„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 17. Juni 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der common ground?

Am Samstagmorgen las ich in der WN, die zwei ganze Doppelseiten und die Titelseite der Skulptura widmete, daß der westfälische Rhythmus darin bestehe, daß alle zehn Jahre etwas passiert. Das gefällt einem unverbesserlichen Technologiekritiker wie mir ungemein gut: Wer also Smartphone oder Handy nicht zehn Jahre benutzt, bevor er sich ein neues zulegt, ist kein richtiger Westfale.

Immerhin hat sich der westfälische Rhythmus damit erheblich beschleunigt, wenn man bedenkt, daß früher Jahrhunderte hatten vergehen müssen, damit Ereignisse wie die Wiedertäufer oder der westfälische Frieden stattfinden konnten.

Am Abend vorher hatte ich in den münsterländischen Fernsehkanälen Bilder von Ausstellungsbesuchern gesehen, die über das Hafenbecken wandelten. Das hatte mich so beeindruckt, daß ich heute da unbedingt hinwollte. Als ich meinem Vater das sagte, meinte er: „Das würde ich auch tun!“ – Aber mit seiner geschwollenen Backe, die er von einer Zahnextraktion zurückbehalten hatte, war er momentan nicht besonders unternehmungslustig.

Ich hatte mich mit Annette und Heinz für den Vormittag zu einer Skulpturenbesichtigung verabredet. Unsere erste Station war das Pumpenhaus. Dort befand sich eine weitere Skulptur von Aram Bartholl: „5 Volt“. Vor einem Holzfeuer saß ein Student und hielt einen an einer Rute befestigten Thermogenerator über das Feuer. Im Hintergrund waren noch zwei weitere Thermogeneratoren an einer Mauer angelehnt. Eine Ausstellungstouristin hatte gerade eben die Rute, die sie zwischendurch hatte halten dürfen, an den Studenten zurückgegeben und machte jetzt ein Detailphoto von den am hinteren Ende der Rute angebrachten USB-Anschlüssen, mit denen man dank der 5 Volt Handy, Smartphone oder Tablet aufladen konnte. Der Student erklärte uns, daß der Künstler auf die ursprünglichste Form der Energienutzung, das Feuer, aufmerksam machen und eine Linie zur modernen Technologie ziehen wolle.

Als weitere Grüppchen ausländischer Touristen mit asiatischem Aussehen auftauchten, setzte der Student seine Erläuterungen auf Englisch fort. Es wurde fleißig geknipst. Heinz war von den Sprachfertigkeiten des Studenten beeindruckt.

Wir setzten unseren Weg fort, und ich führte meine Freunde am Tattoogeschäft am Hansaring vorbei zum Hafen. Dort fanden wir eine Gruppe von Skulpturtouristen an einer improvisierten Treppe, von der eine Doppelreihe von Ballons zur anderen Seite des Hafenbeckens führte. Auf der Wasserfläche befand sich nur ein einzelner Mann in orangefarbener Weste.

Wir stellten unsere Fahrräder ab und näherten uns der Treppe. Vor der Treppe war eine Kette gespannt, und die Leute warteten offensichtlich darauf, daß irgendjemand die Kette abnahm und den Weg freimachte. Im Hafenbecken hatte die Künstlerin Ayse Erkmann wenige Zentimeter unterhalb der Wasseroberfläche eine Brücke anbringen lassen, die von weitem den Eindruck erweckt, daß die Leute, die darüber gehen, über das Wasser wandeln. Ich hatte mir sogar eigens für dieses Skulpturprojekt ein Handtuch mitgenommen, um mir hinterher die Füße abzutrocknen.

Jetzt aber ging nur dieser Mann in der orangenen Weste über die Brücke, von Ballon zu Ballon, und drückte die Ballons unter die Brücke. Die Ballons waren wohl nur der Sicherheit halber angebracht und gehörten nicht zum Projekt. Der Security-Mann, wie Heinz ihn nannte, kam mit seiner Arbeit so enervierend langsam voran, daß ein Ende seiner anscheinend hochwichtigen Tätigkeit nicht so bald abzusehen war. Gelegentlich flutschte ihm ein Ballon aus der Hand, und man wünschte sich beim Zuschauen sehnlichst, daß er diesen verdammten Ballon endlich richtig zu fassen bekam und verstaute, damit er zum nächsten Ballon auf der anderen Brückenseite waten konnte usw. Die Brücke und unsere Aufmerksamkeit gehörten ihm! Zumindestens so lange es noch Ballons zu versenken gab.

Die Zuschauer waren schon ganz unruhig und wollten unbedingt endlich auf die Brücke. Heinz meinte zu mir, ich sollte die Kette ignorieren und den Anfang machen. Es gab einen kleinen Wortwechsel zwischen uns, in dem ich auf meine gute Erziehung verwies und Heinz damit konterte, daß Kunst darin bestünde, Normen zu verletzen. Schließlich gab ich nach, zog Sandalen und Socken aus, nahm die Kette ab und stieg zur Brücke runter.

Ich schaffte es, ein paar Meter unbemerkt vom Security-Mann auf der Brücke durch das Wasser zu waten. Dann aber bekam ich von ihm die erwartete Abfuhr: Es sei, so wurde ich ärgerlich belehrt, noch nicht erlaubt, die Brücke zu betreten.

Als ich wieder zum Hafenrand raufstieg, fragte mich eine junge Frau, was der Mann gesagt habe und äußerte dann die Vermutung, daß die Brücke freigegeben werde, wenn alle Ballons unter der Brücke verstaut wären. Wir drei jedenfalls gingen jetzt erstmal in eins der Hafen-Cafés und suchten uns dort einen Platz mit Blick über den Hafen. Heinz erzählte von seinem Freund Abdul, der sich immer darüber wundere, daß man in Deutschland für alles eine Erlaubnis brauche. In Marokko könne man sich einfach irgendwo an die Straße stellen und selbstgemachte Pasteten verkaufen, wenn einem der Sinn danach stünde. Vielleicht kommt mal ein Polizist vorbei und verlangt Geld. Aber nicht wegen des ungenehmigten Pastetenstands, sondern weil Polizisten in Marokko das einfach immer tun. In Marokko käme ein Polizist niemals auf die Idee, einem irgendwas zu verbieten.

Inzwischen hatte der Security-Mann die Brücke freigegeben und ein Trupp Touristen war auf der Brücke. Also machte auch ich mich nochmal auf den Weg und wandelte über das Wasser. Aber als das Gitter der Brücke unter meinen nackten Fußsohlen zu schmerzen begann, war’s das erstmal für mich.

Die nächste Station, zu der ich meine Freunde führte, war „Nietzsches Rock“ von Justin Matherly. Als Heinz damit begann, etwas über aus der Mode geratene Herrenmäntel zu erzählen, unterbrach ich ihn und wies ihn auf den Felscharakter der Skulptur hin. Bei der Skulptur angekommen geriet Heinz in Entzücken. Er schwärmte von der Erhabenheit des Felsens und brachte emphatisch seine Begeisterung zum Ausdruck. Ich war zunächst etwas irritiert, aber dann begriff ich, daß er uns nur ein Beispiel für westfälische Ironie bot: Der Westfale an sich ist generell unbeeindruckt. Wenn er doch mal Begeisterung an den Tag legt, dann ist das meistens Ironie.

Am Servatiiplatz befand sich gerade eine Gruppe von Ständen zum Thema ‚umweltfreundliches Essen‘. Annette war die ganze Zeit eher still gewesen. Im Café hatte sie sich den Katalog der Skulptura angeschaut, aber sonst hatte sie eher wenig von ihren Eindrücken preisgegeben. Der Anblick der Stände zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schlug mit leuchtenden Augen vor, uns da mal ein wenig umzuschauen. Anschließend gingen wir zu Feldmann und aßen zu Mittag.

Danach trennten wir uns. Annette und Heinz radelten nach Hause, und ich suchte die dritte Skulptur von Aram Bartholl auf: „3 Volt“. Die Skulptur befand sich im Fußgängertunnel am Schloßplatz und bestand aus zwei oder drei LED-Leuchtern. Unter den LEDs waren brennende Teelichter angebracht, deren Wärmeenergie in Strom umgewandelt wurde. Als ich den Fußgängertunnel betrat, ging gerade eine junge Frau mit der Leiter zu einem der Leuchter, um ein ausgebranntes Teelicht auszutauschen. Ein Ausstellungsbesucher hielt seine Kamera möglichst tief am Boden senkrecht nach oben gerichtet unter einen der anderen Leuchter, um eine Aufnahme zu machen, die möglicherweise den künstlerischen Wert der Installation durch ein aus einer ungewöhnlichen Perspektive gemachtes Photo etwas aufwerten sollte, oder vielleicht auch um ein Rätselbild zu erstellen, das er dann Freunden und Verwandten zeigen konnte, um sie raten zu lassen, was er da wohl photographiert haben könnte.

Nachdem ich den Spannungstiefpunkt der Skulptura erreicht hatte, machte ich mich auf den Weg zu Annette und Heinz. Auf der Promenade fuhr ich an einer Skulptur von Nicole Eisenmann vorbei, die ich nicht gesucht hatte, aber sofort als solche erkannte: fünf um ein rechteckiges, flaches Wasserbassin gruppierte, überlebensgroße Menschenplastiken. Es war schönstes Wetter, warm und sonnig, und auf dem Rasen waren viele Leute, die sich einfach nur erholten oder wegen der Skulptur da waren. Aber keiner kam auf die Idee, in das Bassin zu steigen und ein wenig zu kneipen. Ich war zu schnell vorbeigeradelt und kann deshalb nicht sagen, ob sich im Hintergrund irgendwo Security-Männer aufhielten, die das Betreten des Bassins verboten bzw. noch nicht freigegeben hatten.
Fazit: Ich schreibe hier immer „Skulptura“, aber eigentlich heißt es „Skulptur Projekte Münster“. Als Skulptura habe ich diese Skulpturprojekte 1987 kennengelernt. Das Wort gefällt mir besser. „Skulpturprojekte“: das klingt irgendwie unverbindlich, als handelte es sich nicht wirklich um Skulpturen, sondern eben um ‚Projekte‘, irgendwie um Skulpturen herum oder auf dem Weg dorthin. „Skulptura“ klingt wie ein Fanal, „Skulptur-Projekte“ klingt Wischiwaschi.
Gertrude Stein sagte einmal: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ...“ So sehe ich das auch. Skulpturen sind Skulpturen sind Skulpturen. Und Performance ist Performance. Beides ist nicht dasselbe. Die Münsteraner Skulptursommer hatten immer die Frage nach dem öffentlichen Raum gestellt. Angesichts der Security um die Brücke im Hafenbecken herum sollte man auch fragen: Wem gehört die Kunst?
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