„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. August 2017

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016

1. Zusammenfassung
2. Gestaltwahrnehmung
3. Palimpsest-Städte
4. gebrochene Biographien
5. Breite Gegenwart

Obwohl das kollektive Gedächtnis im Zentrum von Aleida Assmanns Buch steht, widmet sie ein Kapitel dem Mitbegründer der Universität Konstanz, Hans Robert Jauß (1921-1997). (Assmann 2016, S.174-196) Der „Ruhm“ der Universität Konstanz beruht Assmann zufolge „nicht auf empirischer Sozialforschung, sondern auf Ästhetik und den Literaturwissenschaften, die Dahrendorf ursprünglich aus seinem neuen Universitätskonzept ausschließen wollte“. (Vgl. Assmann 2016, S.194) Und Jauß, der diesen geisteswissenschaftlichen Grundstein legte, war Assmann zufolge ein „Pionier der Modernisierung der Geisteswissenschaften“. (Vgl. Assman 2016, S.193)

Inwiefern ‚Modernisierung‘? Aleida Assmann beschreibt Jaußens Zugehörigkeit zu einer Generation (1920-1930), die in ihren jungen Jahren zutiefst vom Nationalsozialismus geprägt gewesen war. Wie tief die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die nationalsozialistische Weltanschauung und Politik verstrickt gewesen waren, so Assmann, lag oftmals an einem Jahr Altersunterschied:
„‚Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung‘, hat Martin Walser über diese Zeit einmal gesagt. Das Geburtsdatum entschied über Biographien, es bestimmte, wie viele Jahre man im Krieg verbrachte und ob man schuldig und unschuldig aus ihm herauskam.“ (Assmann 2016, S.188)
Diese oftmals minimalen Unterschiede in den individuellen Schicksalen dieser Individuen hatten also in moralischer Hinsicht maximale Effekte; doch in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Jauß wurde von Kritikern in dieser Hinsicht wenig differenziert:
„Es gilt allein, woher er kam und nicht mehr wohin er ging.“ (Assmann 2016, S.191)
Dieses Woher und Wohin macht einen enormen Unterschied in der individuellen Vergangenheitsbewältigung, wie man an Günter Grass, den Assmann kurz erwähnt (vgl. Assmann 2016, S.187f.), sehen kann. Grass hatte sich in seinem ganzen schriftstellerischen Wirken mit seinen persönlichen Erfahrungen mit dem dritten Reich auseinandergesetzt. Er hatte sein Mitwirken in der Hitlerjugend nicht verschwiegen. Allerdings kam er erst gegen Ende seines Lebens auch auf seine SS-Vergangenheit zu sprechen. In den Augen seiner Kritiker hatte er sich damit in toto unglaubwürdig gemacht. Daß er eine Sprache entwickelt hatte, um traumatische kollektive Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, verlor für dieses Publikum mit einem Schlag jeden Wert. Günter Grass steht für die Auseinandersetzung mit dem ‚Woher‘, zu dem er sich stets in kritischer Distanz bekannt hatte und aus dem heraus er sich für die Entwicklung der jungen Bundesrepublik unermüdlich engagierte.

Hans Robert Jauß ist Assmann zufolge einen anderen Weg gegangen. Er wandte sich von seiner Vergangenheit ab und versuchte einen radikalen Neuanfang:
„Tatsächlich hat Jauß, der nach dem Krieg vor der Aufgabe kapitulierte, den fremden anderen in sich selbst zu verstehen und mit ihm zu kommunizieren, in seinem zweiten Leben als Geisteswissenschaftler Fragen des Verstehens zu seinem zentralen Thema gemacht.“ (Assmann 2016, S.192)
Jauß war Teilnehmer der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ gewesen. (Vgl. Assmann 2016, S.176ff.) Der Soziologe Helmut Schelsky hatte die Mitglieder dieser Gruppe als „skeptische Generation“ bezeichnet. Sie wollten die Geisteswissenschaften von ihrem verhängnisvollen nationalen Pathos und ihrer nationalsozialistischen Befangenheit reinigen und erneuern. Zu dieser Gruppe gehörten auch Hans Blumenberg (1920-1996), ein Freund von Jauß, und Niklas Luhmann (1927-1998), über den Assmann schreibt:
„Niklas Luhmann, geboren 1927, ebenfalls Mitglied der Gruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘, hat diese Skepsis mit seinem konstruktivistischen Denken eindrucksvoll verkörpert. Die Welt der Systemtheorie ‚ist die nach innen und außen ins Leere fallende Welt, die Welt, die sich nur an sich selbst festhalten kann, aber alles Haltbare ebensogut ändern kann, die für gesellschaftliche Orientierung untauglich ist‘.()“ (Assmann 2016, S.179)
In der Darstellung dieser Gruppe geht Aleida Assmann für meinen Geschmack allzu summarisch und pauschalisierend vor. Gerade Luhmanns polemischer Antihumanismus, der im krassen Widerspruch zu Blumenbergs skeptischem Humanismus steht, wäre schon einer Erwähnung wert gewesen, Auch die pauschalisierende Kennzeichnung des Gruppenbewußtseins als einer „Elite“ gefällt mir überhaupt nicht (vgl. Assmann 2016, S.180), denn gerade wiederum Blumenberg trat mit seiner Phänomenologie für eine antielitäre Verstandesautonomie ein. Hier könnte man vielleicht von Avantgarde sprechen; aber gewiß nicht von Elite.

Jauß jedenfalls verdrängte jeden Gedanken an sein ‚Woher‘ und wollte nur noch das ‚Wohin‘ einer Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Wissenschaft für sich gelten lassen. Als dann Ende der 1980er Jahre seine Verstrickungen im dritten Reich enthüllt wurden, begriff er nicht, wieso seine unbestreitbaren Verdienste jetzt plötzlich nichts mehr wert sein sollten:
„Jauß empfand es als Zumutung, dass er sich zu verteidigen hatte, ‚als ob sein Nachkriegsleben und seine wissenschaftlichen Beiträge nicht beredtes Zeugnis genug wären‘.()“ (Assmann 2016, S.189)
Aleida Assmann beschreibt anhand der gebrochenen Biographie von Hans Robert Jauß das Dilemma jeder Zeitgenossenschaft, in der sich historische Ereignisse mit individuellen Erfahrungen mischen. Hinzu kommt das gesellschaftliche Klima in einer jungen Wirtschaftswunder-Bundesrepublik, die sich nur für Aufbau und Aufbruch in eine von der Vergangenheit unbelastete Zukunft interessierte:
„Akte des Schweigens und Vergessens sind immer Teil einer Beziehung und damit auch als Anpassung des Individuums an die herrschenden sozialen und politischen Rahmen zu verstehen.“ (Assmann 2016, S.187)
Vergessen und Verdrängen bilden immer wieder eine gleichermaßen pragmatische wie notwendige Voraussetzung für den individuellen Neuanfang, mit dem sich Menschen von ihrer verhängnisvollen Vergangenheit ab- und einer hoffentlich besseren Zukunft zuzuwenden versuchen. Hannah Arendt spricht von der Notwendigkeit des Ineinander von „Vergeben und Vergessen“:
„Das unerbittliche Gesetz, dass jede Tat irreversibel ist und ihre Folgen nicht widerrufen werden können, kann deshalb für Arendt nur durch Vergeben und Vergessen der Mitwelt außer Kraft gesetzt werden. ... Handeln ist deshalb im sozialen Kontext nur möglich, wenn die Verantwortung des Handelnden eingeschränkt ist und die Aussicht darauf besteht, dass nicht intendierte negative Folgen vergeben und vergessen werden.“ (Assmann 2016, S.45f.)
Hans Robert Jauß hatte geglaubt, durch seine wissenschaftlichen Leistungen einen Anspruch auf dieses Vergeben erworben zu haben. Doch dieses Vergeben und Vergessen sind nicht dasselbe wie Verdrängen und Vergessen. Ein solches Mißverständnis birgt eine große Gefahr: den Sprachverlust und mit ihm einhergehend das Fortwirken dessen, was wir zu beschweigen und zu verdrängen versuchen. Im Unterschied zu Günter Grass hatte sich Hans Robert Jauß für diese Sprachlosigkeit entschieden:
„Die Aufklärungsarbeit im Fall Jauß und die Auseinandersetzung mit seiner SS-Biographie waren unbedingt notwendig, gerade auch vor dem Hintergrund seines so hartnäckig durchgehaltenen Schweigens. ... Was nicht zur Sprache kam und wofür es keine Sprache gab, das muss nun auf verschiedene Weisen in die Sprache zurückgeholt werden.“ (Assmann 2016, S.195f.)
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