„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Januar 2017

Matthew B. Crawford, Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ich im Zeitalter der Zerstreuung, Berlin 2016

(ullsteinbuchverlage, Hardcover, 429 Seiten, 24.00 €)

1. Zusammenfassung
2. Bewußtsein als geistige Repräsentation
3. Bewußtsein als Wahrnehmung
4. Bewußtsein als Wachsamkeit
5. Vortrefflichkeit: Das situierte Selbst
6. Vortrefflichkeit: Das situierte Ding

Das Grundprinzip der Repräsentation ist Crawford zufolge die Vermittlung: wir erleben die Welt und begegnen den Dingen nicht unmittelbar, sondern vermittelt über Repräsentationen, die aus physiologischen Transformationen (Sinnesorgane), Symbolen (Worte, Zeichen) und lebensweltlichen Kontexten („Zeugganzheiten“ (Crawford 2016, S.213)) bestehen können. Letztlich versteht man unter der Repräsentation eine Art Photo, das die Außenwelt abbildet und über die Sinneskanäle ins Innere unseres Kopfes transferiert wird.

Crawford wendet gegen diese Sichtweise auf unser Bewußtsein ein, daß wir „soziale und biographische Wesen“ und „keine digitalen Kameras oder Aufnahmegeräte“ sind. (Vgl. Crawford 2016, S.216) Letztlich beruht diese Vorstellung „auf der Annahme, wir könnten das Auge anhand der Analogie einer Kamera verstehen, das heißt, vom übrigen Körper getrennt“. (Vgl. Crawford 2016, S.81)

Tatsächlich aber leben wir mitten in der Welt und nicht getrennt von ihr. Und auch das Auge ist situiert: es ist Teil eines beweglichen, auf zwei Beinen in der Welt umherschweifenden Organismusses:
„Unser Gehirn ist mit Augen verbunden, die sich in ihren Höhlen bewegen können, die Teil eines Kopfes sind, der sich auf einem Hals drehen kann, der an einem Körper befestigt ist, der sich in der für zweibeinige Tiere charakteristischen Art über die Erdoberfläche bewegt.“ (Crawford 2016, S.79f.)
Unsere Wahrnehmung ist also nicht repräsentativ, sondern körperlich. Und ‚körperlich‘ heißt: in Bewegung. (Vgl. Crawford 2016, S.80) Die Wahrnehmung ist kinästhetisch. Inzwischen beginnt man sich auch in der künstlichen Intelligenzforschung von der Vorstellung abzuwenden, Wahrnehmung wäre etwas, das berechnet, also im vorhinein konstruiert werden könnte und müßte, bevor sie zur Anwendung kommt. Crawford verweist auf die Robotik. Die neueren Robotergenerationen verzichten auf eigene Steuerungssysteme. Die Bewegungen eines Roboters sind nicht mehr das Ergebnis „von Planung und Berechnung, die auf einer Repräsentation der Welt beruhen, sondern Ergebnis seiner Form“:
„Sie resultieren aus der Länge und dem Gewicht seiner Glieder sowie der Dämpfung und Federung der Gelenke, die sie verbinden, ganz ähnlich wie Muskeln und Bänder die Glieder des menschlichen Körpers verbinden.“ (Crawford 2016, S.85)
Die heutige künstliche Intelligenz ist ‚embedded‘. (Vgl. Crawford 2016, S.81) Das Vorbild ist die menschliche bzw. tierische Wahrnehmung. Das „Krabbelkind“ muß Crawford zufolge seinen Körper erst mühsam kennenlernen, bevor er ihm „transparent“ wird und es laufen und greifen kann, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. (Vgl. Crawford 2016, S.86) Damit befindet sich Crawford in einer Linie mit Rousseau, der in seinem „Emile“ (1762) den Körper als ersten Lehrmeister des Kindes bezeichnet. Wahrnehmung unterliegt also keiner zentralen Steuerung, im Sinne eines Programms, das eine vorgefertigte, statische Umwelt enthält, sondern die „Verarbeitung“ wird zumindestens zum Teil „von der Dynamik“, also von den Kinästhesen unseres Umgangs mit den Dingen in der Welt geleistet. (Vgl. Crawford 2016, S.85)

Crawford zufolge bildet diese verkörperte Wahrnehmung zugleich die Voraussetzung für „echte Handlungsmacht“ und damit für Verantwortung und Moral. (Vgl. Crawford 2016, S.44f., 306) Allerdings hält ihn das nicht davon ab, sich auf ein höchst unmoralisches Experiment zu beziehen, bei dem ich mich frage, wo der rationale Sinn dieses Experimentes eigentlich liegt. Crawford zufolge wurden „zehn Jungkatzenpaare in völliger Dunkelheit“ aufgezogen. (Vgl. Crawford 2016, S.81) Jedes dieser Paare wurde „drei Stunden täglich“ in eine Vorrichtung gesperrt, die Crawford als „Karussell“ bezeichnet. Ich weiß nicht genau wie: diese Vorrichtung ermöglichte es, daß eine dieser beiden Katzen ihre völlige Bewegungsfreiheit behielt, während die andere Katze – sie muß wohl irgendwie an die freie Partnerkatze gefesselt gewesen sein –, gezwungen war, jede der Bewegungen der freien Katze mitzuvollziehen, ohne selbst irgendetwas tun zu können.

Der einzige Zweck dieses unglaublich grausamen Experiments bestand darin, empirisch-experimentell zu ‚beweisen‘, daß nur eigene, willkürliche Bewegungen eine gesunde Entwicklung ermöglichen, während unfreie, erzwungene Bewegungen zu Entwicklungsstörungen führen:
„Die fünf aktiven Katzen entwickelten sich normal, während die passiven Tiere nicht lernten, die Platzierung ihrer Pfoten visuell zu steuern, sichtbare Abhänge zu meiden, auf sich rasch nähernde Objekte zu reagieren und bewegten Objekten mit dem Blick zu folgen. Dieses Experiment zeigt, dass das Foto nicht zum Verständnis der visuellen Wahrnehmung geeignet ist. Der Grund dafür ist einfach, dass die Welt nicht stillsteht und dass wir nicht in Bezug auf die Welt stillstehen.()“ (Crawford 2016, S.81)
Halten wir fest: Es wurde also ein wirklich perverses Experiment veranstaltet, um etwas zu beweisen, für das der gesunde Menschenverstand ausreicht! Wer nicht so weit denken kann, daß die Pfote-Auge-Koordination einer Katze der freien Bewegung im Raum bedarf, um sich entwickeln zu können, ohne daß man das durch grausame Folterung eigens beweisen müßte, dem sollten der Doktortitel und die Lizenz zur Forschung entzogen werden! Und Crawford ist sich nicht zu schade, die ‚Ergebnisse‘ dieses ‚Experiments‘ heranzuziehen, um seine eigenen Thesen zu belegen.

Nun will ich aber meinerseits nicht darauf verzichten, diesen Blogpost mit zwei Zitaten von Crawford abzuschließen. Crawford beschreibt eine Fahrt mit einer Luxuslimousine von Toyota durch die Rocky Mountains. Dieses Auto war mit allen möglichen modernsten Software-Unterstützungen für den Fahrer ausgestattet, so daß Crawford jedes Gespür für Geschwindigkeit und Bodenhaftung verlor:
„Ich fühlte mich derart von der Straße – und vom Auto – abgeschottet, dass ich mich zu einer ungewohnten kognitiven Arbeit zwingen musste, nur um das Fahrzeug in der richtigen Richtung zu halten. ... Ich hatte das Gefühl, nur zu raten, was das Auto tat, und auch nach 45 Kilometern überraschten mich die Resultate meiner Steuerungsbemühungen immer noch.“ (Crawford 2016, S.132)
Das Gespür für das Fahrverhalten des Autos ist für den Autofahrer ungefähr so wichtig wie für jeden Menschen, den eigenen Körper zu spüren. Wären unsere Sinne unter dem Einfluß einer Droge oder eines Medikaments anästhesiert, würden wir wahrscheinlich ähnlich unsicher durch die Gegend torkeln wie Crawford in dem Toyota Avalon über die kurvenreiche Interstate in den Rocky Mountains. Die Autoingenieure geben sich alle mögliche Mühe, das Fahrerlebnis zu virtualisieren. So mischt Crawford zufolge BMW „mittlerweile falsche Motorengeräusche“ in das „Soundsystem des Autos“. (Vgl. Crawford 2016, S.133) Tatsächlich sind es aber gerade diese Geräusche, die einem erfahrenen Autofahrer vieles über den Zustand und die Wartungsnotwendigkeiten des Motors verraten. Crawford, der erfahrene Motorradmechaniker, ist not amused:
„In unserer verkörperten Existenz nutzen wir hochempfindliche Fähigkeiten, um die Welt zu erfassen und uns in ihr zurechtzufinden. Und es wäre ein gutes Gestaltungsprinzip, diese Fähigkeiten zu nutzen, anstatt die Verbindungen zwischen Wahrnehmung und Handeln zu kappen, was offenbar das Ziel der heutigen Generation von Automobilingenieuren ist.()“ (Crawford 2016, S.133)
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2 Kommentare:

  1. Interessant, jetzt wo man's anspricht. Ich mache gerade Fahrschule und zwar in einem BMW, der sich zwar sehr bequem fährt, aber bei dem ich teils genau dieses Feedbackproblem kenne -dass man kaum mehr weiß, wo man zur Umwelt steht, weil die Sitze weich gefedert sind und die Steuerung so weich wie möglich ist. Ich hab auch, wenn geheizt ist, immer das Gefühl, jeden Augenblick einzuschlafen und es fällt mir schwer mich zu konzentrieren, weil es nichts gibt, an dem man sich orientieren kann, kein Nagelbrett, das einen daran erinnert wo man ist...

    Natürlich ist Fahrradfahren nicht zu vergleichen mit einem geschlossenen Fahrzeug, aber bisher dachte ich, das wäre eben normal, jetzt wird mir bewusst, dass es überhaupt so ist... ich hoffe jetzt, dass das mir beim Fahren weiterhilft.

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    1. Dieses Erlebnis ist noch gar nichts im Vergleich zum google-Auto, von dem es allerdings heißt, daß da nicht weiter dran gebaut wird. Ich habe einen alten Ford Fusion: da ist auch schon alles mögliche software-gesteuert, aber der Bezug zur Umwelt und zur Geschwindigkeit ist noch nicht verloren gegangen. Aber mein Hauptverkehrsmittel ist und bleibt das Fahrrad.

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