feinden in die Hände liefert ... Die überkommene jüdische Deutung schlug auf den Leviathan des Hobbes zurück.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.70)
Zwischen den ‚Feinden‘ und ‚Juden‘ („jüdische Deutung“) befinden sich zwar drei Auslassungspunkte, so daß die direkte Verbindung zwischen beiden fraglich bleibt, aber Schmitt spricht hier doch die Problematik an, daß die Nutzung biblischer Bilder jüdische Interpretationstraditionen wachruft, die dann von „herzlosen Dämonen“ – sprich: politischen Gegnern – auf die eine oder andere Weise gegen den Nutzer gewendet werden können. Der implizite Antisemitismus Carl Schmitts wird von Agamben an anderer Stelle durch ein weiteres Zitat explizit gemacht:
„Die Weltgeschichte erscheint als ein Kampf der heidnischen Völker untereinander. Im besonderen kämpft der Leviathan, das sind die Seemächte, gegen die Landmächte, den Behemoth ... Die Juden aber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erde sich gegenseitig töten; für sie ist dieses gegenseitige ‚Schächten und Schlachten‘ gesetzmäßig und ‚koscher‘. Daher essen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon ...“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.72)
Agamben weist ausdrücklich auf den Antisemitismus von Carl Schmitt hin, der die talmudische Überlieferung zum Leviathan „vorsätzlich verzerrt“. (Vgl. Agamben 2016, S.72)

Von diesen Textstellen her wird verständlich, warum Agamben sich so viel Mühe gibt, Hobbes’ allegorische Konstruktion des Staates als Leviathan vor dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit zu bewahren. Carl Schmitt ist, wie gesagt, nicht irgendwer, sondern spielt in Agambens Interpretation die Rolle eines gewichtigen Gewährsmanns. Jeder Verdacht auf antisemitische Beiklänge muß von vornherein ausgeschaltet werden.

Nun hätte Agamben es sich auch einfacher machen und einfach die antisemitischen Äußerungen von Schmitt verschweigen können. Schließlich kommt er auch in „Homo sacer“ (1995/2016), wo oft genug von Schmitt die Rede ist, nicht auf dessen Antisemitismus zu sprechen. Und auch in der Argumentation seines aktuellen Essays spielt Schmitts Antisemitismus keine Rolle. Aber 2014 sind die ersten vier von neun schwarzen Heften von Martin Heidegger (1889-1976) erschienen, und seitdem stehen seine nationalsozialistischen Verstrickungen und sein Antisemitismus in Intellektuellenkreisen wieder auf der Tagesordnung. Agambens Essays wurden 2015 veröffentlicht, also ein Jahr nach den schwarzen Heften. Zwar handelt es sich dabei um die Zusammenfassungen von zwei im Jahr 2001 gehaltenen Seminaren; aber eine aktualisierende Stellungnahme zum wissenschaftlichen Status der Hobbesschen Allegorie wird Agamben angesichts der ersten Reaktionen auf die schwarzen Hefte gerade auch hinsichtlich der Person von Carl Schmitt als opportun erschienen sein.

Agambens Versuch einer Klarstellung ist respektabel und durchaus anerkennenswert. Allerdings wäre mehr zu erwarten gewesen. Es genügt nicht, den Antisemitismus beim Namen zu nennen und sich so davon zu distanzieren. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Agamben auch herausgearbeitet hätte, wieso denn Hobbes’ „Leviathan“ eine so brauchbare Vorlage für billige Antisemitismen aller Art liefert. Das wäre um so dringlicher gewesen, als von dieser Anfälligkeit auch der Begriff der Biopolitik, wie Agamben ihn in „Homo sacer“ (1995/2016) diskutiert, infiziert ist.

Die Gefahr einer biologischen Interpretation der Politik und des Staates zeigt sich insbesondere an der Stelle, wo Agamben auf den seltsamen Umstand hinweist, daß die Stadt auf dem Frontispiz des „Leviathan“ leer ist. Es befinden sich nur zwei Personen in dieser Stadt: ein Wächter und ein Arzt. (Vgl. Agamben 2016, S.62ff.) Agamben interpretiert diesen Umstand dahingehend, daß die aufgelöste Menge sofort, nachdem sie ihren Souverän bestimmt hat, politisch unsichtbar wird. Sie hat von nun an keinerlei politische Bedeutung mehr. Diese Unsichtbarkeit läßt sich bildlich nur durch die Abwesenheit der aufgelösten Menge darstellen: die Stadt ist also leer.

Darauf, daß die aufgelöste Menge dennoch die Stadt bewohnt, weisen der Wächter und der Arzt hin: der Wächter paßt auf, daß die Menge unsichtbar bleibt (also nicht politisch aktiv wird), und der Arzt bekämpft das Eindringen von Seuchen (also den inneren Feind):
„Aus diesem Zusammenhang stammt die Vorstellung, dass die dissoluta multitudine, die unter der Herrschaft des Leviathan die Stadt bewohnt, mit der zu behandelnden und zu regierenden Masse der Pestkranken verglichen werden kann.“ (Agamben 2016, S.64)
Vor diesem hygienischen Hintergrund liefert die Hobbessche Allegorie für jeglichen Antisemitismus ein äußerst brauchbares Material. Ihre Mißbrauchbarkeit liegt angesichts der Katastrophe des 20. Jhdts. auf der Hand, umso mehr als, wie im vorausgegangenen Blogpost festzustellen war, der einzelne Mensch in dieser ‚Biopolitik‘ keine Rolle spielt. Zwar plädiert Agamben in „Homo sacer“ (1995/2016) für eine „neue Politik“, die „Nazismus und Faschismus“ zu überwinden vermag und „im wesentlichen noch zu erfinden ist“ (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.21), aber diese Politik muß Agamben zufolge bei den „ungewissen und namenlosen Terrains“, den „unwegsamen Zonen der Unentschiedenheit“ zwischen Politik und Biopolitik ansetzen (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.196). Auch die neue Politik kommt nicht um die Biopolitik und den Versuch einer Verschmelzung von zōē und bíos herum. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.197) Damit verbleibt Agamben im Bannkreis dessen, was er seinem eigenen Bekunden zufolge überwinden will.

Da aber der einzelne Mensch in Agambens Analysen zur Inklusion und Exklusion des ‚einfachen‘ Lebens keine Rolle spielt, sind solche Absichtserklärungen hinsichtlich einer neuen Politik sowieso wohlfeil. Die Frage, inwiefern Politik über den einzelnen Menschen hinweggehen darf bzw. über ihn verfügen darf, gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich der Biopolitik. Agamben sollte also schon etwas mehr bieten, als Schmitts antisemitische Interpretation von Hobbes’ „Leviathan“ abzuweisen und ansonsten auf die Kompetenz von Lesern zu hoffen, „die in der Lage sind, Details und Eigenheiten der Darstellung aufzuspüren, wie das eigentlich für jeden Leser gelten sollte, der diesen Namen verdient“. (Vgl. Agamben 2016, S.43)

Es geht nicht darum, an den guten Willen und die Kompetenz des Lesers zu appellieren. Es geht darum, für den eigenen Text und seinen Inhalt – die leere Stadt und ihre Implikationen – Verantwortung zu übernehmen!

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Samstag, 2. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

In meinem vorangegangenen Post hatte ich auf begriffliche Parallelen zwischen Agambens (noch fehlender) Theorie des Bürgerkriegs und Plessners Anthropologie des Körperleibs hingewiesen. Dieser Parallelen wurde ich mir an der Stelle bewußt, wo Agamben den Begriff der „stasis“ aus der Verbindung mit dem „oikos“ löst und auf die „Schwelle“ zwischen „oikos“ und „polis“ verlegt. (Vgl. Agamben 2016, S.25) Diese Schwelle bildet zugleich einen Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen. (Vgl. Agamben 2016, S.25 und S.33)

Wir haben hier alle Ingredienzien zusammen, aus denen sich eine Theorie des Körperleibs ergibt, wie sie Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt hat. Der Körperleib bildet Plessner zufolge eine ‚Grenze‘ (Schwelle) zwischen Innen und Außen. Innen und Außen bilden eine Doppelaspektivität (Ununterscheidbarkeit bzw. Vieldeutigkeit), die durch die Perspektive eines auf der Grenze exzentrisch positionierten Subjekts bestimmt wird. Als diese exzentrische Positionalität befinden wir uns ständig im „Streit“ (stasis) mit unserem Körperleib. In „Homo sacer“ (1995/2016) deutet sich an zentraler Stelle sogar eine Parallele zu Plessners ‚Seele‘ an: das „nackte Leben“, die zōē, wird in der polis gleichzeitig ein- und ausgeschlossen. Diese logische Figur entspricht der Plessnerschen Seele, die sich gleichzeitig zeigt und verbirgt. Agamben spricht dem einfachen Leben sogar eine Expressivität zu, indem er ihr eine Stimme zuordnet. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.17f.)

Diese Parallelen setzen sich im zweiten Essay (Agamben 2016, S.39-86) fort, wo Agamben Thomas Hobbes (1588-1679) bescheinigt, ein Denker des Körpers zu sein: „Vielleicht ist der grundlegende Begriff in Hobbes’ Denken der des ‚Körpers‘ (body), seine gesamte Philosophie eine Meditation de corpore ...“ (Agamben 2016, S.60) – Von diesem Zusammenhang her läßt sich eine Linie zur schon erwähnten exzentrischen Positionalität ziehen, da sich der politische Körper des Souveräns nicht in der von ihm regierten Stadt befindet, sondern, wie der mythische Leviathan, „in einem Niemandsland oder im Meer“:
„Der Commonwealth, der body political stimmt nicht mit dem physischen Körper der Stadt überein.“ (Agamben 2016, S.51)
Hier zeigt sich aber auch schon der wesentliche Unterschied zu Plessners Anthropologie: Agamben unterscheidet mit Hobbes zwischen einem politischen und einem physischen Körper, und er trennt diese beiden Körper auch räumlich, indem er sie verschiedenen Sphären zuordnet: dem Meer und dem Land. Dabei ist das Meer die Sphäre des Leviathans, der dem biblischen Mythos zufolge ein Fisch bzw. ein Wal ist, und das Land ist die Sphäre des Behemoth, der dem biblischen Mythos zufolge ein Stier ist.

Wir haben es also beim Hobbesschen ‚Körper‘ mit einem höchst allegorischen Konstrukt zu tun, dem zufolge sich im Meer, der Sphäre des Souveräns, das „Volk“ aufhält, und das Land von der „Menge“ bewohnt wird, einer prekären Entität; denn sie ‚bewohnt‘ das Land bzw. die Stadt nicht wirklich, obwohl sie sich in ihr aufhält. In politischer Hinsicht ist die Menge nämlich unsichtbar, d.h. bedeutungslos. Agamben spricht von einem „Graben“ zwischen dem „body political“ und der „reale(n), aber politisch unsichtbare(n) Menge“ (vgl. Agamben 2016, S.80): eine weitere Parallele zu Plessner, der von einem „Hiatus“ bzw. einer „Kluft“ zwischen Innen und Außen spricht. „Volk“ und „Menge“ entsprechen in der Hobbesschen Verhältnisbestimmung dem Verhältnis von „Leib“ und „Körper“ bei Plessner, der zwischen dem Körper, den wir haben, und dem Leib, der wir sind, unterscheidet. Unsichtbar ist hier aber nur die aufgelöste Menge in der Stadt, die zudem nicht expressiv werden darf, während der ‚Leib‘, das Volk als Souverän, zwar sichtbar ist, aber trotzdem abwesend.

Die Hobbessche Verhältnisbestimmung von Volk und Menge besteht in einem Prozeß, der zwar kreisförmig ist, sich aber nicht zu einem Kreis schließt. (Vgl. Agamben 2016, S.61) Dabei unterscheidet Hobbes zwischen einer ungeeinten („disunited“) und einer aufgelösten („dissoluta“) Menge. (Vgl. ebenda) Die ungeeinte Menge geht in dem Prozeß der Staatsbildung dem Volk voran. Sie bildet gewissermaßen einen Naturzustand, ähnlich dem, wie ihn Rousseau mit dem Mythos vom solitär lebenden ‚Wilden‘ beschreibt. Indem die ungeeinte Menge einen Souverän bestimmt – in der Monarchie eine einzelne reale Person, in der Demokratie eine repräsentative Versammlung bzw. einen Rat – konstituiert sie sich als Volk. Allerdings haben wir es hier mit einem der Rousseauschen Mensch/Bürger-Aporie gleichenden Paradox zu tun. So wenig wie bei Rousseau (1712-1778) der Mensch zugleich auch Bürger und der Bürger zugleich auch Mensch sein kann, überdauert auch die Menge ihre Konstitution als Volk. Sofort nach dem souveränen Akt der Staatsbildung löst sie sich als Volk wieder auf und wird nun zur aufgelösten Menge, die fortan als politische Entität unsichtbar ist. An ihre Stelle tritt der König bzw. das Parlament, das nun das Volk ist. Hobbes spricht vom Paradox des „populus-rex“, des Volkskönigs. (Vgl. ebenda)

In einem schönen Zitat, das mir sehr gefällt, weist Hobbes auf den ebenfalls paradoxen Umstand hin, daß Populisten sich niemals an das Volk wenden, von dem sie behaupten, dessen Willen zu kennen, sondern immer nur an die aufgelöste Menge, die sie zum Aufstand gegen das legitime Volk aufrufen:
„Gemeine Leute und andere, die den Sachverhalt nicht erfassen, sprechen von der Menge immer als vom Volk ... und das Volk wolle dies, und jenes wolle es nicht, wie es gerade unruhigen und unzufriedenen Untertanen passt.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.57)
Die Abgabe der Souveränität an einen politischen Körper findet in einer Monarchie nur einmal statt, in einer Demokratie in regelmäßigen Abständen bei Wahlen. Jedesmal wenn sich ein neues Parlament konstituiert, wird das Volk wieder zur aufgelösten Menge. Niemals aber kehrt diese Menge in den Naturzustand zurück: sie wird nie mehr zur ungeeinten Menge. Der Kreis schließt sich nicht. An die Stelle des Naturzustands tritt der Bürgerkrieg, der immer dann beginnt, wenn die aufgelöste Menge den Souverän absetzen will:
„Das Paradox populus-rex besteht aus einem Prozess, der von einer Menge ausgeht und zu einer Menge zurückkehrt: Aber die multitudo dissoluta, in die das Volk sich auflöst, kann nicht mit der disunited multitude zusammenfallen und den Anspruch erheben, einen neuen Souverän zu bestimmen. Der Kreislauf ungeeinte Menge-Volk / König-aufgelöste Menge ist an einer Stelle unterbrochen, und der Versuch, zum Ursprungszustand zurückzukehren, fällt mit dem Bürgerkrieg zusammen.“ (Agamben 2016, S.61)

In einer Graphik zeichnet Agamben diesen Prozeß nach und kennzeichnet die Stelle, an der der Kreislauf durch den Bürgerkrieg unterbrochen wird. Ich habe die Graphik etwas modifiziert, indem ich vom „Volk-König“ einen Pfeil in Richtung auf den Menschen hinzugefügt habe, um deutlich zu machen, was in Agamben/Hobbes’ Bestimmung des politischen Körpers fehlt. So ist z.B. im deutschen Grundgesetz ausdrücklich nicht vom Bürger und seinen Rechten, sondern vom Menschen und seinen Rechten die Rede. Damit soll gerade jene Exklusion vermieden werden, die vom Begriff des Volkes ausgeht:
„Das Volk ist der Souverän, muss sich dafür aber von sich selbst scheiden und sich in eine ‚Menge‘ und ein ‚Volk‘ teilen.“ (Agamben 2016, S.57)
Letztlich besteht die unsichtbare Menge, die von der politischen Willensbildung (abgesehen von der Einsetzung des Souveräns) ausgeschlossen ist, aus Menschen. Aber um dessen Rechte geht es in Hobbes Staatstheorie nicht: weder aus der Sicht des Souveräns noch aus der Sicht der Populisten.

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Freitag, 1. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Im ersten von zwei Essays in seinem Buch „Stasis“ (2016) hält Giorgio Agamben fest, daß es ihm um die „Auswirkungen“ einer Theorie des Bürgerkrieges „im politischen Denken des Westens“ gehe. (Vgl. Agamben 2016, S.14) Dessen ungeachtet konstatiert Agamben, daß es eine solche Theorie nicht gibt. (Vgl. Agamben 2016, S.11) Stellvertretend für so eine bis heute fehlende „Stasiologie“ (ebenda) bezieht sich Agamben in seinen beiden Essays auf „Zeugnisse() der Philosophen und Historiker des klassischen Griechenland“ und auf Hobbes’ „Leviathan“. (Vgl. Agamben 2016, S.14f.) Ich werde in diesem und in den folgenden zwei Besprechungen nacheinander auf diese beiden Essays eingehen: auf „Stasis“ (Agamben 2016, S.11-36) und auf „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86), die zwei im Oktober 2001 in Princeton University gehaltene Seminare wiedergeben.

Zunächst möchte ich auf den Begriff der „Stasis“ zu sprechen kommen. Bei der „Stasiologie“, das sei eigens für deutsche Leser angemerkt, handelt es sich keineswegs um eine Theorie der Staatssicherheit (DDR), sondern, wie schon erwähnt, um eine noch ausstehende „Theorie des Bürgerkriegs“. Das griechische Wort „Stasis“ bezeichnet den Konflikt in einer Familie (oikos) bzw. innerhalb einer Stadt (polis); es geht also im Unterschied zum Krieg, der sich gegen einen äußeren Feind richtet, um einen inneren Feind. Der Begriff der „Stasis“ ist, wie Agamben mit Berufung auf die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) festhält, vieldeutig. Loraux führt den Begriff und seine Vieldeutigkeit auf den „oikos“, auf das Haus bzw. auf die Familie zurück, die die „polis“, die Stadt, zugleich bedroht und erneuert:
„Die Vieldeutigkeit der stasis ergibt sich Loraux zufolge also aus der Vieldeutigkeit des oikos, mit dem sie wesensgleich ist. Der Bürgerkrieg ist stasis emphylos, ein Konflikt, der dem phylon, der Blutsverwandtschaft eignet ...“ (Agamben 2016, S.17f.)
Die Vieldeutigkeit ergibt sich daraus, daß der oikos (Familie/Blutsverwandtschaft) sowohl für den Konflikt in der Polis verantwortlich ist wie auch das Vorbild für die Versöhnung der zerstrittenen Parteien bildet. (Agamben 2016, S.17)

Agamben selbst modifiziert Lorauxs These dahingehend, daß er die „stasis“ nicht als Moment eines familiären Konflikts deutet, sondern auf der „Schwelle“ zwischen dem Politischen und dem Unpolitischen, zwischen „Innen und Außen“ verortet (vgl. Agamben 2016, S.33); wobei hier nicht ganz klar ist, was ‚innen‘ und was ‚außen‘ ist, denn der oikos ist der polis genauso außen wie die polis dem oikos. Dennoch wird es an dieser Stelle für mich insofern interessant, als mich Agambens Begrifflichkeit an Helmuth Plessners Anthropologie des Körperleibs erinnert. Hier fallen mir sofort Begriffe wie „Doppelaspektivität“ und „exzentrische Positionalität“ ein, und nicht zuletzt Plessners kritische Verhältnisbestimmung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein weiterer moderner Vertreter der Staats- und Gesellschaftstheorie wäre Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der in einem Text, dem es um die Auswirkungen einer Theorie des Bürgerkriegs auf das moderne Denken geht, auf keinen Fall vergessen werden darf! Auf Plessners Körperleib werde ich im nächsten Blogpost nochmal detaillierter zurückkommen.

Aber diese Traditionslinien des modernen Denkens interessieren Agamben nicht. Stattdessen heißt es mit Bezug auf Jürgen Habermas, den er allerdings namentlich nicht erwähnt:
„Die Ausrichtung auf den Konsens, die heute gleichermaßen die politische Theorie und Praxis dominiert, scheint inkompatibel mit der ernsthaften Erforschung eines Phänomens, das ebenso alt ist, wie die westliche Demokratie.“ (Agamben 2016, S.11)
So kurz und so abrupt sägt Agamben einen ganzen Ast vom Baum der Erkenntnis ab. Weitere Erörterungen in diese Richtung bleiben aus.

Dabei ist der Begriff der „stasis“ vielschichtiger, als es Agamben lieb sein kann. Die ursprüngliche Bedeutung, ‚Stauung‘, wie sie Agamben für die Detektorfunktion der „stasis“ in Anspruch nimmt – die „stasis“ zeigt Stauungen bzw. Spannungen im Verhältnis zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt an (vgl. Agamben 2016, S.21) –, wird in unserem heutigen Alltagsgebrauch des Wortes eher auf einen Zustand des tiefen Schlafs bezogen. Eine andere damit zusammenhängende Bedeutung ist ‚stehen‘ bzw. ‚für etwas einstehen‘, im Sinne von Zeugnis ablegen oder einen Eid schwören. (Vgl. Agamben 2016, S.24) Die „stasis“ hat demnach neben der politischen und medizinischen auch eine anthropologische Bedeutung, im Sinne des aufrechten Gangs, wie ihn Hans Blumenberg (1920-1996) thematisiert. Aber auch diese Deutungslinie interessiert Agamben nicht. Es ließe sich wohl nicht vermeiden, das Individuum selbst in den Blick zu nehmen, das Stand hält und sich der Kollektivierung, ob nun durch die Familie oder durch die Stadt, widersetzt.

Das von mir gebrauchte Bild vom abgesägten Ast am Baum der Erkenntnis meint genau diese Traditionslinie. Sowohl Plessner als auch Rousseau verwandeln die antike Problemstellung zwischen Familie und Stadt – und, wie wir in den nächsten beiden Blogsposts sehen werden, auch die Hobbessche Problemstellung zwischen Menge und Volk – in eine Problemstellung zwischen Individuum und Gesellschaft (Rousseau) und zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Plessner). Beide verlagern den Konflikt, die „stasis“, vom Kollektiv ins Individuum. An die Stelle des Bürgerkriegs treten bei Rousseau die Aporie zwischen Mensch und Bürger und bei Plessner das exzentrisch positionierte Individuum, das sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bewegt. Bei beiden bildet das Individuum selbst die „Schwelle“, die für Agamben die „stasis“ ist.

Markiert die „stasis“ also nun eine Schwelle zwischen zwei Formen der Kollektivität oder den Beginn einer individuellen Genese? Agamben steht für die kollektive Variante und ontologisiert sie zugleich, also den Konflikt zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt, indem er ihn als immer wiederkehrenden Konflikt auf Dauer stellt:
Stasis/Familie/Stadt ... diese Begriffe ordnen sich untereinander nach Kräfteverhältnissen, die wesentlich mehr von Wiederkehr und Überschneidung als von irgendeiner Form eines fortlaufenden Entwicklungsprozesses geprägt sind.“ (Agamben 2016, S.20)
Und Agamben fügt hinzu, daß die „Geschichtsschreibung“ von dem „Allgemeinplatz einer zwangsläufigen Überwindung des oikos durch die Stadt“ Abschied nehmen müsse. (Vgl. ebenda) Die „stasis“, die ja wesensmäßig mit dem „oikos“ verbunden ist (vgl. Agamben 2016, S.17), sorgt also wie ein anthropologisches Naturgesetz für die ewige Wiederkehr des immer gleichen kollektiven Konflikts.

Inwiefern ist diese Anthropologie bedenklich? Inwiefern unterscheidet sie sich von den Anthropologien von Rousseau und Plessner? – Rousseau und Plessner haben die Problemstellung der griechischen Antike und von Hobbes aufgegriffen und entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen im 18. und 20. Jhdt. weiterentwickelt; Plessner insbesondere mit seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs als Reaktion auf den Nationalsozialismus. Agambens Ansatz hingegen entzieht die oikos-polis-Problematik der Historie und stellt sie auf Dauer. Was das bedeutet, zeigt sich am Beispiel des „Versöhnungsfestes“, das im Denken der griechischen Antike ein notwendiges Moment der „stasis“ bildete, und am Beispiel der „erlosten Brüder()“. (Vgl. Agamben 2016, S.21 und S.19)

So unvermeidbar für die Griechen der familiäre Konflikt und seine Übertragung auf die „polis“ auch gewesen war, so notwendig war es auch, daß er in einem Versöhnungsfest enden mußte:
„Die Familie ist gleichermaßen Ursprung des Konflikts und der stasis wie Paradigma der Versöhnung (die Griechen, schreibt Platon, ‚kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen‘, Rep. 471a).“ (Agamben 2016, S.17)
Zum Versöhnungsfest gehörte unverzichtbar die „amnēstia“, die, wie Agamben schreibt, nicht einfach im „Vergessen“ oder in der „Beseitigung der Vergangenheit“ bestand (vgl. Agamben 2016, S.32), sondern vor allem vermeiden sollte, daß der überwundene Konflikt unterschwellig in die erneuerte „polis“ hinübergetragen wurde. Nicole Loraux versteht das Versöhnungsfest als ein Zusammenfallen von „oikos“ und „polis“, von Stadt und Blutsverwandtschaft. (Vgl. Agamben 2016, S.20f.) Agamben greift diesen Gedanken auf und postuliert, daß auf der „Schwelle der Ununterscheidbarkeit“ „das Politische und Unpolitische, das Innen und das Außen zusammenfallen“. (Vgl. Agamben 2016, S.33) Mit diesem ‚Zusammenfall‘ verschließt sich allerdings auch jeder individuelle Bewegungsraum. Für den Menschen jenseits von Haus und Stadt, von Gemeinschaft und Gesellschaft ist kein Platz.

Agamben erwähnt eine weitere bemerkenswerte Maßnahme, die sich die Bürger von Nakon, einer griechischen Stadt im 3. Jhdt., nach einem Bürgerkrieg einfallen ließen: Sie hoben die Blutsbande zwischen den Bürgern der Stadt auf, indem sie sie mit Hilfe eines Losverfahrens einer „Familie neuen Typs“ zuordneten, die Agamben auch als „unechte Brüderlichkeit“ bezeichnet. (Vgl. Agamben 2016, S.19) Aus der Perspektive Plessners könnten wir hier von einer Vorform der modernen Gesellschaft sprechen, in der die Menschen ihre familiären Bindungen hinter sich lassen, um eine neue individuelle Form der Geselligkeit zu erproben.

Agamben hingegen beharrt darauf, daß wir es hier weiterhin mit einer Familie zu tun haben, eben einer Familie „neuen Typs“, in der „jeder im anderen ‚einen Bruder oder eine Schwester oder einen Vater oder einen Sohn oder eine Tochter‘ sehen würde ...“ (Vgl. Agamben 2016, S.20) – Damit verharrt Agamben im antiken Horizont. Er entwickelt das Denkangebot, das die Griechen uns machen, nicht weiter.

Das „Versöhnungsfest“ dient deshalb Agamben zufolge, anders als bei Rousseau, der das Fest als Spielwiese für gesellige Individuen auf der Basis des Mitleids thematisiert (vgl. meinen Post vom 03.06.2016), der „Rekonstitution“ einer Einheit (vgl. Agamben 2016, S.24), die den Keim einer neuen Entzweiung schon in sich trägt. Denn das ambivalente, weil vieldeutige Grundprinzip der „stasis“ besteht bei aller Versöhnungsbereitschaft in Inklusion und Exklusion:
„Wie könnte das Verhältnis von zōē sowie von oikos auf der einen Seite und polis sowie politischem bios auf der anderen beschaffen sein, wenn Erstere vermittels eines Ausschlusses in Letztere eingeschlossen werden?“ (Agamben 2016, S.23)
„Zōē“ ist, wie Agamben schreibt, das „einfache natürliche Leben“, die Familie also, während „bios“ das gute Leben meint, in diesem Fall das politische Leben, das Leben in der Stadt. (Vgl. Agamben 2016, S.22) Was könnten also, um Agambens Frage aufzugreifen, die Gleichzeitigkeit von Einschluß und Ausschluß auf dieser biologischen, ins Politische transformierten Ebene meinen? Wer oder was muß ausgeschlossen werden, damit zōē und oikos in bios und polis mit eingeschlossen werden können? Ein schlimmer Verdacht drängt sich hier auf; um so mehr als mit Verweis auf Carl Schmitt (1888-1985) von einer notwendigen „Gruppierung nach Freund und Feind“ die Rede ist (vgl. Agamben 2016, S.30); insbesondere wenn dabei verschiedene Formen von ‚Leben‘ zueinander im Verhältnis von Einschluß und Ausschluß stehen. Der Verdacht bestätigt sich bei einem Blick in sein Buch „Homo sacer“ (1995/2016), wo Agamben schreibt:
„In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet.“ (Agamben 11/2016, S.151)
Wenn in diesem Zusammenhang von Versöhnungsfesten die Rede ist, in denen sich eine Einheit ‚rekonstituiert‘, fragt man sich unwillkürlich, wer die Opfer dieser Versöhnung sind. Diese Frage wird im dritten und letzten Blogpost erörtert werden.

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