„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. August 2017

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016

1. Zusammenfassung
2. Gestaltwahrnehmung
3. Palimpsest-Städte
4. gebrochene Biographien
5. Breite Gegenwart

Aleida Assmann zufolge hat das Internet zu einer „menschheitsgeschichtliche(n) Zäsur“ in Form einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs geführt: zum Recht auf Vergessen. (Vgl. Assmann 2016, S.187f.) Damit wird erstmals das Vergessen höher bewertet als das Erinnert-Werden. Assmann zeichnet in ihrem letzten Kapitel (vgl. Assmann 2016, S.197-220) die bisherige medienkritische Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Daten im Internetzeitalter nach. Die Hauptgefahr sehen die Medienkritiker in der grenzenlosen Speicherkapazität, die die „bestehende Ökonomie zwischen Erinnern und Vergessen“ außer Kraft setzt. (Vgl. Assmann 2016, S.203) Die Kritiker verweisen darauf, daß „technische Maschinen die Kontrolle über die Sortierung des gespeicherten Datenvorrats übernommen haben“. (Vgl. ebenda)

Assmann wendet gegen diese Kritik ein, daß all der Forschritt in der Informationstechnologie nicht den fundamentalen Unterschied zwischen Speichern und Erinnern aufzuheben vermag:
„Speichern kann an technische Maschinen abgegeben werden, Erinnern dagegen können nur Menschen, die unverwechselbare Standpunkte, eingeschränkte Perspektiven, sowie Erfahrungen, Gefühle und Ziele haben.“ (Assmann 2016, S.215)
An dieser Stelle argumentiert Assmann instrumentell: technische Medien sind nur Mittel, und es kommt auf den Menschen an, wie er sie verwendet. Das beinhaltet eine gewisse Naivität hinsichtlich des persönlichkeitsformenden Umgangs mit dem Internet:
„Das Internet hat aber nicht die Macht, Identitäten abzuschaffen oder gleichzuschalten; vielmehr kann es so oder so in den Dienst von Identitäten gestellt werden.“ (Assmann 2016, S.215)
Assmanns Fazit bleibt angesichts dessen, was sie sonst zur bereits erwähnten „menschheitsgeschichtliche(n) Zäsur“ zu sagen weiß, zumindestens in dieser Hinsicht, gleichermaßen pragmatisch wie unbefriedigend:
„Erinnern und Vergessen bleiben also weiterhin eng miteinander verschränkt, und das heißt, dass es eine volle Kontrolle über das Gedächtnis, sei es nun das neuronale, psychologische, soziale, politische, technische oder kulturelle, nicht so bald geben wird.“ (Assmann 2016, S.224)
Ein anderer Ansatz ihrer Argumentation führt da etwas weiter: er bezieht sich auf die Problematik von „Dead Data“. (Vgl. Assmann 2016, S.200) Gerade aufgrund der ungeheuren digitalen Speicherkapazitäten sammeln sich im Internet immer mehr personenbezogene Daten an, die nicht mehr aktuell sind, weil die betreffenden Menschen inzwischen verstorben sind:
„Da keine flächendeckend angestellten Internet-Kuratoren am Werk sind, gibt es bereits Millionen von Seiten verkümmerter, abgelegter, nicht aktualisierter Informationen im Internet.“ (Assmann 2016, S.200f.)
Das bezieht sich nicht nur auf die „ca 8000 Facebook-Mitglieder“, die täglich sterben (vgl. Assmann 2016, S.201), sondern auch auf biographische Veränderungen wie das Ende einer Beziehung, weil eine umfassende Löschung aller diese Beziehungen betreffenden Daten praktisch unmöglich ist. Für die verstorbenen Facebook-Mitglieder stellt Facebook übrigens eine „Memorialisierungsfunktion“ zur Verfügung (vgl. ebenda), so daß absehbar ist, daß dieses und andere Netzwerke irgendwann zu riesigen Friedhöfen ausufern werden; denn, so Assmann, das „Leben im Biologischen und Materiellen“ besteht ja jenseits des Digitalen weiter fort. (Vgl. Assmann 2016, S.214) Assmann zitiert Luciano Floridi:
„Die Hälfte unserer Daten ist Schrott, wir wissen nur nicht welche!()“ (Assmann 2016, S.202)
Aleida Assmann kommt zu dem Schluß, daß „das ganze gewohnte Zusammenspiel zwischen Erinnern und Vergessen, das die Gesellschaft bislang geprägt hat, ... im Internet in Unordnung geraten (ist)“. (Vgl. Assmann 2016, S.203) An die Stelle einer dynamischen Gegenwart, die beständig zur Vergangenheit hin entschwindet und sich zugleich in eine ungewisse Zukunft hinein erstreckt, ist die Stagnation einer ‚breiten‘ Gegenwart getreten, in der sich nichts mehr sedimentiert. (Vgl. Assmann 2016, S.214)

Das hört sich paradox an, denn die unbegrenzte Speicherkapazität im digitalen Raum könnte eigentlich das Gegenteil vermuten lassen. Und tatsächlich findet sich eine entsprechende Feststellung, in der Assmann von einem „neue(n) Zeitmodus“ spricht, in dem es uns „nicht mehr gelingt, ‚irgendeine Vergangenheit hinter uns zu lassen‘.“ (Vgl. Assmann 2016, S.209) Aber abgesehen davon, daß es schwierig ist, vorhandene Daten restlos zu löschen, ist es recht einfach, sie zu überschreiben. Nichts ist im Internet so restlos vergangen, daß nicht wieder darauf zugegriffen werden könnte, um es zu aktualisieren und so jede Spur dessen, was war, zu vernichten:
„Das Internet, das kraft Verlinkung und Hyperkonnektivität alle Zeits(ch)ichten gleichermaßen präsent hält und uns mit uferlosen Informationsangeboten überschwemmt, hat die Vergangenheit, wie wir sie kannten, außer Kraft gesetzt.“ (Assmann 2016, S.211f.)
Dieser paradoxe Umstand einer einerseits immer aufdringlich bleibenden Vergangenheit und einer andererseits stets überschreibbar bleibenden und damit dem totalen Vergessen überantwortbaren Vergangenheit wird von Aleida Assmann nicht weiter aufgeklärt. Dennoch ist der von Hans Ulrich Gumbrecht eingeführte Begriff der „breite(n) Gegenwart“ für den digitalen Zeitmodus bedenkenswert. (Vgl. Assman 2016, S.209 und S.214) Abgesehen vom Verlust der zeitlichen Dynamik – Gumbrecht vergleicht diese breite Gegenwart „mit einem stagnierenden Teich“ ohne Zufluß und ohne Abfluß –, wäre ich hier erstmals bereit, zuzugestehen, daß es tatsächlich so etwas wie einen persönlichen Umgang mit der digitalen Technologie gibt, der ihr eine besondere Qualität verleiht.

Bei meinem eigenen Blog habe ich über die letzten sieben Jahre hinweg erlebt, wie mir in der breiten Gegenwart meiner digitalen Textproduktion Gedanken präsent geblieben sind, wie ich es in den langen Jahren zuvor mit allen meinen Büchern, die ich bis dahin geschrieben und herausgegeben hatte, nicht erlebt habe. Schriften, die längere Zeit im Regal gestanden und Staub angesetzt hatten, waren in Vergessenheit versunken. Und wenn ich irgendwann zufällig wieder auf sie stieß, war ich erstaunt, was ich da früher einmal gedacht und geschrieben hatte. (Vgl. hierzu meinen Post vom 21.04.2015)

Wenn es damals einen Fortschritt in meinem Denken gab, so vollzog er sich unmerklich, in Form neuer Gedanken, von denen ich kaum ahnte, woher sie mir zuflogen. Seit ich diesen Blog betreibe, vollzieht sich dieser Fortschritt im Denken auch in Bezug auf die Fundamente, eben im Sinne ihrer systematischen Verbreiterung. Insofern kann ich dem Wort ‚breite Gegenwart‘ etwas Positives abgewinnen. Vielleicht sollte ich dabei aber die von Gumbrecht angesprochene Gefahr der Stagnation im Auge behalten und dieses Projekt zeitlich befristen. Seit sieben Jahren betreibe ich den Blog. Vielleicht noch drei Jahre? Zehn Jahre wären eine gute Zahl, und eine Epoche könnte beendet werden.

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