„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

Eine Begründung dafür, daß sich die Quantenphysik nicht nur auf den subatomaren Bereich bis hin zu kleineren Molekülen beschränkt, sondern auch etwas mit unserer Alltagsexistenz als lebendigen, empfindungsfähigen Lebewesen zu tun hat, besteht Christine und Frido Mann zufolge darin, daß sowohl subatomare wie auch Lebens- und Bewußtseinsprozesse Ganzheitscharakter haben. Anders als Materieteilchen, die man zerlegen und wieder zusammensetzen kann, bestehen Quantenphänomene aus nicht zerlegbaren Beziehungen und Möglichkeiten:
„Im fundamentalen Unterschied zum System der klassischen Physik ... bestehen quantenphysikalische Ganzheiten nur in den seltensten Fällen aus zerlegbaren und wieder zusammensetzbaren Teilen. Quantensysteme haben grundsätzlich eine auf Einheit gerichtete Struktur. Sie enthalten als Einheit sehr viel größere Möglichkeiten als aus allen ihren Teilen ableitbar sind. Damit kann die Quantentheorie als Physik der Beziehungen und der Möglichkeiten charakterisiert werden.“ (CFM 2017, S.115f.)
Ähnlich wie Quantenphänomene bildet CFM zufolge auch das Leben ein „ganzheitliche(s) Phänomen()“:
„Genausowenig kann man sagen, dass Lebewesen aus den einzelnen Organen bestehen, sondern sie bilden eine Einheit, die man nicht auseinandernehmen und wieder richtig zusammensetzen kann. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass im Bereich des Lebens die Quantentheorie und die Protyposis eine sehr viel größere Rolle spielen, als bei der klassischen Physik.“ (CFM 2017, S.139)
Die Gestaltpsychologie wiederum befaßt sich auf der Bewußtseinsebene mit „Signalkonstellationen“, mit Konstellationen also, wie wir sie auch auf der Quantenebene kennen. Ähnlich wie in der „Quantentheorie als Physik der Beziehungen und der Möglichkeiten“ (CFM 2017, S.116), die z.B. zeigt, wie sich Elementarteilchen miteinander verschränken lassen, so daß sie „eine neue Ganzheit“ bilden (vgl. CFM 2017, S.179), sind also auch Bewußtseinsprozesse wie das Denken konstellativ:
„Diese Form des Denkens ist dem sequentiell-linearen Denken parallel geschaltet und auf die gleichzeitige Erfassung, Bedeutungszuweisung und Beurteilung von Signalkonstellationen spezialisiert.() Konstellatives Denken lässt sich über das visuelle Denken (perzeptive und prädikative Bildkompetenz) fordern und fördern, und seit einigen Jahren werden hierzu auch schon konkrete Unterrichtsformen entwickelt.()“ (CFM 2017, S.221)
Christine und Frido Manns Argumentation beruht hier darauf, Phänomene des sichtbaren und erlebbaren Bereichs mit mathematisch rekonstruierten, experimentellen Effekten zu korrelieren. Der Begriff der Ganzheit bzw. der Ganzheitlichkeit erweist sich dabei aber als problematisch, wie das Autorenpaar selber anmerkt. Wenn alles zu schwingen beginnt und menschliche Beziehungen als über Frequenzen und Rhythmen koordiniert gedacht werden, verwandelt sich der menschliche Verstand in eine Schwarmintelligenz:
„Wie kommt es, dass ganze Völker wie in einem Sog dem Wahn verfallen können, ihre eingeengten Ideologien mit Feuer und Schwert verbreiten zu müssen, sei es der Rassenwahn eines ‚arischen‘ Volkes oder heutzutage die fixe Idee eines islamischen Gottestaates?“ (CFM 2017, S.174)
Diese Frage kann das Autorenpaar nicht beantworten, weil quantenphysikalische Begriffe nicht zureichen, um eine pragmatische Anthropologie zu entwickeln, die zugleich der Fähigkeit des Menschen gerecht wird, sich exzentrisch zu positionieren, d.h. seinen eigenen Verstand zu gebrauchen.

Unser Verstand ist auf sichtbare Phänomene angewiesen. Nur so kann er Wahrnehmungen und Gedanken, Anschauungen und Begriffe auf produktive Weise miteinander verbinden. Der Begriff der ‚Gestalt‘ spielt hierbei eine wichtige Rolle. Der Gestaltbegriff steht für das, was die Philosophen früher gerne als ‚Wesen‘ bezeichneten, womit dann später selbsternannte Priester des Seins wie Martin Heidegger viel Unheil anrichteten. Phänomene sind sichtbare Gestalten. Hinter ihnen verbirgt sich nichts, was einer höheren Einsicht oder auch nur einer komplizierteren Berechnung bedürfte, weil sich da angeblich irgendetwas unserer bloß sinnlichen Anschauung entzieht. Ich verwende das Wort ‚Wesen‘ nur noch selten, und dann umgangssprachlich. Aber letztlich versuche ich es so viel wie möglich zu vermeiden.

Unser Verstand funktioniert anders. Er ist ein Oberflächenverstand. Was sich ihm nicht unmittelbar sinnlich gibt, bleibt ihm fremd. Der Bereich der Quantenphysik ist nunmal hochgradig abstrakt und unanschaulich, wie auch Christine und Frido Mann zugeben. (Vgl. CFM 2017, S.19, 33, 91, 132, 190) Dieses Befremden angesichts quantenphysikalischer Effekte ist übrigens nicht nur den Laien vorbehalten, sondern betrifft sogar Einstein:
„Denn obwohl Einstein mit seiner Entdeckung der photoelektrischen Gesetze bereits an der Schwelle zur eigentlichen Quantenphysik stand, konnte er zeitlebens deren Theorie sowie die aus ihr folgende, neue auch philosophische Interpretation unserer Welt nicht mehr mit vollziehen.“ (CFM 2017, S.93)
Ich neige dazu, der Quantenphysik diese Unanschaulichkeit zu lassen, anstatt die Anschauung, die sie verweigert, durch Analogiebildungen zu erzwingen. Das scheint mir gesünder zu sein – für unserenVerstand.

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