„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. August 2017

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016

1. Zusammenfassung
2. Gestaltwahrnehmung
3. Palimpsest-Städte
4. gebrochene Biographien
5. Breite Gegenwart

In der Gedächtnisforschung tritt immer mehr das Vergessen in den Fokus, während die Erinnerung selbst an den Rand rückt. Vielleicht liegt das frühere Primat der Erinnerung auch an dem Umstand, daß es, wenn man mal vom Wort ‚Vergessenheit‘ absieht, für das Vergessen nur ein Verb gibt und kein Substantiv, so daß es schon aus rein sprachlichen Gründen nicht so leicht zum Gegenstand gemacht werden kann. Vor drei Jahren habe ich mich mit Douwe Draaismas „Buch des Vergessens“ (2012) auseinandergesetzt. (Vgl. meine Posts vom 12.01. bis 19.01.2014) Darin deutet Draaisma einen Zusammenhang zwischen der Erinnerung und der Gestaltwahrnehmung an: das „Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen“ entspricht Draaisma zufolge der „geteilten Kontur in der Abbildung einer Gestalt“:
„Man kann nach Belieben das eine oder das andere darin sehen.“ (Vgl. Draaisma 2012, S.13)
Draaisma bezeichnet das Vergessen als eine spezifische Leistung des Gedächtnisses, ohne das das Gedächtnis nicht funktionieren würde. Man könnte nun den Hinweis auf den Kippbildcharakter von Vergessen und Erinnern so verstehen, daß wir die volle Kontrolle darüber hätten, ob wir etwas vergessen oder erinnern wollen. Aber genau das meint Draaisma eben nicht. Es geht ihm vielmehr darum, daß wir das Gedächtnis nicht unter Ausschluß einer dieser beiden Aspekte verstehen können und immer beide berücksichtigen müssen.

Auch Aleida Assmann wertet das Vergessen als „immanente(n) Bestandteil des Erinnerns“ auf. (Vgl. Assmann 2016, S.43) Dabei geht sie sogar noch einen Schritt weiter als Douwe Draaisma: sie bezeichnet das Erinnern als „Negation des Vergessens“. (Vgl. Assmann 2016, S.30) Das ist eine seltsame Behauptung, denn sie invertiert Positives in Negatives und Negatives in Positives; das Positive, das Erinnern, wird zur Negation: wird nun umgekehrt auch das Negative, das Vergessen, zur Position?

Das scheint völlig unsinnig zu sein. Dennoch macht es vor dem Hintergrund einer gestaltpsychologischen Begrifflichkeit Sinn. So spricht Assmann ähnlich wie Draaisma von einer ‚Kontur‘:
„Individuelles und kollektives Vergessen funktioniert wie ein Konturstift; es grundiert das Selbstbild und formt die Biographie.“ (Assmann 2016, S.27)
Die Kontur ist ein Umriß, eine Linie, die ein Inneres von einem Äußeren, also eine Figur von einem Grund unterscheidet. Und der Konturstift dient in der Kosmetik dazu, bestimmte Merkmale eines Gesichts gegenüber anderen Merkmalen hervorzuheben. Der Konturstift soll also dazu beitragen, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren. Nur so macht es Sinn, etwas per se Negatives wie das Vergessen als etwas Positives zu konnotieren. Negation und Position befinden sich hier im Verhältnis von Hintergrund und Vordergrund, und der Hintergrund bildet nicht einfach nur eine Abwesenheit, sondern selbst etwas Positives, in das alle die Merkmale eines Ereignisses oder einer Situation, die sich nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit befinden, hinüberwechseln, um darauf zu warten, im Verlauf unserer Wahrnehmung wieder in den Vordergrund zu rücken. Man kann deshalb mit Aleida Assmann so weit gehen und behaupten, daß es ohne Hintergrund keinen Vordergrund, also ohne Vergessen kein Erinnern gibt.

Genau in diesem Sinne bildet also das Vergessen etwas Positives, das allerdings immer in der Gefahr steht, auch noch aus diesem Hintergrund in einen Untergrund abzusinken, aus dem es keine Anstrengung mehr hervorzuholen vermag.

Aleida Assmann beschreibt diese Dynamik detailliert in dem Kapitel zum selektiven Vergessen anhand eines Essays von Robert Musil (1880-1942). (Vgl. Assmann 2016, S.69ff.) In diesem Essay geht es um die paradoxe Wirkung von Denkmälern, die Musil zufolge nicht etwa dazu beitragen, daß wir uns an bestimmte Ereignisse oder Personen erinnern, sondern dazu, daß wir sie vergessen:
„Er kommt nämlich zu dem Schluß, dass die von den Stiftern in eine ewige Zukunft geschickte Botschaft des Denkmals bei ihren Adressaten gar nicht ankommt. ... Nach Musil besteht die Paradoxie der Denkmäler nämlich darin, dass sie das Ziel, für das sie gemacht wurden, das Erinnern, nicht nur verfehlen, sondern das genaue Gegenteil bewirken, nämlich das Vergessen ...“ (Assmann 2016, S.69f.)
Musil entfaltet Assmann zufolge in seinem Essay eine „gestaltpsychologische Analyse“ des Vergessens (vgl. Assmann 2016, S.71), in der er Mechanismen der Lebenswelt beschreibt:
„Was in der Wahrnehmung der Lebenswelt als stabiles Inventar eingestuft wird, wird von Passanten, die möglichst direkt und schnell ihre Ziele erreichen und ihre Besorgungen erledigen wollen, automatisch dem ‚Hintergrund‘ zugeordnet. Die menschliche Wahrnehmung wappnet sich gegen das diffuse Sinnesangebot in der Großstadt, indem sie innere Grenzen aufrichtet, die zwischen Figur und Grund, Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden. Das Auge lernt durch Mustererkennung und Wahrnehmungsrahmen von allem abzusehen, was für das Funktionieren im Alltag nicht gebraucht wird.“ (Assmann 2016, S.71)
Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis auf die „Mustererkennung“, die hier jenen Aspekt der Gestaltwahrnehmung betrifft, den wir zumeist nicht bewußt steuern – es sei denn nach langer meditativer Übung unserer Konzentration. Die Mustererkennung ist lebensweltlich geprägt, und sie ist deshalb aus phänomenologischer Perspektive unserem bewußten Zugriff entzogen. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, inwiefern ‚Vergessen‘ etwas Positives sein kann, denn letztlich ist damit nichts anderes gemeint als diese Mustererkennung, die unsere Wahrnehmung unterstützt, ohne daß wir es wissen.

Musil zufolge tritt alles, was sich nicht bewegt, sondern still und dauerhaft am Ort verharrt, gegenüber dem „Wettbewerb der Signale“ (Assmann 2016, S.72) in einer blinkenden, blitzenden, lärmenden, dynamisch bewegten Großstadtkulisse unweigerlich in den Hintergrund und wird unsichtbar:
„Von der Wahrnehmung wird automatisch ausgeblendet, was andauert und sich nicht bewegt. Das gilt idealtypisch für Denkmäler, aber es betrifft auch ‚Bilder, die wir an die Wand hängen, (sie) werden binnen wenigen Tagen von der Wand aufgesogen‘.“ (Assmann 2016, S.71)
So degenerieren Denkmäler zu bloßen Orientierungsmarken im geschäftigen Hierhin und Dorthin der Passanten, „die möglichst direkt und schnell ihre Ziele erreichen und ihre Besorgungen erledigen wollen“. (Vgl. oben) Mit anderen Worten, sie werden zu einem Teil der Infrastruktur, also des Untergrunds der Stadt. Anders als Musil meinte, bleiben sie dort aber nicht für immer und ewig, sondern im Zuge von Jahres- und Feiertagen eines offiziellen Gedenkens werden sie durch Rituale in den Fokus der Öffentlichkeit zurückgeholt. (Vgl. Assmann 2016, S.73) Oder umgekehrt: infolge plötzlicher politischer Systemwechsel werden Denkmäler gestürzt und damit in paradoxer Weise neu erinnert. (Vgl. Assmann 2016, S.75ff.)

Aleida Assmanns Analysen zu den verschiedenen Umgangsformen mit Denkmälern gehören für mich zu den interessantesten Passagen ihres Buches. Besonders schön ist die Fallstudie zu Dr. Karl Lueger (1844-1910), der von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien gewesen war. (Vgl. Assmann 2016, S.81ff.) Ihm zu Ehren wurde im Zentrum Wiens eine Statue errichtet, wo sie zunächst wie viele andere Denkmäler in Vergessenheit geriet. Dann erinnerte man sich später an ihn als einen Populisten und Antisemiten, und es entstand eine lebhafte Debatte, wie man mit ihm und seiner Statue umgehen sollte. Statt die Statue und damit die antisemitische Vergangenheit Wiens endgültig zu entsorgen, entschied man sich für einen Wettbewerb zur Umgestaltung der Statue:
„Prämiert wurde der Umgestaltungsentwurf von Klemens Wihlidal, der vorsieht, Statue und Sockel um 3,5 Grad nach rechts zu neigen. Dieser Neigungswinkel befindet sich in einem Wahrnehmungsspektrum unterhalb der Schwelle des Offensichtlichen und oberhalb der gesicherten Normalität. Die geringfügige Verlagerung der Statue aus der Achse erzeugt eine subkutane Irritation, einen leichten Schwindel. ... Die Schieflage verweise auf den problematischen Umgang der Stadt Wien mit ihrer antisemitischen Vergangenheit.“ (Assmann 2016, S.86)
Die Genialität dieses noch nicht umgesetzten Entwurfs besteht darin, daß er mit den Mitteln der Gestaltpsychologie die Automatismen der Wahrnehmung außer Kraft setzt. Die „subkutane Irritation“, von der Assmann spricht, führt dazu, daß wir die mit ihrer Umgebung im ständigen Konflikt befindliche ‚Kontur‘ und mit ihr die Statue nicht aus unserem Fokus entlassen können: die Statue kann nicht in den Hintergrund treten und somit nicht vergessen werden.

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