„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Oktober 2017

François Rastier, Schiffbruch eines Propheten. Heidegger heute, Berlin 2017

(Neofelis Verlag, Softcover, 218 Seiten, 25-- €)

1. Zusammenfassung
2. Kritik

Während meines Studiums habe ich mich durch „Sein und Zeit“ (1927) gequält und versucht, die Heideggerschen Begriffe mit Sinn zu füllen. Ich scheiterte. Etwas später, nach meinem Studium, verbrachte ich die Tage ‚zwischen den Jahren‘ auf Baltrum. Ich hatte Heideggers „Der Ursprung des Kunstwerks“ (1989) dabei und wollte einen zweiten Versuch starten. In naiver Erwartung, daß die naturnahe, winterliche Inselatmosphäre zum Verständnis des Heideggerschen Jargons beitragen würde, saß ich mit denkschwerer Attitüde im Lesesaal der Insel und ließ meine Augen über die bedeutungsschwangeren Sätze gleiten. Dieses Inselarrangement vermittelte mir eine gewisse Befriedigung, aber mein Verstand blieb davon unberührt. Danach nahm ich nie wieder ein Buch von Heidegger in die Hand.

Dennoch muß ich gestehen, daß ich mich auch in diesem Blog das eine oder andere Mal, vor allem hinsichtlich seiner Technikkritik, auf Heidegger bezogen habe. Nach der Lektüre von François Rastiers „Schiffbruch eines Propheten“ (2017) ist das nun endgültig vorbei. Denn wie soll man mit einem Autor arbeiten, wenn seine Texte, wie Rastier schreibt, „ohne bestimmbaren wissenschaftlichen Wert“ sind (vgl. Rastier 2017, S.58), weil sie allesamt eine „Fälschung des Autors“ sind, der sie je nach politischer Großwetterlage nach Belieben umschrieb, ohne die vorgenommenen Veränderungen zu kennzeichnen (vgl. Rastier 2017, S.62)? Der „unauthentische Text“, schreibt Rastier – welche Ironie: der Prophet der Eigentlichkeit, gesteht seinen eigenen Texten diese Würde nicht zu –, „kann lediglich Kommentare erzeugen, die ebenso bedeutungslos sind“. (Vgl. Rastier 2017, S.63)

Heideggers Verachtung der Philologie war keine bloße Laune, sondern sie hatte Methode; sowohl was die Editionsgeschichte seines Werks betrifft wie auch seine Schreibtechnik. Seine Schreibtechnik mißachtete systematisch jede philologische Gründlichkeit und argumentative Schlüssigkeit:
„Heidegger umgeht sie (die Philologie – DZ) also und befreit sich von jeglichem philologischem Anspruch: ohne weiteres stützt er sich auf zweifelhafte Editionen, und Jean-Pierre Faye wies seine nachlässigen Übersetzungen und Auslegungen nach: zweifelhafte Etymologien vervollständigen das Bild.“ (Rastier 2017, S.57)
In seinen Texten bilden schon seit „Sein und Zeit“, das die Apologeten Heideggers immer von seinen nationalsozialistischen Verstrickungen ausgenommen sehen wollten, die zentralen Begriffe seiner Ontologie lediglich „Decknamen“, ohne tieferen, systematisch gerechtfertigen Sinn:
„1943 vertraut er dem Briefpartner an, dass das ‚Sein des Seienden‘ für ihn oft ein Deckname sei, und er schreibt auch, das Vaterland sei das Seyn selbst.()“ (Rastier 2017, S.36f.)
So wie das ‚Seyn‘ für das Vaterland steht, steht das vaterlandslose (seinsvergessene) Man nicht etwa für eine anthropologische Kategorie, sondern für das internationale Judentum:
„Lesen wir noch einmal in §27 die Beschreibung eines unauthentischen Lebens, das durch Identitätsverlust und Seinsvergessenheit gekennzeichnet ist. Hier ist nicht mehr die Rede von jüdischen Kollegen, aber immerhin von einem unerträglichen Man. Anders gesagt, vaterlandsloser Kosmopolitismus ...“ (Rastier 2017, S.76)
Mit der durchgehenden Verwendung solcher Decknamen entwickelt Heidegger eine Esoterik, die den Uneingeweihten in die Irre führen soll und sogar den Eingeweihten in Unsicherheit verharren läßt: die besten Voraussetzungen für eine perfide Manipulation von Leserschaft und akademischer Öffentlichkeit. Heidegger wußte sehr wohl um die suggestive Macht dieser Schreibtechnik, wie aus den „Schwarzen Heften“ (2014) hervorgeht, von denen bislang vier erschienen sind:
„Das Mißverstandenste wäre der Versuch des Denkens, sich verständlich zu machen. (...) Die hartnäckigste Gefahr für das Denken ist die Bemühung, verständlich zu sein.“ (Zitiert nach: Rastier 2017, S.67)
Heideggers Texte sollten nicht verstanden und auch nicht interpretiert werden. Sie sollten vor allem verehrt werden:
„Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Sekte weiß hier der Eingeweihte nicht, dass er einer ist, und die Manipulation und Kontrolle können umso besser ausgeübt werden: ‚Dabei merken sie nicht, wie scharf ich sie in der Kontrolle habe‘, schrieb Heidegger 1921 an Jaspers über die Mitglieder seines Kreises.()“ (Rastier 2017, S.33)
Von diesem Manipulationswillen zeugt auch Heideggers Editionsplan, der die Veröffentlichung seiner Werke bis ins Jahr 2046 selbst geplant hat und dabei davon ausgegangen ist, daß die Gesellschaft ab dem Jahr 2000 einer Wiederanknüpfung an den Nationalsozialismus freundlicher gegenüberstehen und für offensichtlichen Antisemitismus offener sein würde. 2001 erschien „Vom Wesen der Wahrheit“, das, wie Rastier schreibt, ein „Programm der ‚völligen Vernichtung‘ des inneren Feindes“ und eine „rassische Definition der Wahrheit“ liefert, und 2014 erschienen die erstem vier von neun offen antisemitischen und nationalsozialistisch geprägten „Schwarzen Heften“, die die Edition der Gesamtausgabe abschließen sollen:
„Die Bestätigungen, die sich in den Schwarzen Heften finden, betreffen nicht nur die antisemitischen Themen, sondern auch das Verhältnis der Heideggerschen Philosophie zum Nationalsozialismus, der wegen seiner Barbarei verherrlicht wird:‚Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe.‘()“ (Rastier 2017, S.129)
Die bisherige Apologie der Heideggerianer, die zwischen dem Nationalsozialisten und dem Philosophen Heidegger zu trennen versuchen, ist angesichts seiner Schreibtechnik und seines Editionsplans endgültig hinfällig:
„Nun machen es aber die Schwarzen Hefte unmöglich, den Denker vom Nationalsozialismus zu trennen. Durch die esoterische Strategie, die des Meisters Veröffentlichungsplan bestimmt, ist ihre Bestimmung die Enthüllung und die Erfüllung der Prophetie, die der Autor in den 93 vorangehenden Bänden aufgebaut hatte.“ (Rastier 2017, S.132)
Der von Rastier gewählte Buchtitel „Schiffbruch eines Propheten“ erweist sich angesichts dessen, daß sich Heidegger selbst nicht als gescheitert wahrnahm und auch zeitlebens sich nie für seine nationalsozialistischen ‚Verstrickungen‘ entschuldigt hat, als unzutreffend, wie Rastier in einer Anmerkung einräumt. (Vgl. Rastier 2017, S.17 (Anm.13)) – Heidegger ist kein Gescheiterter! Man liest und zitiert ihn mehr denn je.

Wenn ich in meinem Freundeskreis die „Schwarzen Hefte“ anspreche, muß ich zu meiner Verwunderung immer wieder erläutern, worum es sich bei diesen Heften genau handelt. Sogar bei Intellektuellen und Akademikern fehlt bislang eine entsprechende Kenntnis der aktuellen Sachlage zu Heideggers Schriften. Aber immerhin ist in Deutschland das Problembewußtsein, aufgrund der „Entnazifizierung“, wie Rastier schreibt (vgl. Rastier 2017, 114), größer als in Frankreich oder in den ehemaligen „Achsenmächten“ Japan und Italien:
„Sein Glanz lebt in den Ländern der früheren Achsenmächte fort, von Italien, mit dem ‚schwachen Denken‘ der politischen Theorie von Vattimo oder Agamben, bis nach Japan, bei so verschiedenen Autoren wie Bin Kimura in der Psychopathologie, Tetsuro Watsuji in der Ethik und Keiji Nishitani in der religiösen Ontologie.“ (Rastier 2017, S.179)
Immer wieder überrascht Rastier den Rezensenten mit Namen von Heideggerianern, die in meinen Ohren einen guten Klang haben, wie den im letzten Zitat erwähnten Keiji Nishitani, oder auch von Nicht-Heideggerianern wie Axel Honneth, der Heidegger trotz aller Kritik zubilligt, auf „den Zusammenhang des instrumentellen Denkens mit der Technik“ hingewiesen zu haben. (Vgl. Rastier 2017, S.149) Rastier verweist immer wieder auf Heideggers Wissenschaftsfeindlichkeit, wobei er auch, vorschnell wie ich finde, jede Wissenschaftskritik als irrational und anti-humanistisch klassifiziert. Auf diese Problematik werde ich im nächsten Blogpost detaillierter eingehen.

Insgesamt richtet sich Rastier vor allem an seine Landsleute, die französischen Intellektuellen, die er mit seiner explizit nicht textimmanenten, sondern in erster Linie und im besten Sinne ideologiekritischen Auseinandersetzung mit der Heideggerschen ‚Ontologie‘, die dem Prophetentum den Vorrang gegenüber der Philosophie einräumt, zu einer kritischeren Rezeption Heideggers auffordert. Vor jeder Lektüre von Heideggers ‚Werk‘, so Rastier, sollte die Frage stehen:
„Wie ist das bis jetzt veröffentlichte Werk zu charakterisieren? Es ist dies auch eine hermeneutische Frage: soll man es interpretieren, obwohl sein Autor sich dagegen sperrt, und nach welchen Prinzipien?“ (Rastier 2017, S.14)
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