„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Die ersten vier Textseiten seines zweiten Essays „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86) befassen sich hauptsächlich mit dem wissenschaftlichen Status, den Agamben der politischen Philosophie von Thomas Hobbes (1588-1679) eingeräumt wissen will. (Vgl. Agamben 2016, S.43) Zweifel daran weckt eine Äußerung von Carl Schmitt (1888-1985), der für Agamben bei der Interpretation des „Leviathan“ (1651) eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) im ersten Essay zur griechischen Antike. Schmitt behauptet:
„Hobbes hatte, wie alle großen Denker seiner Zeit, Sinn für esoterische Verhüllungen.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.41)
Wissenschaftliche Texte können nun aber niemals esoterisch sein. Andernfalls verlören sie nämlich sofort ihren wissenschaftlichen Anspruch. Carl Schmitt hatte seine Feststellung auf das Frontispiz zu Hobbes‘ „Leviathan“ bezogen, einer Allegorie über den Staat. Agamben befaßt sich nun, wie gesagt über vier Seiten hinweg, mit der Frage, inwiefern die „emblematische Literatur“, also die symbolisch-bildliche Ausgestaltung von abstrakten Gedanken und Ideen, wissenschaftlich sein kann.

Für jemanden wie den Rezensenten ist das erstaunlich. Immerhin hat Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem Buch zur „Theorie der Unbegrifflichkeit“ (2007) und auch schon in einer früheren Abhandlung zur Metapherologie (1960) Bilder und Metaphern in einen engen Kontext zur Genese von wissenschaftlichen Begriffen gestellt. Wieso glaubt also Agamben, er müsse die Wissenschaftstauglichkeit von Allegorien nochmal eigens betonen?

Nun sind Allegorien selbstverständlich keine Metaphern. Anders als Metaphern bedürfen Allegorien eines Schlüssels, der bei ihrer Entschlüsselung hilft. Allegorien bilden also tatsächlich eine Art Geheimcode, wenn auch viele Allegorien so allgemein verbreitet und verständlich sind, daß dieses Entschlüsselungsproblem oft genug nicht weiter ins Gewicht fällt. Aber die Worte einer Sprache – und dazu gehören eben auch Metaphern – brauchen keinen besonderen Schlüssel, um verständlich zu sein. Es reicht, sprechen zu können.

Carl Schmitt hatte also mit seinem Hinweis auf die Esoterik durchaus Recht. Trotzdem kann sich das Allegorische mit dem exoterischen Anspruch der Wissenschaft durchaus vertragen, wenn wir nur über den Schlüssel zu seiner Dechiffrierung verfügen. Warum also meint Agamben trotzdem, eigens hervorheben zu müssen, daß wir es bei Hobbes’ „Leviathan“ mit einer wissenschaftlichen Abhandlung zu tun haben?

Das Rätsel löste sich für mich, als ich feststellte, daß für Agamben nicht Hobbes, sondern Schmitt das Problem ist; und zwar gerade weil Schmitt für ihn so ein wichtiger Gewährsmann bei der Interpretation von Hobbes ist. Schmitt war ein ausgewachsener Antisemit. Das zeigt sich an einer Stelle in der Schmittschen Interpretation von Hobbes, wo er auf die Gefahr von so wirkmächtigen Bildern wie dem Leviathan hinweist:
„Wer solche Bilder benutzt, gerät leicht in die Rolle eines Magiers, der Gewalten herbeiruft, denen weder sein Arm, noch sein Auge, noch das sonstige Maß seiner menschlichen Kraft gewachsen ist. Er läuft dann Gefahr, statt eines Verbündeten einen herzlosen Dämon zu treffen, der ihn seinen Feinden in die Hände liefert ... Die überkommene jüdische Deutung schlug auf den Leviathan des Hobbes zurück.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.70)
Zwischen den ‚Feinden‘ und ‚Juden‘ („jüdische Deutung“) befinden sich zwar drei Auslassungspunkte, so daß die direkte Verbindung zwischen beiden fraglich bleibt, aber Schmitt spricht hier doch die Problematik an, daß die Nutzung biblischer Bilder jüdische Interpretationstraditionen wachruft, die dann von „herzlosen Dämonen“ – sprich: politischen Gegnern – auf die eine oder andere Weise gegen den Nutzer gewendet werden können. Der implizite Antisemitismus Carl Schmitts wird von Agamben an anderer Stelle durch ein weiteres Zitat explizit gemacht:
„Die Weltgeschichte erscheint als ein Kampf der heidnischen Völker untereinander. Im besonderen kämpft der Leviathan, das sind die Seemächte, gegen die Landmächte, den Behemoth ... Die Juden aber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erde sich gegenseitig töten; für sie ist dieses gegenseitige ‚Schächten und Schlachten‘ gesetzmäßig und ‚koscher‘. Daher essen sie das Fleisch der getöteten Völker und leben davon ...“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.72)
Agamben weist ausdrücklich auf den Antisemitismus von Carl Schmitt hin, der die talmudische Überlieferung zum Leviathan „vorsätzlich verzerrt“. (Vgl. Agamben 2016, S.72)

Von diesen Textstellen her wird verständlich, warum Agamben sich so viel Mühe gibt, Hobbes’ allegorische Konstruktion des Staates als Leviathan vor dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit zu bewahren. Carl Schmitt ist, wie gesagt, nicht irgendwer, sondern spielt in Agambens Interpretation die Rolle eines gewichtigen Gewährsmanns. Jeder Verdacht auf antisemitische Beiklänge muß von vornherein ausgeschaltet werden.

Nun hätte Agamben es sich auch einfacher machen und einfach die antisemitischen Äußerungen von Schmitt verschweigen können. Schließlich kommt er auch in „Homo sacer“ (1995/2016), wo oft genug von Schmitt die Rede ist, nicht auf dessen Antisemitismus zu sprechen. Und auch in der Argumentation seines aktuellen Essays spielt Schmitts Antisemitismus keine Rolle. Aber 2014 sind die ersten vier von neun schwarzen Heften von Martin Heidegger (1889-1976) erschienen, und seitdem stehen seine nationalsozialistischen Verstrickungen und sein Antisemitismus in Intellektuellenkreisen wieder auf der Tagesordnung. Agambens Essays wurden 2015 veröffentlicht, also ein Jahr nach den schwarzen Heften. Zwar handelt es sich dabei um die Zusammenfassungen von zwei im Jahr 2001 gehaltenen Seminaren; aber eine aktualisierende Stellungnahme zum wissenschaftlichen Status der Hobbesschen Allegorie wird Agamben angesichts der ersten Reaktionen auf die schwarzen Hefte gerade auch hinsichtlich der Person von Carl Schmitt als opportun erschienen sein.

Agambens Versuch einer Klarstellung ist respektabel und durchaus anerkennenswert. Allerdings wäre mehr zu erwarten gewesen. Es genügt nicht, den Antisemitismus beim Namen zu nennen und sich so davon zu distanzieren. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Agamben auch herausgearbeitet hätte, wieso denn Hobbes’ „Leviathan“ eine so brauchbare Vorlage für billige Antisemitismen aller Art liefert. Das wäre um so dringlicher gewesen, als von dieser Anfälligkeit auch der Begriff der Biopolitik, wie Agamben ihn in „Homo sacer“ (1995/2016) diskutiert, infiziert ist.

Die Gefahr einer biologischen Interpretation der Politik und des Staates zeigt sich insbesondere an der Stelle, wo Agamben auf den seltsamen Umstand hinweist, daß die Stadt auf dem Frontispiz des „Leviathan“ leer ist. Es befinden sich nur zwei Personen in dieser Stadt: ein Wächter und ein Arzt. (Vgl. Agamben 2016, S.62ff.) Agamben interpretiert diesen Umstand dahingehend, daß die aufgelöste Menge sofort, nachdem sie ihren Souverän bestimmt hat, politisch unsichtbar wird. Sie hat von nun an keinerlei politische Bedeutung mehr. Diese Unsichtbarkeit läßt sich bildlich nur durch die Abwesenheit der aufgelösten Menge darstellen: die Stadt ist also leer.

Darauf, daß die aufgelöste Menge dennoch die Stadt bewohnt, weisen der Wächter und der Arzt hin: der Wächter paßt auf, daß die Menge unsichtbar bleibt (also nicht politisch aktiv wird), und der Arzt bekämpft das Eindringen von Seuchen (also den inneren Feind):
„Aus diesem Zusammenhang stammt die Vorstellung, dass die dissoluta multitudine, die unter der Herrschaft des Leviathan die Stadt bewohnt, mit der zu behandelnden und zu regierenden Masse der Pestkranken verglichen werden kann.“ (Agamben 2016, S.64)
Vor diesem hygienischen Hintergrund liefert die Hobbessche Allegorie für jeglichen Antisemitismus ein äußerst brauchbares Material. Ihre Mißbrauchbarkeit liegt angesichts der Katastrophe des 20. Jhdts. auf der Hand, umso mehr als, wie im vorausgegangenen Blogpost festzustellen war, der einzelne Mensch in dieser ‚Biopolitik‘ keine Rolle spielt. Zwar plädiert Agamben in „Homo sacer“ (1995/2016) für eine „neue Politik“, die „Nazismus und Faschismus“ zu überwinden vermag und „im wesentlichen noch zu erfinden ist“ (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.21), aber diese Politik muß Agamben zufolge bei den „ungewissen und namenlosen Terrains“, den „unwegsamen Zonen der Unentschiedenheit“ zwischen Politik und Biopolitik ansetzen (vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.196). Auch die neue Politik kommt nicht um die Biopolitik und den Versuch einer Verschmelzung von zōē und bíos herum. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.197) Damit verbleibt Agamben im Bannkreis dessen, was er seinem eigenen Bekunden zufolge überwinden will.

Da aber der einzelne Mensch in Agambens Analysen zur Inklusion und Exklusion des ‚einfachen‘ Lebens keine Rolle spielt, sind solche Absichtserklärungen hinsichtlich einer neuen Politik sowieso wohlfeil. Die Frage, inwiefern Politik über den einzelnen Menschen hinweggehen darf bzw. über ihn verfügen darf, gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich der Biopolitik. Agamben sollte also schon etwas mehr bieten, als Schmitts antisemitische Interpretation von Hobbes’ „Leviathan“ abzuweisen und ansonsten auf die Kompetenz von Lesern zu hoffen, „die in der Lage sind, Details und Eigenheiten der Darstellung aufzuspüren, wie das eigentlich für jeden Leser gelten sollte, der diesen Namen verdient“. (Vgl. Agamben 2016, S.43)

Es geht nicht darum, an den guten Willen und die Kompetenz des Lesers zu appellieren. Es geht darum, für den eigenen Text und seinen Inhalt – die leere Stadt und ihre Implikationen – Verantwortung zu übernehmen!

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Samstag, 2. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

In meinem vorangegangenen Post hatte ich auf begriffliche Parallelen zwischen Agambens (noch fehlender) Theorie des Bürgerkriegs und Plessners Anthropologie des Körperleibs hingewiesen. Dieser Parallelen wurde ich mir an der Stelle bewußt, wo Agamben den Begriff der „stasis“ aus der Verbindung mit dem „oikos“ löst und auf die „Schwelle“ zwischen „oikos“ und „polis“ verlegt. (Vgl. Agamben 2016, S.25) Diese Schwelle bildet zugleich einen Bereich der Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen. (Vgl. Agamben 2016, S.25 und S.33)

Wir haben hier alle Ingredienzien zusammen, aus denen sich eine Theorie des Körperleibs ergibt, wie sie Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt hat. Der Körperleib bildet Plessner zufolge eine ‚Grenze‘ (Schwelle) zwischen Innen und Außen. Innen und Außen bilden eine Doppelaspektivität (Ununterscheidbarkeit bzw. Vieldeutigkeit), die durch die Perspektive eines auf der Grenze exzentrisch positionierten Subjekts bestimmt wird. Als diese exzentrische Positionalität befinden wir uns ständig im „Streit“ (stasis) mit unserem Körperleib. In „Homo sacer“ (1995/2016) deutet sich an zentraler Stelle sogar eine Parallele zu Plessners ‚Seele‘ an: das „nackte Leben“, die zōē, wird in der polis gleichzeitig ein- und ausgeschlossen. Diese logische Figur entspricht der Plessnerschen Seele, die sich gleichzeitig zeigt und verbirgt. Agamben spricht dem einfachen Leben sogar eine Expressivität zu, indem er ihr eine Stimme zuordnet. (Vgl. Agamben 11/2016 (1995), S.17f.)

Diese Parallelen setzen sich im zweiten Essay (Agamben 2016, S.39-86) fort, wo Agamben Thomas Hobbes (1588-1679) bescheinigt, ein Denker des Körpers zu sein: „Vielleicht ist der grundlegende Begriff in Hobbes’ Denken der des ‚Körpers‘ (body), seine gesamte Philosophie eine Meditation de corpore ...“ (Agamben 2016, S.60) – Von diesem Zusammenhang her läßt sich eine Linie zur schon erwähnten exzentrischen Positionalität ziehen, da sich der politische Körper des Souveräns nicht in der von ihm regierten Stadt befindet, sondern, wie der mythische Leviathan, „in einem Niemandsland oder im Meer“:
„Der Commonwealth, der body political stimmt nicht mit dem physischen Körper der Stadt überein.“ (Agamben 2016, S.51)
Hier zeigt sich aber auch schon der wesentliche Unterschied zu Plessners Anthropologie: Agamben unterscheidet mit Hobbes zwischen einem politischen und einem physischen Körper, und er trennt diese beiden Körper auch räumlich, indem er sie verschiedenen Sphären zuordnet: dem Meer und dem Land. Dabei ist das Meer die Sphäre des Leviathans, der dem biblischen Mythos zufolge ein Fisch bzw. ein Wal ist, und das Land ist die Sphäre des Behemoth, der dem biblischen Mythos zufolge ein Stier ist.

Wir haben es also beim Hobbesschen ‚Körper‘ mit einem höchst allegorischen Konstrukt zu tun, dem zufolge sich im Meer, der Sphäre des Souveräns, das „Volk“ aufhält, und das Land von der „Menge“ bewohnt wird, einer prekären Entität; denn sie ‚bewohnt‘ das Land bzw. die Stadt nicht wirklich, obwohl sie sich in ihr aufhält. In politischer Hinsicht ist die Menge nämlich unsichtbar, d.h. bedeutungslos. Agamben spricht von einem „Graben“ zwischen dem „body political“ und der „reale(n), aber politisch unsichtbare(n) Menge“ (vgl. Agamben 2016, S.80): eine weitere Parallele zu Plessner, der von einem „Hiatus“ bzw. einer „Kluft“ zwischen Innen und Außen spricht. „Volk“ und „Menge“ entsprechen in der Hobbesschen Verhältnisbestimmung dem Verhältnis von „Leib“ und „Körper“ bei Plessner, der zwischen dem Körper, den wir haben, und dem Leib, der wir sind, unterscheidet. Unsichtbar ist hier aber nur die aufgelöste Menge in der Stadt, die zudem nicht expressiv werden darf, während der ‚Leib‘, das Volk als Souverän, zwar sichtbar ist, aber trotzdem abwesend.

Die Hobbessche Verhältnisbestimmung von Volk und Menge besteht in einem Prozeß, der zwar kreisförmig ist, sich aber nicht zu einem Kreis schließt. (Vgl. Agamben 2016, S.61) Dabei unterscheidet Hobbes zwischen einer ungeeinten („disunited“) und einer aufgelösten („dissoluta“) Menge. (Vgl. ebenda) Die ungeeinte Menge geht in dem Prozeß der Staatsbildung dem Volk voran. Sie bildet gewissermaßen einen Naturzustand, ähnlich dem, wie ihn Rousseau mit dem Mythos vom solitär lebenden ‚Wilden‘ beschreibt. Indem die ungeeinte Menge einen Souverän bestimmt – in der Monarchie eine einzelne reale Person, in der Demokratie eine repräsentative Versammlung bzw. einen Rat – konstituiert sie sich als Volk. Allerdings haben wir es hier mit einem der Rousseauschen Mensch/Bürger-Aporie gleichenden Paradox zu tun. So wenig wie bei Rousseau (1712-1778) der Mensch zugleich auch Bürger und der Bürger zugleich auch Mensch sein kann, überdauert auch die Menge ihre Konstitution als Volk. Sofort nach dem souveränen Akt der Staatsbildung löst sie sich als Volk wieder auf und wird nun zur aufgelösten Menge, die fortan als politische Entität unsichtbar ist. An ihre Stelle tritt der König bzw. das Parlament, das nun das Volk ist. Hobbes spricht vom Paradox des „populus-rex“, des Volkskönigs. (Vgl. ebenda)

In einem schönen Zitat, das mir sehr gefällt, weist Hobbes auf den ebenfalls paradoxen Umstand hin, daß Populisten sich niemals an das Volk wenden, von dem sie behaupten, dessen Willen zu kennen, sondern immer nur an die aufgelöste Menge, die sie zum Aufstand gegen das legitime Volk aufrufen:
„Gemeine Leute und andere, die den Sachverhalt nicht erfassen, sprechen von der Menge immer als vom Volk ... und das Volk wolle dies, und jenes wolle es nicht, wie es gerade unruhigen und unzufriedenen Untertanen passt.“ (Zitiert nach Agamben 2016, S.57)
Die Abgabe der Souveränität an einen politischen Körper findet in einer Monarchie nur einmal statt, in einer Demokratie in regelmäßigen Abständen bei Wahlen. Jedesmal wenn sich ein neues Parlament konstituiert, wird das Volk wieder zur aufgelösten Menge. Niemals aber kehrt diese Menge in den Naturzustand zurück: sie wird nie mehr zur ungeeinten Menge. Der Kreis schließt sich nicht. An die Stelle des Naturzustands tritt der Bürgerkrieg, der immer dann beginnt, wenn die aufgelöste Menge den Souverän absetzen will:
„Das Paradox populus-rex besteht aus einem Prozess, der von einer Menge ausgeht und zu einer Menge zurückkehrt: Aber die multitudo dissoluta, in die das Volk sich auflöst, kann nicht mit der disunited multitude zusammenfallen und den Anspruch erheben, einen neuen Souverän zu bestimmen. Der Kreislauf ungeeinte Menge-Volk / König-aufgelöste Menge ist an einer Stelle unterbrochen, und der Versuch, zum Ursprungszustand zurückzukehren, fällt mit dem Bürgerkrieg zusammen.“ (Agamben 2016, S.61)

In einer Graphik zeichnet Agamben diesen Prozeß nach und kennzeichnet die Stelle, an der der Kreislauf durch den Bürgerkrieg unterbrochen wird. Ich habe die Graphik etwas modifiziert, indem ich vom „Volk-König“ einen Pfeil in Richtung auf den Menschen hinzugefügt habe, um deutlich zu machen, was in Agamben/Hobbes’ Bestimmung des politischen Körpers fehlt. So ist z.B. im deutschen Grundgesetz ausdrücklich nicht vom Bürger und seinen Rechten, sondern vom Menschen und seinen Rechten die Rede. Damit soll gerade jene Exklusion vermieden werden, die vom Begriff des Volkes ausgeht:
„Das Volk ist der Souverän, muss sich dafür aber von sich selbst scheiden und sich in eine ‚Menge‘ und ein ‚Volk‘ teilen.“ (Agamben 2016, S.57)
Letztlich besteht die unsichtbare Menge, die von der politischen Willensbildung (abgesehen von der Einsetzung des Souveräns) ausgeschlossen ist, aus Menschen. Aber um dessen Rechte geht es in Hobbes Staatstheorie nicht: weder aus der Sicht des Souveräns noch aus der Sicht der Populisten.

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Freitag, 1. Dezember 2017

Giorgio Agamben, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt a.M. 2016

1. Stasis: Versöhnung auf wessen Kosten?
2. Exzentrisch positioniert: der politische Körper
3. Von Feinden und Seuchen

Im ersten von zwei Essays in seinem Buch „Stasis“ (2016) hält Giorgio Agamben fest, daß es ihm um die „Auswirkungen“ einer Theorie des Bürgerkrieges „im politischen Denken des Westens“ gehe. (Vgl. Agamben 2016, S.14) Dessen ungeachtet konstatiert Agamben, daß es eine solche Theorie nicht gibt. (Vgl. Agamben 2016, S.11) Stellvertretend für so eine bis heute fehlende „Stasiologie“ (ebenda) bezieht sich Agamben in seinen beiden Essays auf „Zeugnisse() der Philosophen und Historiker des klassischen Griechenland“ und auf Hobbes’ „Leviathan“. (Vgl. Agamben 2016, S.14f.) Ich werde in diesem und in den folgenden zwei Besprechungen nacheinander auf diese beiden Essays eingehen: auf „Stasis“ (Agamben 2016, S.11-36) und auf „Leviathan und Behemoth“ (Agamben 2016, S.39-86), die zwei im Oktober 2001 in Princeton University gehaltene Seminare wiedergeben.

Zunächst möchte ich auf den Begriff der „Stasis“ zu sprechen kommen. Bei der „Stasiologie“, das sei eigens für deutsche Leser angemerkt, handelt es sich keineswegs um eine Theorie der Staatssicherheit (DDR), sondern, wie schon erwähnt, um eine noch ausstehende „Theorie des Bürgerkriegs“. Das griechische Wort „Stasis“ bezeichnet den Konflikt in einer Familie (oikos) bzw. innerhalb einer Stadt (polis); es geht also im Unterschied zum Krieg, der sich gegen einen äußeren Feind richtet, um einen inneren Feind. Der Begriff der „Stasis“ ist, wie Agamben mit Berufung auf die französische Historikerin Nicole Loraux (1943-2003) festhält, vieldeutig. Loraux führt den Begriff und seine Vieldeutigkeit auf den „oikos“, auf das Haus bzw. auf die Familie zurück, die die „polis“, die Stadt, zugleich bedroht und erneuert:
„Die Vieldeutigkeit der stasis ergibt sich Loraux zufolge also aus der Vieldeutigkeit des oikos, mit dem sie wesensgleich ist. Der Bürgerkrieg ist stasis emphylos, ein Konflikt, der dem phylon, der Blutsverwandtschaft eignet ...“ (Agamben 2016, S.17f.)
Die Vieldeutigkeit ergibt sich daraus, daß der oikos (Familie/Blutsverwandtschaft) sowohl für den Konflikt in der Polis verantwortlich ist wie auch das Vorbild für die Versöhnung der zerstrittenen Parteien bildet. (Agamben 2016, S.17)

Agamben selbst modifiziert Lorauxs These dahingehend, daß er die „stasis“ nicht als Moment eines familiären Konflikts deutet, sondern auf der „Schwelle“ zwischen dem Politischen und dem Unpolitischen, zwischen „Innen und Außen“ verortet (vgl. Agamben 2016, S.33); wobei hier nicht ganz klar ist, was ‚innen‘ und was ‚außen‘ ist, denn der oikos ist der polis genauso außen wie die polis dem oikos. Dennoch wird es an dieser Stelle für mich insofern interessant, als mich Agambens Begrifflichkeit an Helmuth Plessners Anthropologie des Körperleibs erinnert. Hier fallen mir sofort Begriffe wie „Doppelaspektivität“ und „exzentrische Positionalität“ ein, und nicht zuletzt Plessners kritische Verhältnisbestimmung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein weiterer moderner Vertreter der Staats- und Gesellschaftstheorie wäre Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der in einem Text, dem es um die Auswirkungen einer Theorie des Bürgerkriegs auf das moderne Denken geht, auf keinen Fall vergessen werden darf! Auf Plessners Körperleib werde ich im nächsten Blogpost nochmal detaillierter zurückkommen.

Aber diese Traditionslinien des modernen Denkens interessieren Agamben nicht. Stattdessen heißt es mit Bezug auf Jürgen Habermas, den er allerdings namentlich nicht erwähnt:
„Die Ausrichtung auf den Konsens, die heute gleichermaßen die politische Theorie und Praxis dominiert, scheint inkompatibel mit der ernsthaften Erforschung eines Phänomens, das ebenso alt ist, wie die westliche Demokratie.“ (Agamben 2016, S.11)
So kurz und so abrupt sägt Agamben einen ganzen Ast vom Baum der Erkenntnis ab. Weitere Erörterungen in diese Richtung bleiben aus.

Dabei ist der Begriff der „stasis“ vielschichtiger, als es Agamben lieb sein kann. Die ursprüngliche Bedeutung, ‚Stauung‘, wie sie Agamben für die Detektorfunktion der „stasis“ in Anspruch nimmt – die „stasis“ zeigt Stauungen bzw. Spannungen im Verhältnis zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt an (vgl. Agamben 2016, S.21) –, wird in unserem heutigen Alltagsgebrauch des Wortes eher auf einen Zustand des tiefen Schlafs bezogen. Eine andere damit zusammenhängende Bedeutung ist ‚stehen‘ bzw. ‚für etwas einstehen‘, im Sinne von Zeugnis ablegen oder einen Eid schwören. (Vgl. Agamben 2016, S.24) Die „stasis“ hat demnach neben der politischen und medizinischen auch eine anthropologische Bedeutung, im Sinne des aufrechten Gangs, wie ihn Hans Blumenberg (1920-1996) thematisiert. Aber auch diese Deutungslinie interessiert Agamben nicht. Es ließe sich wohl nicht vermeiden, das Individuum selbst in den Blick zu nehmen, das Stand hält und sich der Kollektivierung, ob nun durch die Familie oder durch die Stadt, widersetzt.

Das von mir gebrauchte Bild vom abgesägten Ast am Baum der Erkenntnis meint genau diese Traditionslinie. Sowohl Plessner als auch Rousseau verwandeln die antike Problemstellung zwischen Familie und Stadt – und, wie wir in den nächsten beiden Blogsposts sehen werden, auch die Hobbessche Problemstellung zwischen Menge und Volk – in eine Problemstellung zwischen Individuum und Gesellschaft (Rousseau) und zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Plessner). Beide verlagern den Konflikt, die „stasis“, vom Kollektiv ins Individuum. An die Stelle des Bürgerkriegs treten bei Rousseau die Aporie zwischen Mensch und Bürger und bei Plessner das exzentrisch positionierte Individuum, das sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bewegt. Bei beiden bildet das Individuum selbst die „Schwelle“, die für Agamben die „stasis“ ist.

Markiert die „stasis“ also nun eine Schwelle zwischen zwei Formen der Kollektivität oder den Beginn einer individuellen Genese? Agamben steht für die kollektive Variante und ontologisiert sie zugleich, also den Konflikt zwischen „oikos“ und „polis“, zwischen Familie und Stadt, indem er ihn als immer wiederkehrenden Konflikt auf Dauer stellt:
Stasis/Familie/Stadt ... diese Begriffe ordnen sich untereinander nach Kräfteverhältnissen, die wesentlich mehr von Wiederkehr und Überschneidung als von irgendeiner Form eines fortlaufenden Entwicklungsprozesses geprägt sind.“ (Agamben 2016, S.20)
Und Agamben fügt hinzu, daß die „Geschichtsschreibung“ von dem „Allgemeinplatz einer zwangsläufigen Überwindung des oikos durch die Stadt“ Abschied nehmen müsse. (Vgl. ebenda) Die „stasis“, die ja wesensmäßig mit dem „oikos“ verbunden ist (vgl. Agamben 2016, S.17), sorgt also wie ein anthropologisches Naturgesetz für die ewige Wiederkehr des immer gleichen kollektiven Konflikts.

Inwiefern ist diese Anthropologie bedenklich? Inwiefern unterscheidet sie sich von den Anthropologien von Rousseau und Plessner? – Rousseau und Plessner haben die Problemstellung der griechischen Antike und von Hobbes aufgegriffen und entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen im 18. und 20. Jhdt. weiterentwickelt; Plessner insbesondere mit seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs als Reaktion auf den Nationalsozialismus. Agambens Ansatz hingegen entzieht die oikos-polis-Problematik der Historie und stellt sie auf Dauer. Was das bedeutet, zeigt sich am Beispiel des „Versöhnungsfestes“, das im Denken der griechischen Antike ein notwendiges Moment der „stasis“ bildete, und am Beispiel der „erlosten Brüder()“. (Vgl. Agamben 2016, S.21 und S.19)

So unvermeidbar für die Griechen der familiäre Konflikt und seine Übertragung auf die „polis“ auch gewesen war, so notwendig war es auch, daß er in einem Versöhnungsfest enden mußte:
„Die Familie ist gleichermaßen Ursprung des Konflikts und der stasis wie Paradigma der Versöhnung (die Griechen, schreibt Platon, ‚kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen‘, Rep. 471a).“ (Agamben 2016, S.17)
Zum Versöhnungsfest gehörte unverzichtbar die „amnēstia“, die, wie Agamben schreibt, nicht einfach im „Vergessen“ oder in der „Beseitigung der Vergangenheit“ bestand (vgl. Agamben 2016, S.32), sondern vor allem vermeiden sollte, daß der überwundene Konflikt unterschwellig in die erneuerte „polis“ hinübergetragen wurde. Nicole Loraux versteht das Versöhnungsfest als ein Zusammenfallen von „oikos“ und „polis“, von Stadt und Blutsverwandtschaft. (Vgl. Agamben 2016, S.20f.) Agamben greift diesen Gedanken auf und postuliert, daß auf der „Schwelle der Ununterscheidbarkeit“ „das Politische und Unpolitische, das Innen und das Außen zusammenfallen“. (Vgl. Agamben 2016, S.33) Mit diesem ‚Zusammenfall‘ verschließt sich allerdings auch jeder individuelle Bewegungsraum. Für den Menschen jenseits von Haus und Stadt, von Gemeinschaft und Gesellschaft ist kein Platz.

Agamben erwähnt eine weitere bemerkenswerte Maßnahme, die sich die Bürger von Nakon, einer griechischen Stadt im 3. Jhdt., nach einem Bürgerkrieg einfallen ließen: Sie hoben die Blutsbande zwischen den Bürgern der Stadt auf, indem sie sie mit Hilfe eines Losverfahrens einer „Familie neuen Typs“ zuordneten, die Agamben auch als „unechte Brüderlichkeit“ bezeichnet. (Vgl. Agamben 2016, S.19) Aus der Perspektive Plessners könnten wir hier von einer Vorform der modernen Gesellschaft sprechen, in der die Menschen ihre familiären Bindungen hinter sich lassen, um eine neue individuelle Form der Geselligkeit zu erproben.

Agamben hingegen beharrt darauf, daß wir es hier weiterhin mit einer Familie zu tun haben, eben einer Familie „neuen Typs“, in der „jeder im anderen ‚einen Bruder oder eine Schwester oder einen Vater oder einen Sohn oder eine Tochter‘ sehen würde ...“ (Vgl. Agamben 2016, S.20) – Damit verharrt Agamben im antiken Horizont. Er entwickelt das Denkangebot, das die Griechen uns machen, nicht weiter.

Das „Versöhnungsfest“ dient deshalb Agamben zufolge, anders als bei Rousseau, der das Fest als Spielwiese für gesellige Individuen auf der Basis des Mitleids thematisiert (vgl. meinen Post vom 03.06.2016), der „Rekonstitution“ einer Einheit (vgl. Agamben 2016, S.24), die den Keim einer neuen Entzweiung schon in sich trägt. Denn das ambivalente, weil vieldeutige Grundprinzip der „stasis“ besteht bei aller Versöhnungsbereitschaft in Inklusion und Exklusion:
„Wie könnte das Verhältnis von zōē sowie von oikos auf der einen Seite und polis sowie politischem bios auf der anderen beschaffen sein, wenn Erstere vermittels eines Ausschlusses in Letztere eingeschlossen werden?“ (Agamben 2016, S.23)
„Zōē“ ist, wie Agamben schreibt, das „einfache natürliche Leben“, die Familie also, während „bios“ das gute Leben meint, in diesem Fall das politische Leben, das Leben in der Stadt. (Vgl. Agamben 2016, S.22) Was könnten also, um Agambens Frage aufzugreifen, die Gleichzeitigkeit von Einschluß und Ausschluß auf dieser biologischen, ins Politische transformierten Ebene meinen? Wer oder was muß ausgeschlossen werden, damit zōē und oikos in bios und polis mit eingeschlossen werden können? Ein schlimmer Verdacht drängt sich hier auf; um so mehr als mit Verweis auf Carl Schmitt (1888-1985) von einer notwendigen „Gruppierung nach Freund und Feind“ die Rede ist (vgl. Agamben 2016, S.30); insbesondere wenn dabei verschiedene Formen von ‚Leben‘ zueinander im Verhältnis von Einschluß und Ausschluß stehen. Der Verdacht bestätigt sich bei einem Blick in sein Buch „Homo sacer“ (1995/2016), wo Agamben schreibt:
„In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet.“ (Agamben 11/2016, S.151)
Wenn in diesem Zusammenhang von Versöhnungsfesten die Rede ist, in denen sich eine Einheit ‚rekonstituiert‘, fragt man sich unwillkürlich, wer die Opfer dieser Versöhnung sind. Diese Frage wird im dritten und letzten Blogpost erörtert werden.

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Samstag, 4. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

Eine Begründung dafür, daß sich die Quantenphysik nicht nur auf den subatomaren Bereich bis hin zu kleineren Molekülen beschränkt, sondern auch etwas mit unserer Alltagsexistenz als lebendigen, empfindungsfähigen Lebewesen zu tun hat, besteht Christine und Frido Mann zufolge darin, daß sowohl subatomare wie auch Lebens- und Bewußtseinsprozesse Ganzheitscharakter haben. Anders als Materieteilchen, die man zerlegen und wieder zusammensetzen kann, bestehen Quantenphänomene aus nicht zerlegbaren Beziehungen und Möglichkeiten:
„Im fundamentalen Unterschied zum System der klassischen Physik ... bestehen quantenphysikalische Ganzheiten nur in den seltensten Fällen aus zerlegbaren und wieder zusammensetzbaren Teilen. Quantensysteme haben grundsätzlich eine auf Einheit gerichtete Struktur. Sie enthalten als Einheit sehr viel größere Möglichkeiten als aus allen ihren Teilen ableitbar sind. Damit kann die Quantentheorie als Physik der Beziehungen und der Möglichkeiten charakterisiert werden.“ (CFM 2017, S.115f.)
Ähnlich wie Quantenphänomene bildet CFM zufolge auch das Leben ein „ganzheitliche(s) Phänomen()“:
„Genausowenig kann man sagen, dass Lebewesen aus den einzelnen Organen bestehen, sondern sie bilden eine Einheit, die man nicht auseinandernehmen und wieder richtig zusammensetzen kann. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass im Bereich des Lebens die Quantentheorie und die Protyposis eine sehr viel größere Rolle spielen, als bei der klassischen Physik.“ (CFM 2017, S.139)
Die Gestaltpsychologie wiederum befaßt sich auf der Bewußtseinsebene mit „Signalkonstellationen“, mit Konstellationen also, wie wir sie auch auf der Quantenebene kennen. Ähnlich wie in der „Quantentheorie als Physik der Beziehungen und der Möglichkeiten“ (CFM 2017, S.116), die z.B. zeigt, wie sich Elementarteilchen miteinander verschränken lassen, so daß sie „eine neue Ganzheit“ bilden (vgl. CFM 2017, S.179), sind also auch Bewußtseinsprozesse wie das Denken konstellativ:
„Diese Form des Denkens ist dem sequentiell-linearen Denken parallel geschaltet und auf die gleichzeitige Erfassung, Bedeutungszuweisung und Beurteilung von Signalkonstellationen spezialisiert.() Konstellatives Denken lässt sich über das visuelle Denken (perzeptive und prädikative Bildkompetenz) fordern und fördern, und seit einigen Jahren werden hierzu auch schon konkrete Unterrichtsformen entwickelt.()“ (CFM 2017, S.221)
Christine und Frido Manns Argumentation beruht hier darauf, Phänomene des sichtbaren und erlebbaren Bereichs mit mathematisch rekonstruierten, experimentellen Effekten zu korrelieren. Der Begriff der Ganzheit bzw. der Ganzheitlichkeit erweist sich dabei aber als problematisch, wie das Autorenpaar selber anmerkt. Wenn alles zu schwingen beginnt und menschliche Beziehungen als über Frequenzen und Rhythmen koordiniert gedacht werden, verwandelt sich der menschliche Verstand in eine Schwarmintelligenz:
„Wie kommt es, dass ganze Völker wie in einem Sog dem Wahn verfallen können, ihre eingeengten Ideologien mit Feuer und Schwert verbreiten zu müssen, sei es der Rassenwahn eines ‚arischen‘ Volkes oder heutzutage die fixe Idee eines islamischen Gottestaates?“ (CFM 2017, S.174)
Diese Frage kann das Autorenpaar nicht beantworten, weil quantenphysikalische Begriffe nicht zureichen, um eine pragmatische Anthropologie zu entwickeln, die zugleich der Fähigkeit des Menschen gerecht wird, sich exzentrisch zu positionieren, d.h. seinen eigenen Verstand zu gebrauchen.

Unser Verstand ist auf sichtbare Phänomene angewiesen. Nur so kann er Wahrnehmungen und Gedanken, Anschauungen und Begriffe auf produktive Weise miteinander verbinden. Der Begriff der ‚Gestalt‘ spielt hierbei eine wichtige Rolle. Der Gestaltbegriff steht für das, was die Philosophen früher gerne als ‚Wesen‘ bezeichneten, womit dann später selbsternannte Priester des Seins wie Martin Heidegger viel Unheil anrichteten. Phänomene sind sichtbare Gestalten. Hinter ihnen verbirgt sich nichts, was einer höheren Einsicht oder auch nur einer komplizierteren Berechnung bedürfte, weil sich da angeblich irgendetwas unserer bloß sinnlichen Anschauung entzieht. Ich verwende das Wort ‚Wesen‘ nur noch selten, und dann umgangssprachlich. Aber letztlich versuche ich es so viel wie möglich zu vermeiden.

Unser Verstand funktioniert anders. Er ist ein Oberflächenverstand. Was sich ihm nicht unmittelbar sinnlich gibt, bleibt ihm fremd. Der Bereich der Quantenphysik ist nunmal hochgradig abstrakt und unanschaulich, wie auch Christine und Frido Mann zugeben. (Vgl. CFM 2017, S.19, 33, 91, 132, 190) Dieses Befremden angesichts quantenphysikalischer Effekte ist übrigens nicht nur den Laien vorbehalten, sondern betrifft sogar Einstein:
„Denn obwohl Einstein mit seiner Entdeckung der photoelektrischen Gesetze bereits an der Schwelle zur eigentlichen Quantenphysik stand, konnte er zeitlebens deren Theorie sowie die aus ihr folgende, neue auch philosophische Interpretation unserer Welt nicht mehr mit vollziehen.“ (CFM 2017, S.93)
Ich neige dazu, der Quantenphysik diese Unanschaulichkeit zu lassen, anstatt die Anschauung, die sie verweigert, durch Analogiebildungen zu erzwingen. Das scheint mir gesünder zu sein – für unserenVerstand.

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Freitag, 3. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

In einem Exkurs meditiert Christine Mann über die Bedeutung von ‚Geist‘. Sie setzt dieses Wort vom Begriff der Materie ab und beschließt, daß sie „alles, was nicht Materie oder physikalisch erfassbare Energie ist, als Geistiges verstehen will“. (Vgl. CFM 2017, S.125) Unter dieses Nicht-Materielle faßt Christine Mann „unser Denken, die Sprache, die Mathematik, vielleicht auch Schönheit und Harmonie“. (Vgl. CFM 2017, S.124)

Diese Reihe von ‚Geist‘-Begriffen ist in sich problematisch, weil sie sehr unterschiedliche Bewußtseinsphänomene zusammenfaßt, so daß schwerwiegende Differenzen zwischen ihnen verlorengehen. Sprache, Mathematik und Schönheit haben sehr wenig bis gar nicht miteinander zu tun. So ist es nicht richtig, daß Formeln, wenn sie schön sind, auch wahr sind. Und Sprache und Mathematik unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bedeutungshaftigkeit: Sprache ist immer bedeutungsvoll, Mathematik ist bedeutungsleer; ungefähr so leer, wie die von CFM beschriebene Quanteninformation. (Vgl. CFM 2017, S.134ff.)

Natürlich hängt dabei alles vom Begriff der Bedeutung ab. In meinem Blogpost „Schatten und Symbole“ habe ich mich detaillierter dazu geäußert. (Vgl. meinen Post vom 15.06.2012) Wie man wiederum den Begriff ‚Bedeutung‘ definiert, hängt davon ab, was man unter ‚Bewußtsein‘ und unter ‚Geist‘ versteht. Während ich mich dabei auf Helmuth Plessners Körperleib beziehe und Bedeutsamkeit auf die Differenz von Sagen und Meinen zurückführe, die wiederum mit der Differenz zwischen Innen und Außen zusammenhängt, auf deren Grenze sich das Bewußtsein exzentrisch positioniert, arbeiten Christine und Frido Mann mit dem Informationsbegriff; und sie fassen das Bewußtsein als „interne Informationsverarbeitung“ (vgl. CFM 2017, S.140f.). Dabei fassen sie den Informationsbegriff so weit, daß er dem biblischen Logos entspricht: „Am Anfang war der Logos ... Am Anfang war die Information.“ (CFM 2017, S.195).

Zugleich lassen sie die „Evolution des Geistigen“ mit dem Urknall beginnen und vorerst beim menschlichen Bewußtsein enden, insofern das „Bewusstsein nicht nur sich selbst erkennende Information ist, sondern auch ein gleichzeitig sämtliche Evolutionsstufen der Information erkennendes und ggf. wissenschaftliches Subjekt“. (Vgl. CFM 2017, S.133ff. und S.137) Bedeutung besteht hier nicht mehr in einer Differenz, sondern darin, daß Außenweltphänomene für die Selbsterhaltung von Organismen und für das individuelle Bewußtsein entweder nützlich oder schädlich sind:
„Denn Lebewesen sind fähig, Informationen aus ihrer Umwelt als äußere, für ihre Existenz als bedeutungsvoll erkannte Reize intern zu bewerten und darauf zu antworten.() Konkret heißt das: Lebewesen geraten von Natur aus ständig aus ihrem labilen, lebenserhaltenden Gleichgewicht heraus. Von innen führt beispielsweise der andauernde physiologische Stoffwechsel zu Hunger und Durst, die körperliche und geistige Beanspruchung des Körpers bzw. auch des Gehirns zu Müdigkeit und Erschöpfung, und von außen kann übermäßige Hitze und Kälteeinwirkung die natürliche Wärme- und Flüssigkeitsregulierung empfindlich beeinträchtigen und massives Unwohlsein hervorrufen.“ (CFM 2017, S.141f.)
Mit dem Begriff der Informationsverarbeitung steht der rechnerische Aspekt im Vordergrund, und der Unterschied zwischen Sagen und Meinen geht völlig verloren. Innen und Außen bilden nur noch Momente der Bedürfnisbefriedigung im Dienste der Gleichgewichtserhaltung und keine bewußtseinsstiftende Grenze, an der sich unsere Intentionalität bricht. Das Bewußtsein steht in einer Kontinuität mit der „Evolution des Geistigen“ (vgl. CFM2017, S.139) und fällt anders als bei Plessner nicht mehr als eine Diskontinuität aus ihr heraus. Das Bewußtsein ist CFM zufolge „in einem dichten, unser ganzes Universum durchdringenden Netz elektromagnetischer Wellen eingebettet“, von dem „unser Weltall erfüllt ist“ als „einem immensen, pulsierenden und ineinanderschwingenden Komplex von Energiefeldern“. (Vgl. CFM 2017, S.190)

Die weltanschauliche Deutung, die Christine und Frido Mann den quantentheoretischen Erkenntnissen geben, beruht letztlich auf Entscheidungen, die über Wissenschaft hinausgehen. Sie sind nicht wissenschaftlicher als andere weltanschauliche Präferenzen. Sie können also nicht von sich behaupten, daß ihr Konzept wissenschaftlich begründet sei, so wenig wie sie behaupten können, daß der Determinismus durch die Quantenphysik „glücklicherweise widerlegt“ sei (vgl. CFM 2017, S.209). Ich habe im Laufe meines Lebens häufig genug erlebt, wie scheinbar in Stein gemeißelte wissenschaftliche Erkenntnisse durch neuere Studien widerlegt wurden: Butter galt als ungesund und Margarine als gesund, Lamarck hatte unrecht und Darwin hatte recht, der Genuß von Kaffee schadet unserer Gesundheit, Schwangere sollen Contergan-Medikamente einnehmen usw.usf.

Was sollen die Menschen machen, wenn künftige Wissenschaftler mit neuen Erkenntnissen die Quantenphysik überwinden und feststellen, daß der Kosmos doch deterministisch ist? Sollen sie dann ihnen glauben und nicht mehr den heutigen Quantenphysikern?

Es ist wohl eine bessere Option, wieder mehr dem eigenen Verstand zu vertrauen und das eigene Leben eigenverantwortlich zu führen. Das bedeutet keineswegs, die Erkenntnisse der Wissenschaft zu ignorieren. Es bedeutet nur, die Entscheidungen für das eigene Leben selbst zu treffen und sie sich von niemandem abnehmen zu lassen. Und für diese Lebensführung scheinen mir die Plessnersche Anthropologie und Husserls Phänomenologie eine brauchbare Basis zu bilden.

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Donnerstag, 2. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

Immer wieder fügen Christine und Frido Mann der Quantenphysik das Adjektiv ‚unanschaulich‘ hinzu (vgl. CFM 2017, S.132, 190) bzw. sie sprechen vom „Verlust jeder Anschaulichkeit als beherrschendes Prinzip“ insbesondere in der Quantenphysik (vgl. CFM 2017, S.91). Schuld an dieser Unanschaulichkeit ist CFM zufolge die „herausfordernde() und gedanklich unbequeme() abstrakte() Struktur“ der quantenphysikalischen Wirklichkeit (vgl. CFM 2017, S.19), die sich nur als „Beziehungen zwischen ... Zahlen“, also als „mathematische Strukturen“ (vgl. CFM 2017, S.33) erfassen läßt. Diese ‚Sprache‘ beherrschen aber nur wenige hochbegabte Menschen, die eine langjährige wissenschaftliche Ausbildung absolviert haben, wie etwa die Quantenphysiker des 20. Jhdts, „die sich diesem Thema verschrieben hatten und ihre gesamte Energie darauf richteten, diese Rätsel der Physik zu lösen“. (Vgl. CFM 2017, S.117)

Da das Autorenpaar an verschiedenen Stellen seines Buches auf die Parallelen zwischen dem „Naturerleben()“ in der wissenschaftlichen Forschung und der religiösen Erfahrung von Gläubigen hinweist (vgl.u.a. CFM 2015, S.131), ist es verwunderlich, daß die beiden es versäumen, auf die Ähnlichkeit zwischen Quantenphysikern und Priestern zu sprechen zu kommen. Es ist derselbe Glaube, den uns Laien die Autorität der Priester bei der Auslegung der Bibel wie auch die Autorität der Quantenphysiker bei der Auslegung des Buches der Natur abverlangt. (Vgl. CFM 2017, S.66) Denn für den Laien müssen die Quantenphysiker „das, was sie berechnen“ können, in eine „auch unter Nicht-Mathematikern“ „verständliche Bildsprache“ übersetzen. (Vgl. CFM 2017, S.33 und S.191)

Inwiefern unterscheidet sich diese Verhältnisbestimmung zwischen Quantenphysikern und Laien von der zwischen Klerikern und Laien? Ist es die Wissenschaftlichkeit? – Die beiden Autoren betonen, daß sie „jede Form von parawissenschaftlicher Esoterik“ ablehnen. (Vgl. CFM 2017, S.23) Zugleich aber geben sie implizit zu, daß es in der Quantenphysik kein bißchen weniger esoterisch zugeht als in der Religion, der sie z.B. zubilligen, daß es zur Vermittlung religiöser Erfahrungen einer eigenen Bilder- und Metaphernsprache bedarf:
„Besonders die verschiedenen Religionen kommunizieren in Bildern und Metaphern, um über eine nicht primär sprachlich gemachte Erfahrung oder Erkenntnis mit Menschen reden zu können, die diese Erfahrung zunächst nicht gemacht haben, und sie ihnen nahezubringen.“ (CFM 2017, S.191)
In der Religion besteht offensichtlich die Verlegenheit, Menschen etwas glauben machen zu müssen, von dem sie keine eigene Erfahrung haben und zu dem sie mit Hilfe von Gleichnissen ‚hingeführt‘ werden müssen. Das Paradigma für eine solche Problematik bildet Platons Höhlengleichnis.

Um den Laien die fehlende Erfahrung zu vermitteln, wird sowohl in der Religion wie auch in der Quantenphysik gerne auf Analogien zurückgegriffen. Es wird dann auf ähnliche Erfahrungen im Alltag der Menschen verwiesen, die den ‚Erkenntnissen‘ der Quantenphysik entsprechen. Auch CFM weisen gerne auf die Alltagstauglichkeit der Quantenphysik hin. (Vgl. CFM 2017, S.160f.) An diesen Stellen ähneln ihre Beschreibungen der phänomenologischen Methode. CFM verweisen auf umgangssprachliche Intuitionen, wenn wir die Lichtmetapher verwenden, um Bewußtseinszustände zu beschreiben:
„Verblüffenderweise haben die Menschen schon lange vor diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen in unserem alltäglichen Sprachgebrauch Begriffe verwendet, in welchen das Licht als Metapher für Denkvorgänge benutzt wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wir von ‚Erleuchtung‘, einem ‚strahlenden Gesicht‘ oder ‚Geistesblitzen‘ sprechen oder sagen, ‚Ihm geht ein Licht auf‘. ... Es wirkt, als hätten die Menschen intuitiv wahrgenommen, dass die Denkvorgänge im Zusammenhang mit dem Licht im weitesten Sinne stehen, oder zumindest von derselben physikalischen Qualität sind, so wie wir das heute wissen.“ (CFM 2017, S.156)
Diese Darstellung von Bewußtseinszuständen anhand von alltagssprachlichen Praktiken entspricht dem, was auch Phänomenologen machen. Im letzten Blogpost werde ich nochmal darauf zurückkommen, wie CFM auf Begriffe der Gestaltpsychologie zurückgreifen, um quantenphysikalische Zustände zu beschreiben. An dieser Stelle bleibt vorerst nur festzuhalten, daß den quantenphysikalischen Begriffen die Anschauung fehlt und deshalb auf Anschauungsersatz zurückgegriffen werden muß. Die Quantentheorie beinhaltet in erster Linie und ausschließlich Zahlenverhältnisse, die ähnlich wie biblische Gleichnisse gedeutet werden müssen, um jenseits eingeweihter mathematischer Zirkel verstanden werden zu können. Mit Rückgriff auf Kant, demzufolge Anschauungen ohne Begriffe blind und Begriffe ohne Anschauungen leer sind, müssen wir festhalten: die quantenphysikalischen Begriffe sind leer. Man könnte von dunklen Begriffen sprechen, so wie man in der Quantenphysik von dunkler Materie und von dunkler Energie spricht. Diese dunklen Begriffe gleichen irgendwie der „bedeutungsfreie(n) Quanteninformation“, der ja auch Bedeutungen erst noch eingeprägt werden müssen. (Vgl. CFM 2017, S.134f.)

Es ist kein bloßer phänomenologischer Dogmatismus, der mich veranlaßt, an dieser Stelle meinen Einspruch zu erheben. Obwohl sich die Quantenphysik als äußerst nützlich erweist und aus unserer technologischen Welt nicht mehr wegzudenken ist, sollten wir Kants Definition von Aufklärung nicht vergessen: es geht darum, daß der Gebrauch des eigenen Verstandes nicht an andere Autoritäten, auch nicht an Fachleute und Wissenschaftler, delegiert werden darf. Es ist immer derselbe Glaube, der uns dazu bringt, auf den Gebrauch unseres eigenen Verstandes zu verzichten. Und unser Verstand ist ein Oberflächenverstand, d.h. er bedarf der Anschauung, um funktionieren zu können.

Für unseren Verstand ist die Natur etwas, das sich nicht verbirgt, sondern das sich offen zeigt:
„Die Geheimnisse der Natur liegen nicht hinter ihr oder in ihr wie geheimer Text in Chiffren versteckt, sie liegen öffentlich zutage.“ (Helmuth Plessner, „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.226)
Daran hält die Phänomenologie fest. Die Phänomenologie ist exoterisch, nicht esoterisch. Die Gefahr, die mit der Unanschaulichkeit der Quantenphysik einhergeht, wird von dem Autorenpaar selbst aufgezeigt. Die quantentheoretische Herausforderung des menschlichen Verstandes liegt weniger darin, daß nur wenige Menschen die quantenphysikalische Wirklichkeit verstehen können oder glauben verstehen zu können, als vielmehr in der Resignation des Verstandes selbst. CFM beschreiben, was passieren kann, wenn Menschen mit dem Mainstream ‚mitschwingen‘, weil sie meinen, sich wie ‚Wellen‘ verhalten zu müssen:
„Das Bild von der Welle und von den Schwingungen trifft wegen seiner übergreifenden Gültigkeit keinesfalls nur auf einvernehmliche zwischenmenschliche Situationen zu, sondern auch auf jede Stimmung zwischen zwei Menschen oder in ganzen Gruppen, durchaus auch in einer unangenehmen, feindseligen Atmosphäre.“ (CFM 2017, S.189)
Das Autorenpaar warnt vor einem „Sog“ der „Massensuggestion“ (vgl. CFM 2017, S.188), vor „gefährliche(m) kollektive(m) Hass sowie Kriegs- oder gar Pogromstimmung“ (CFM 2017, S.187). – Hier zeigen sich die Grenzen eines Bewußtseinsbegriffs, der das Bewußtstein als Moment eines kosmologischen Entwicklungsprozesses auslegt. Darauf werde ich im nächsten Blogpost detaillierter eingehen.

Es ist auch keineswegs so, daß die Quantenphysik gegen Dogmatismus immunisiert, wie CFM meinen.  (Vgl. CFM 2017, S.24, 195ff.) Es gibt mittlerweile Theoretische Physiker, die Experimente für überflüssig halten, weil die Mathematik eine völlig adäquate Darstellung der Wirklichkeit sei und diese auch immer zutreffend beschreibe.

Die Phänomenologie stärkt den menschlichen Verstand, weil sie immer exoterisch ist, d.h. von unseren Erfahrungen ausgeht, anstatt umgekehrt diese Erfahrungen den jeweils neuesten Theorien und ihrem mathematischen Modellen anzupassen. Auch die Phänomenologen arbeiten viel mit Metaphern, so etwa Hans Blumenberg. Aber die Metaphern bilden keinen Ersatz für Begriffe, sondern deren Vorstufe. Und diese Metaphern verweisen nicht auf etwas prinzipiell Verborgenes, sondern sie zeigen etwas, das wir noch nicht sehen können. Hinter den Metaphern verbirgt sich nichts.

Tatsächlich spricht Werner Heisenberg (1902-1976), der Vater von Christine Mann, in dieser Weise über sein Gottesverhältnis. CFM berichten, wie er Gott als einen Zustand der kosmischen Ordnung beschreibt:
„Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? Ich verwende hier ausdrücklich das schwer deutbare Wort Seele, um nicht missverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit Ja antworten.“ (CFM 2017, S.119)
Heisenberg gelingt hier etwas Geniales: er hebt nicht die Verborgenheit Gottes hervor, sondern die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung! Das ist genuin phänomenologisch, weil es den Fokus auf die Bedeutung der eigenen Anschauung richtet. ‚Verborgenheit‘ beschriebe übrigens aus phänomenologischer Perspektive selbst wieder nur die Erfahrung eines unbeantwortet bleibenden religiösen Bedürfnisses.

Heisenberg vergleicht diese unmittelbare Gottesbeziehung mit der Beziehung zu einem anderen Menschen, und zwar als Seele. Damit eröffnet er eine Dialektik aus sich Zeigen und Verbergen auf dem Niveau von Helmuth Plessners Anthropologie, denn diese Seele zeigt sich, indem sie sich verbirgt. Das heißt, sie zeigt sich als ‚noli me tangere‘:
„Ich würde sagen, auch wenn wir der Seele eines anderen Menschen begegnen, ist diese Begegnung nur dann ganz intensiv, wenn wir spüren, dass wir nun mit dem anderen im Einklang sind, das heißt, dass wir dessen Empfindungen auch selber haben und dass er auch unsere Empfindungen hat. Das heißt, dass eine Art von Resonanz stattfindet zwischen der Seele des anderen und uns selber ...“ (CFM 2017, S.119f.)
Die Beziehung zum anderen Menschen führt also zu keiner „Verschmelzung“, wie CFM im Anschluß schreiben, sondern zu einer Resonanz, in der die Individualität des anderen Menschen erhalten bleibt; denn ohne Zwischenraum, also ohne Abstand, gibt es keine Resonanz. Das Wissen um die Empfindungen des anderen Menschen bildet eine Rekursion, ein wechselseitiges sich Einstellen auf die Intentionalität des anderen Menschen, und keine Verschmelzung. Genau dieser Zustand des Seelischen wird von Plessner als noli me tangere bezeichnet.

Was Heisenberg an dieser Stelle vorlegt, ist Phänomenologie at its best. Er verbindet ‚Unmittelbarkeit‘, also Anschauung, mit Distanz, in diesem Fall als ‚Seele‘. Diese Phänomenologie einer Gottesbeziehung hebt den Verstand nicht auf. Wer dazu fähig ist, muß ihn nicht dem Glauben opfern.

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Mittwoch, 1. November 2017

Christine & Frido Mann, Es werde Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik, Frankfurt a.M. 2017

1. Zusammenfassung
2. Esoterik oder Exoterik?
3. Bewußtsein
4. Ganzheitlichkeit und Gestaltwahrnehmung

Das Ehepaar Christine und Frido Mann, im Folgenden kurz CFM, hat mit seinem Buch „Es werde Licht“ (2017) den Versuch einer allgemeinverständlichen Darstellung der Quantenphysik unternommen und entfaltet deren Implikationen für ein neues, Geistes- und Naturwissenschaften sowie religiös-weltanschauliche Erfahrungen miteinander verbindendes Weltbild. Unabhängig davon, ob alle Leserinnen und Leser, einschließlich dem Rezensenten, den Autoren darin immer und überall inhaltlich und verstandesmäßig zu folgen vermögen, möchte ich doch meinen, daß es ihnen weitestgehend gelungen ist. Trotz des etwas esoterisch angehauchten Titels und der mystisch anmutenden Umschlaggestaltung sprechen die Autoren in erster Linie den Verstand des Lesers an:
„Dieses Buch bewegt sich gewissermaßen auf einer Gratwanderung zwischen einerseits empirisch gesicherten Fakten, ohne primär eine naturwissenschaftliche Abhandlung zu sein, und andererseits weitgreifenden gedanklichen Schlussfolgerungen mit einer neuen Sicht des Bewusstseins.“ (CFM 2017, S.23)
Die Autoren distanzieren sich ausdrücklich von „jede(r) Form von parawissenschaftlicher Esoterik“. (Vgl. CFM, S.23)

Das „Es werde Licht“ erinnert nicht nur an den biblischen Schöpfungsmythos, sondern soll auch auf das eigentliche Thema der Quantenphysik verweisen: auf den Dualismus von Teilchen und Welle im subatomaren Bereich. Je weiter die Forschung im 20. Jhdt. nämlich auf der Suche nach den kleinsten materiellen Bauteilchen vorgedrungen war, löste sich alles in elementare Energiezustände auf, die je nach Versuchsanordnung mal als Wellen, mal als Teilchen gedeutet werden konnten. Damit war der Determinismus der klassischen Physik CFM zufolge endgültig überwunden:
„Das heißt, im subatomaren Bereich ist etwas, was nach unseren Vorstellungen überhaupt nicht miteinander zu vereinbaren ist, ein und dasselbe. Die Gegensätze fallen ineinander, wie schon Cusanus es sich ... vorgestellt hatte. Dieses Grundprinzip gilt nicht nur für das Licht, sondern für sämtliche Elementarteilchen.“ (CFM 2017, S.107)
Obwohl die klassische Physik für den Bereich unserer alltäglichen Wahrnehmungen ihre Gültigkeit behält, sind quantenphysikalische Effekte wie die Heisenbergsche „Quantenunbestimmtheit“, also die Unmöglichkeit, Ort und Impuls eines Teilchens gleichzeitig bestimmen zu können, CFM zufolge durchaus nicht auf den subatomaren Bereich beschränkt. Sie erstrecken sich auch auf kleinere Moleküle und auf biologische Prozesse in einer Zelle. (Vgl. CFM 2017, S.97f.) CFM verweisen auf die Komplexität innerzellulärer Stoffwechselprozesse, in denen „die Quantenphysik mit ihrem Grundprinzip der Unbestimmtheit höchstwahrscheinlich eine Rolle spielt“, und auf den „Bereich der Vererbung“:
„Denn nachdem sich eine Sperma- und eine Eizelle vereinigt haben, teilen sich die Gene, um sich neu zu verbinden. Wo genau sie sich teilen, ist nicht festgelegt. Diese Unbestimmtheit unterliegt höchstwahrscheinlich quantenphysikalischen Gesetzen. Durch diese Fülle an offenen Möglichkeiten wird erst die Vielfalt in der Entwicklung von Lebewesen möglich, die sich dann an unterschiedliche Umgebungsbedingungen anpassen können, indem immer die am besten für ihre Umgebung angepassten Lebewesen sich vermehren und allmählich die weniger geeigneten verdrängen.“ (CFM 2017, S.112)
An dieser Stelle beschränken sich die Autoren auf den Bereich der Fortpflanzung mit ihren zufallsbedingten Mutationen. Ein weiterführender Ausblick auf die Bedeutung der individuellen Ontogenese mit ihrer Epigenetik unterbleibt. Entsprechend fokussieren sich CFM auf eine Evolution des Geistes bzw. des Geistigen, die auf kosmologischer Ebene beim Urknall ansetzt und – vorerst – beim menschlichen Bewußtsein endet. (Vgl. CFM 2017, S.134) Damit heben sie die Kontinuität des Geistigen hervor, wie es beispielsweise in mathematischen Strukturen sichtbar wird. (Vgl. CFM 2017, S.22 und S.124)

In einem umfassenden kulturgeschichtlichen Überblick zeichnen die Autoren nach, wie sich der Gegensatz zwischen empirisch-naturwissenschaftlicher und ideal-geistiger Weltdeutung von den Vorsokraktikern über Platon und Aristoteles bis heute in einer ständigen „Spiralbewegung“ durch die abendländische Geschichte gezogen hat, bis er, nach ihrer Auffassung, zu Beginn des 20. Jhdts. durch Einstein und die Quantentheoretiker endgültig überwunden wurde. (Vgl. CFM 2017, S.25-100) In vielem erinnert ihre Darstellung der elektromagnetischen Strahlung an Rupert Sheldrakes morphogenetische Felder, den sie allerdings an keiner Stelle erwähnen. (Zu Sheldrake vgl. meine Posts vom 31.01. bis 08.02.2013) So sollen CFM zufolge die Naturgesetze nur eine statistische Geltung haben. (Vgl. CFM 2017, S.209) Sheldrake spricht in diesem Zusammenhang von ‚Gewohnheiten‘. Außerdem soll insbesondere der „langwellige() Elektromagnetismus aus beliebiger Entfernung“ Informationen übertragen können. (Vgl. CFM 2017, S.198) Genau diese Eigenschaft schreibt Sheldrake auch seinen morphogenetischen Feldern zu.

Elektromagnetische Wellen sollen auch die komplexen Stoffwechselvorgänge in den Zellen ermöglichen. CFM verweisen auf die komplexen Abstimmungsnotwendigkeiten im Innern des Organismusses und in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt:
„Je komplexer die Vorgänge in den entstehenden und sich entwickelnden Zellen wurden, desto komplexer wurden die Strukturen, desto genauer mussten sie aufeinander abgestimmt sein. Und solches ist nur möglich mit innerer Information über das ganze Lebewesen ... Ebenso sind auch Informationen über das im Umfeld vorhandene Angebot hilfreich zum Überleben. Die chemischen Reaktionen, die vor der Entstehung des Lebens eine einfache Verbindung von Molekülen ermöglichten, gewannen mit der Entstehung des Lebens eine Bedeutung für die Lebewesen.“ (CFM 2017, S.140f.)
Nur elektromagnetische Strahlung, also ‚Licht‘, ist schnell genug, um eine effektive „interne Informationsverarbeitung“ zu gewährleisten, die für die Erhaltung eines labilen biologischen Gleichgewichts unerläßlich ist:
„Die Geschwindigkeit in der das alles abläuft, ist nur auf der Quantenebene möglich, wo ständig mehrere Möglichkeiten der Weiterentwicklung offenstehen und jeweils mit dem Faktisch-Werden einer Möglichkeit die anderen Möglichkeiten unrealisiert bleiben.“ (CFM 2017, S.142)
Um die informative Qualität elektromagnetischer Strahlung zu erklären, greifen CFM auf das Konzept eines anderen Autorenpaars zurück: Brigitte und Thomas Görnitz. Diese beiden Autoren haben ein Konzept entwickelt, demzufolge Qubits als einfachste und „über den ganzen Kosmos ausgedehnte Einheiten“ „Ur-Alternativen“ bilden, also Ja und Nein, bevor über das Eine oder Andere entschieden worden ist. (Vgl. CFM 2017, S.134). Görnitz & Görnitz bezeichnen diesen Zustand als „bedeutungsfreie Quanteninformation“ (vgl. CFM 2017, S.135); ‚bedeutungsfrei‘, weil in diesem Zustand die Bedeutung, die so ein Qubit für etwas oder für jemand haben könnte, noch offen ist. Der Qubit ist noch ‚ungeprägt‘, weshalb sein Zustand auch als „Protyposis“ bezeichnet werden kann:
„Diese Quanteninformation ist die einfachste Struktur, die es geben kann, denn sie enthält nur die Alternative ja/nein, oder, wie es im Computer ausgedrückt ist: 1 oder 0. Sie enthält sozusagen die zwei alternativen Antworten auf eine Information, nämlich sein oder nicht sein.“ (CFM 2017, S.135)
Mit diesem Informationsverarbeitungsmodell wird der Begriff der Bedeutung nicht nur auf Bewußtseinsprozesse, sondern auch auf Lebensprozesse bezogen. Es gilt generell für alle Lebensprozesse, daß es sich dabei um labile Gleichgewichtszustände handelt, die die Außenwelt nach ihrer Relevanz für die eigene Lebenserhaltung bewerten. Alles, was die fundamentalen Bedürfnisse des eigenen Stoffwechsels befriedigt (oder gefährdet), ist bedeutungsvoll:
„Damit wird die ursprünglich bedeutungsfreie Information zur bedeutungsvollen Quanteninformation. Und mit dem aus dem Leben hervorgehenden Bewusstsein schließlich erscheint Protyposis als sich selbst erlebende und selbst erkennende Quanteninformation.()“ (CFM 2017, S.136)
Die Evolution des Geistigen schreitet also von den verschiedenen Zuständen lebloser Materie über lebendige Organismen bis hin zum menschlichen Bewußtsein fort, indem der ursprünglich bedeutungsfreien Protyposis Bedeutung hinzugefügt wird. Die Hinzufügung von Bedeutung zur Protyposis, also zur den Körper durchdringenden elektromagnetischen Strahlung, geschieht durch die Mechanismen des Stoffwechsels in den Zellen und der Vorgänge im Gehirn, wie es CFM am Beispiel einer Sinneswahrnehmung detaillierter beschreiben. Zunächst verweisen die Autoren auf das Eintreffen eines Reizes bzw. Signals im entsprechenden Sinnesorgan:
„Die Informationen wechseln ihren Träger und werden als virtuelle Photonen über Ionentransport entlang den Nervenbahnen zu anderen Nervenzellen und Zellkomplexen im Gehirn geleitet und verarbeitet. Schon dieser Weg der Nervenbahnen mit ihren verschiedenen, durch frühere Erfahrungen gewachsenen Verzweigungen und ihren hemmenden oder aktivierenden Verbindungen (Synapsen) fügt den von außen kommenden Informationen weitere, bisher in Neuronen gespeicherte Informationen aus dem Lebewesen hinzu. Im Gehirn wird die Information in den Nervenzellen immer wieder auf weitere Photonen übertragen, und dies bewirkt Veränderungen in den Energieniveaus von Molekülen. Die dabei ablaufenden elektromagnetischen Wechselwirkungen verändern auch die Photonen wieder, zum Beispiel ihre Richtung oder ihre Polarisation, und sie ergänzen damit die von außen kommenden Informationen mit in den Lebewesen gespeicherten Informationen. Auf diese Weise werden im Gehirn die meist sehr komplexen, aber noch bedeutungsfreien elektromagnetischen Schwingungen des sichtbaren Lichts, die Schallwellenstruktur von Geräuschen und die ebenfalls meistens vielfältige, aber noch bedeutungsfreie chemische Struktur von Gasgemischen usw. mit einer oder mehreren Bedeutungen versehen.() Da die ins Gehirn gelangenden Photonen sowohl die Information über die Außenwelt als auch über die Nervenbahn mit sich bringen, kann das Gehirn diese Photonen mit umfangreicherer Bedeutung versehen. So werden Farbmixturen zu Bildern, Schallwellenkomplexe zu Klängen und Gasgemische zu Gerüchen. Diese Bedeutungen sind meistens erlernt und subkortikal gespeichert.“ (CFM 2017, S.153)
Das ist alles insoweit stimmig. Aber CFM arbeiten hier mit einem ganz bestimmten Bewußtseinsmodell, in dem die Wahrnehmung vor allem als Informationsverarbeitung verstanden wird. Dabei geht die Differenz von Innen und Außen, auf der ja auch der Begriff des Stoffwechsels beruht, verloren. Das Bewußtsein stellt letztlich nur eine Verlängerung dieses Stoffwechsels dar: es reicht nur bis zur Befriedigung der Bedürfnisse und nicht weiter. Zwar kommen die Autoren auch auf die Selbstreflexion zu sprechen, da sich ja CFM zufolge im menschlichen Bewußtsein die Evolution des Geistigen zu einem Kreis schließen soll, indem es sich zu einem „gleichzeitig sämtliche Evolutionsstufen der Information erkennende(n) und ggf. wissenschaftliche(n) Subjekt“ entwickeln soll. (Vgl. CFM 2017, S.137) Aber damit verfehlen CFM die Grenze des Körperleibs, wie sie Helmuth Plessner beschrieben hat. Denn das Bewußtsein bildet nicht einfach nur eine Fortsetzung des kosmischen Evolutionsprozesses. Dazu mehr in den folgenden Posts.

PS (03.011.17): Ein Blogleser merkt folgende Punkte an:
  • Die Neuverteilung der Gene passiert vor der Befruchtung und sind keine Mutationen.
  • Photonen werden nicht von Neuron zu Neuron weiter gereicht.
  • Und die Quantenphysik nimmt an Stärke ab, wenn man von der Strahlung zum Atom und weiter zum Molekül wandert.

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Montag, 2. Oktober 2017

François Rastier, Schiffbruch eines Propheten. Heidegger heute, Berlin 2017

(Neofelis Verlag, Softcover, 218 Seiten, 25-- €)

1. Zusammenfassung
2. Kritik

Die Atmosphäre unter Frankreichs Intellektuellen scheint ziemlich vergiftet zu sein, wenn man sich François Rastiers Schreibstil anschaut. Auf der akademischen Ebene haben die Heideggerianer das Sagen, und kein Philosophiestudent kommt um „Sein und Zeit“ (1927) als Pflichtlektüre herum. Jede Kritik an Heidegger wird von den Ton angebenden Heideggerianern gerne als Diffamierung verleumdet, nur um mit gleicher Münze zurückzuzahlen:
„Als der Sammelband ‚Heidegger, le sol, la communauté, la race‘ erschien,() wollte der Chefredakteur einer philosophischen Zeitschrift eine Rezension veröffentlichen. Die angeschriebenen Heideggerianer weigerten sich, das Buch zu lesen. Schließlich erklärte sich ein Derrida-Spezialist, Jean-Clet Martin, bereit, eine Rezension zu schreiben. Er erhielt öffentliche Unterstützung durch einen offenen Brief von Alain Badiou, der ihn ‚sehr gut‘, aber ‚zu maßvoll‘ findet und über die Autoren des Buchs (zu denen ich gehöre) herzieht. Ich empfehle wärmstens, ihn zu lesen.() Übergehen wir die persönlichen Angriffe, auf die ‚Moralhermeneutiker‘, die ‚Inquisitoren‘, die ‚inquisitorischen guten Apostel‘, die ‚untolerierbar sind und nicht geduldet werden dürfen‘; diese Sprache, deren philosophische Tiefe der Leser bewundern wird, erinnert an Denis Tillinac und sein ‚Torquemanda de la rive gauche‘(), aber es handelt sich ja um ein Pamphlet, das sich keinen Zwang antun muss.“ (Rastier 2017, S.100f.)
In diesem Stil, voller Ironien und Sarkasmen, setzt sich Rastier über 200 Seiten hinweg mit seinen Gegnern, den Heideggerianern, auseinander, was es für einen Außenstehenden sehr mühsam macht, ihm zu folgen. Das Lesen wird auch nicht dadurch erleichtert, daß die Hälfte des Textes aus Fußnoten besteht, womit Rastier wohl Heideggers Ablehnung jeder Philologie (vgl. Rastier 2017, S.57) zu konterkarieren versucht. Wer wirklich in allen Einzelheiten wissen will, wie sich die Intellektuellen in Frankreich wechselseitig beharken, hat vielleicht seine Freude daran. Und es hat auch wohl seine Notwendigkeit. Aber warum muß der Verlag alle Zitate und Fußnoten nicht nur in kleinerer Schrift, sondern auch noch in einem blassen Grau drucken, das das Entziffern zusätzlich erschwert, so daß der Rezensent eine Lupe zuhilfe nehmen mußte?

Rastier attackiert die Heideggerianer nicht nur mit Ironien und Sarkasmen; er verwendet einen speziellen akademischen Jargon, der die Sätze mit Fachbegriffen spickt, die von einem weniger gebildeten Leser nur mit Hilfe eines Fremdwörterlexikons entziffert werden können:
„Aus dem ontologischen Diskurs entnimmt er (Heidegger – DZ) vor allem Assimilationsprozeduren, eine Wortwahl, die er durch mannigfaltige Ableitungen bereichert und die jeden einzelnen Satz durchsiebt; aus dem identitären Mythos stammt die rhapsodische Erzählstruktur und die repetitive Dialektik, aus dem radikalen politischen Diskurs die binäre Syntax und der oratische Numerus.“ (Rastier 2017, S.97)
Alles in allem kann ich diesem Satzungetüm zwar folgen, aber geht es nicht auch etwas weniger akademisch?

Wer von solchen Sätzen überschwemmt wird, hat kaum noch Aufmerksamkeit für sachliche Unrichtigkeiten. Ein Freund, dem ich Rastiers Buch zeigte, stolperte über eine Stelle, die ich tatsächlich überlesen hatte:
„Das Verbrechen vollendet die Initiation: Zum Beispiel musste man, um SS-Mitglied werden zu können, eigenhändig einen Menschen töten; diese Praxis lebt fort in gewissen neonazistischen Sekten.“ (Rastier 2017, S.34)
Die SS hatte 1932 13.217 zahlende Mitglieder. 1933 sprang diese Zahl auf 167.272 Mitglieder. Will Rastier tatsächlich ernsthaft behaupten, daß jedes dieser SS-Mitglieder einen Menschen umgebracht hat? – Wenn er so sorglos historische Daten dramatisiert, macht er es den Apologeten Heideggers allzu leicht.

Das alles ist ärgerlich, denn die Sachlage, daß wir es bei Heidegger mit einem ausgewachsenen Nationalsozialisten und Antisemiten zu tun haben, ist viel zu ernst, als daß die berechtigte Kritik durch solche Fahrlässigkeiten geschmälert werden dürfte. Hinzukommen ärgerliche Verallgemeinerungen von folgender Art:
„Der aktive Antirationalismus, die Ablehnung der Ethik und die Fetischisierung der Ästhetik, die Ablehnung der Technik und des wissenschaftlichen Denkens, das alles zog die universitären Radikalismen von rechts und links ungemein an, die sich schon seit Jahrzehnten im Heideggerschen Programm des ‚Abbaus‘ befinden, eines Begriffs, der auch in seiner schönfärberischen Form ‚Dekonstruktion‘ bekannt ist.“ (Rastier 2017, S.21)
Rastier wirft hier alles in einen Topf. Technik- und Wissenschaftkritik wird mit einem demokratiefeindlichen Anti-Rationalismus und Anti-Humanismus gleichgesetzt, so daß jeder, der die naturwissenschaftlich-technische Rationalität in Frage stellt, letztlich nur Heideggers „antihumanistische(s) Projekt“ betreibt. (Vgl. Rastier 2017, S.19) Wenn Rastier aber meint, die Ethik und die „philosophische Anthropologie“, die „Sozialwissenschaften mit ihrer Vielfalt der Kulturen und Sprachen“ gegen solche Umtriebe in Schutz nehmen zu müssen (vgl. Rastier 2017, 19) und dabei für einen „Universalismus“ plädiert, in dem „die Menschwerdung sich in der Humanisierung fortsetzt“ (vgl. Rastier 2017, S.200), so sabotiert er dieses unterstützenswerte Ansinnen gleich wieder dadurch, daß er Universalität mit Mathematik gleichsetzt:
„Die Rationalität kann nicht ethnozentrisch sein, weil ihre Prinzipien zu einer nicht aufgezwungenen, sondern von allen gebilligten Universalität hin tendieren, so z.B. die Prinzipien der Mathematik.“ (Rastier 2017, S.153)
Diese Aufwertung der Mathematik als ein alle Menschen verbindendes Gattungsprinzip – ungeachtet dessen, daß eben nicht alle Menschen mathematisch denken können und deshalb mathematische Prinzipien, die sie nicht denken können, auch nicht ‚billigen‘ können – ist der typisch Rastierschen Gedankenfigur geschuldet, daß das Gegenteil des Bösen immer etwas Gutes sein müsse: war Heidegger gegen Technik? – Dann muß man für Technik sein! War Heidegger gegen Philologie? Dann muß man für Philologie sein! Hatte Heidegger etwas gegen Latinismen? Also muß man den eigenen Text mit lateinischen Phrasen spicken! Und weil Heidegger den rechnenden Geist mit dem Judentum identifizierte (vgl. Rastier 2017, S.150), muß man logischerweise auch für Mathematik sein! Ein drittes gibt es nicht.

Rastier übersieht dabei, daß es gerade die naturwissenschaftliche Empirie ist, die mit ihrem ‚rechnenden Geist‘ die „Zukunft der Human- und Kulturwissenschaften“, die nicht nur ihm so am Herzen liegt, bedroht. Man denke an den technikbegeisterten Friedrich Kittler, der mit Hilfe der Kybernetik den Geisteswissenschaften den Geist austreiben wollte. (Zu den Geisteswissenschaften vgl. meinen Blogpost vom 13.02.2016) Man kann keine Human- und Kulturwissenschaften im ‚Geiste‘ der Mathematik und der Naturwissenschaften betreiben! Auch nicht Philologie. Wer das versucht, hat sich schon von ihnen verabschiedet.

Dessen ungeachtet weiß Rastier allerdings einige sehr vernünftige Dinge zur Philosophie und zum Humanismus zu sagen, die sich jeder gläubige Heideggerianer sehr zu Herzen nehmen sollte. Zur Philosophie hält Rastier fest, daß sie niemals Esoterik ist und daß sie offen ist für jeden, der einen Einwand anzumelden hat, gleichgültig welche Sprache er spricht und über welche Bildung er verfügt:
„Jeder Vorschlag kann von einem Unbekannten in Frage gestellt werden, und der Philosoph muss sich dem im Beisein aller stellen.“ (Rastier 2017, S.113)
Die Philosophie braucht keine Propheten, sie ist prinzipiell ungläubig und sie ist allen zugänglich:
„Zweifel sind notwendig, denn der Raum des Dialogs, aus dem Philosophie besteht, ist dadurch offen, dass die Fragen allen zugänglich gemacht werden, dass Vorurteile und Glaubenssätze abgelehnt werden. In seiner gelehrten Unwissenheit bleibt der Philosoph der einzige, der nicht im Besitz der Wahrheit ist, was es ihm ermöglicht, die Suche nach ihr zu problematisieren.“ (Rastier 2017, S.41)
Die einzige Wahrheit, über die der Humanismus noch verfügt, ist die des Überlebens:
„Die vielleicht allerletzte Form des Humanismus wird wahrscheinlich ein Humanismus des Überlebens, das des Überlebenden, das der Menschlichkeit im Menschen, aber auch das der ganzen Menschheit sein: Levi, den der Negationismus und das Wettrüsten beunruhigen, warnte immer wieder in seinen Reden, Gesprächen und Gedichten.“ (Rastier 2017, S.199)
Bleibt mir nur noch hinzuzufügen, daß dieses Überleben eng mit der technischen Frage verknüpft ist; eine Frage, die für Kritik offen sein sollte.

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Sonntag, 1. Oktober 2017

François Rastier, Schiffbruch eines Propheten. Heidegger heute, Berlin 2017

(Neofelis Verlag, Softcover, 218 Seiten, 25-- €)

1. Zusammenfassung
2. Kritik

Während meines Studiums habe ich mich durch „Sein und Zeit“ (1927) gequält und versucht, die Heideggerschen Begriffe mit Sinn zu füllen. Ich scheiterte. Etwas später, nach meinem Studium, verbrachte ich die Tage ‚zwischen den Jahren‘ auf Baltrum. Ich hatte Heideggers „Der Ursprung des Kunstwerks“ (1989) dabei und wollte einen zweiten Versuch starten. In naiver Erwartung, daß die naturnahe, winterliche Inselatmosphäre zum Verständnis des Heideggerschen Jargons beitragen würde, saß ich mit denkschwerer Attitüde im Lesesaal der Insel und ließ meine Augen über die bedeutungsschwangeren Sätze gleiten. Dieses Inselarrangement vermittelte mir eine gewisse Befriedigung, aber mein Verstand blieb davon unberührt. Danach nahm ich nie wieder ein Buch von Heidegger in die Hand.

Dennoch muß ich gestehen, daß ich mich auch in diesem Blog das eine oder andere Mal, vor allem hinsichtlich seiner Technikkritik, auf Heidegger bezogen habe. Nach der Lektüre von François Rastiers „Schiffbruch eines Propheten“ (2017) ist das nun endgültig vorbei. Denn wie soll man mit einem Autor arbeiten, wenn seine Texte, wie Rastier schreibt, „ohne bestimmbaren wissenschaftlichen Wert“ sind (vgl. Rastier 2017, S.58), weil sie allesamt eine „Fälschung des Autors“ sind, der sie je nach politischer Großwetterlage nach Belieben umschrieb, ohne die vorgenommenen Veränderungen zu kennzeichnen (vgl. Rastier 2017, S.62)? Der „unauthentische Text“, schreibt Rastier – welche Ironie: der Prophet der Eigentlichkeit, gesteht seinen eigenen Texten diese Würde nicht zu –, „kann lediglich Kommentare erzeugen, die ebenso bedeutungslos sind“. (Vgl. Rastier 2017, S.63)

Heideggers Verachtung der Philologie war keine bloße Laune, sondern sie hatte Methode; sowohl was die Editionsgeschichte seines Werks betrifft wie auch seine Schreibtechnik. Seine Schreibtechnik mißachtete systematisch jede philologische Gründlichkeit und argumentative Schlüssigkeit:
„Heidegger umgeht sie (die Philologie – DZ) also und befreit sich von jeglichem philologischem Anspruch: ohne weiteres stützt er sich auf zweifelhafte Editionen, und Jean-Pierre Faye wies seine nachlässigen Übersetzungen und Auslegungen nach: zweifelhafte Etymologien vervollständigen das Bild.“ (Rastier 2017, S.57)
In seinen Texten bilden schon seit „Sein und Zeit“, das die Apologeten Heideggers immer von seinen nationalsozialistischen Verstrickungen ausgenommen sehen wollten, die zentralen Begriffe seiner Ontologie lediglich „Decknamen“, ohne tieferen, systematisch gerechtfertigen Sinn:
„1943 vertraut er dem Briefpartner an, dass das ‚Sein des Seienden‘ für ihn oft ein Deckname sei, und er schreibt auch, das Vaterland sei das Seyn selbst.()“ (Rastier 2017, S.36f.)
So wie das ‚Seyn‘ für das Vaterland steht, steht das vaterlandslose (seinsvergessene) Man nicht etwa für eine anthropologische Kategorie, sondern für das internationale Judentum:
„Lesen wir noch einmal in §27 die Beschreibung eines unauthentischen Lebens, das durch Identitätsverlust und Seinsvergessenheit gekennzeichnet ist. Hier ist nicht mehr die Rede von jüdischen Kollegen, aber immerhin von einem unerträglichen Man. Anders gesagt, vaterlandsloser Kosmopolitismus ...“ (Rastier 2017, S.76)
Mit der durchgehenden Verwendung solcher Decknamen entwickelt Heidegger eine Esoterik, die den Uneingeweihten in die Irre führen soll und sogar den Eingeweihten in Unsicherheit verharren läßt: die besten Voraussetzungen für eine perfide Manipulation von Leserschaft und akademischer Öffentlichkeit. Heidegger wußte sehr wohl um die suggestive Macht dieser Schreibtechnik, wie aus den „Schwarzen Heften“ (2014) hervorgeht, von denen bislang vier erschienen sind:
„Das Mißverstandenste wäre der Versuch des Denkens, sich verständlich zu machen. (...) Die hartnäckigste Gefahr für das Denken ist die Bemühung, verständlich zu sein.“ (Zitiert nach: Rastier 2017, S.67)
Heideggers Texte sollten nicht verstanden und auch nicht interpretiert werden. Sie sollten vor allem verehrt werden:
„Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Sekte weiß hier der Eingeweihte nicht, dass er einer ist, und die Manipulation und Kontrolle können umso besser ausgeübt werden: ‚Dabei merken sie nicht, wie scharf ich sie in der Kontrolle habe‘, schrieb Heidegger 1921 an Jaspers über die Mitglieder seines Kreises.()“ (Rastier 2017, S.33)
Von diesem Manipulationswillen zeugt auch Heideggers Editionsplan, der die Veröffentlichung seiner Werke bis ins Jahr 2046 selbst geplant hat und dabei davon ausgegangen ist, daß die Gesellschaft ab dem Jahr 2000 einer Wiederanknüpfung an den Nationalsozialismus freundlicher gegenüberstehen und für offensichtlichen Antisemitismus offener sein würde. 2001 erschien „Vom Wesen der Wahrheit“, das, wie Rastier schreibt, ein „Programm der ‚völligen Vernichtung‘ des inneren Feindes“ und eine „rassische Definition der Wahrheit“ liefert, und 2014 erschienen die erstem vier von neun offen antisemitischen und nationalsozialistisch geprägten „Schwarzen Heften“, die die Edition der Gesamtausgabe abschließen sollen:
„Die Bestätigungen, die sich in den Schwarzen Heften finden, betreffen nicht nur die antisemitischen Themen, sondern auch das Verhältnis der Heideggerschen Philosophie zum Nationalsozialismus, der wegen seiner Barbarei verherrlicht wird:‚Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe.‘()“ (Rastier 2017, S.129)
Die bisherige Apologie der Heideggerianer, die zwischen dem Nationalsozialisten und dem Philosophen Heidegger zu trennen versuchen, ist angesichts seiner Schreibtechnik und seines Editionsplans endgültig hinfällig:
„Nun machen es aber die Schwarzen Hefte unmöglich, den Denker vom Nationalsozialismus zu trennen. Durch die esoterische Strategie, die des Meisters Veröffentlichungsplan bestimmt, ist ihre Bestimmung die Enthüllung und die Erfüllung der Prophetie, die der Autor in den 93 vorangehenden Bänden aufgebaut hatte.“ (Rastier 2017, S.132)
Der von Rastier gewählte Buchtitel „Schiffbruch eines Propheten“ erweist sich angesichts dessen, daß sich Heidegger selbst nicht als gescheitert wahrnahm und auch zeitlebens sich nie für seine nationalsozialistischen ‚Verstrickungen‘ entschuldigt hat, als unzutreffend, wie Rastier in einer Anmerkung einräumt. (Vgl. Rastier 2017, S.17 (Anm.13)) – Heidegger ist kein Gescheiterter! Man liest und zitiert ihn mehr denn je.

Wenn ich in meinem Freundeskreis die „Schwarzen Hefte“ anspreche, muß ich zu meiner Verwunderung immer wieder erläutern, worum es sich bei diesen Heften genau handelt. Sogar bei Intellektuellen und Akademikern fehlt bislang eine entsprechende Kenntnis der aktuellen Sachlage zu Heideggers Schriften. Aber immerhin ist in Deutschland das Problembewußtsein, aufgrund der „Entnazifizierung“, wie Rastier schreibt (vgl. Rastier 2017, 114), größer als in Frankreich oder in den ehemaligen „Achsenmächten“ Japan und Italien:
„Sein Glanz lebt in den Ländern der früheren Achsenmächte fort, von Italien, mit dem ‚schwachen Denken‘ der politischen Theorie von Vattimo oder Agamben, bis nach Japan, bei so verschiedenen Autoren wie Bin Kimura in der Psychopathologie, Tetsuro Watsuji in der Ethik und Keiji Nishitani in der religiösen Ontologie.“ (Rastier 2017, S.179)
Immer wieder überrascht Rastier den Rezensenten mit Namen von Heideggerianern, die in meinen Ohren einen guten Klang haben, wie den im letzten Zitat erwähnten Keiji Nishitani, oder auch von Nicht-Heideggerianern wie Axel Honneth, der Heidegger trotz aller Kritik zubilligt, auf „den Zusammenhang des instrumentellen Denkens mit der Technik“ hingewiesen zu haben. (Vgl. Rastier 2017, S.149) Rastier verweist immer wieder auf Heideggers Wissenschaftsfeindlichkeit, wobei er auch, vorschnell wie ich finde, jede Wissenschaftskritik als irrational und anti-humanistisch klassifiziert. Auf diese Problematik werde ich im nächsten Blogpost detaillierter eingehen.

Insgesamt richtet sich Rastier vor allem an seine Landsleute, die französischen Intellektuellen, die er mit seiner explizit nicht textimmanenten, sondern in erster Linie und im besten Sinne ideologiekritischen Auseinandersetzung mit der Heideggerschen ‚Ontologie‘, die dem Prophetentum den Vorrang gegenüber der Philosophie einräumt, zu einer kritischeren Rezeption Heideggers auffordert. Vor jeder Lektüre von Heideggers ‚Werk‘, so Rastier, sollte die Frage stehen:
„Wie ist das bis jetzt veröffentlichte Werk zu charakterisieren? Es ist dies auch eine hermeneutische Frage: soll man es interpretieren, obwohl sein Autor sich dagegen sperrt, und nach welchen Prinzipien?“ (Rastier 2017, S.14)
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Montag, 4. September 2017

Peter Spork, Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt: die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, München 2017

4. Nachtrag

Um herauszufinden, ob sich Traumata auf unser Epigenom auswirken, haben Forscher folgendes Experiment mit Ratten durchgeführt:
„Die Nager wurden zweimal im Abstand von zehn Tagen in durchsichtige Plexiglasröhren gesteckt, durch die sie noch gut Geräusche und Gerüche wahrnahmen, in denen sie sich aber nicht mehr bewegen konnten. Dann setzten die Forscher die Ratten, die durch das Plexiglas zumindest körperlich geschützt waren, für eine Stunde zu einer Katze in den Käfig. Damit die Raubtiere sich auch ganz bestimmt für ihre potenzielle Beute interessierten, war die Röhre auch noch mit Katzenfutter bestrichen.“ (Spork 2017, S.59f.)
Wenn wir sehen, wie Kinder Tiere quälen, z.B. Frösche aufblasen und platzen lassen, würden wohl die meisten von uns einschreiten. Aber abgesehen davon: Kinder sind nun mal grausam. Nicht immer, aber gelegentlich schon. Manchmal aus Unachtsamkeit, manchmal mit voller Absicht. – Aber was sollen wir davon denken, wenn sich Wissenschaftler so verhalten?

Wenn Wissenschaftler sich solche Experimente ausdenken und sie tatsächlich durchführen: Was macht das dann mit derem Epigenom? Welche Gene werden bei ihnen abgeschaltet? Nimmt vielleicht ihre Empathie Schaden? Haben sie überhaupt Empathie? Gibt es ein spezielles Wissenschaflterepigenom? – Diese Frage wäre es wert, einmal genauer untersucht zu werden.

Natürlich hatten die Forscher gute Gründe dafür, die betreffenden Ratten zu traumatisieren. Aber gibt es nicht andere Möglichkeiten, etwas über Traumata herauszufinden? Ich weiß nicht, was ich mit Ergebnissen anfangen soll, die aus solchen Torturen gewonnen werden.

Konrad Lorenz hat mal beschrieben, wie er als Biologiestudent eine lebende Ratte sezieren mußte. Danach hatte er Alpträume. Gut so! Eine menschliche Reaktion.

Sonntag, 3. September 2017

Peter Spork, Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt: die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Integral und Anachronismus
3. Freiheit und Intuition

Ein starkes Motiv, diesen Blog zu betreiben, bestand für mich von Anfang an darin, dem Naturalismus der Naturwissenschaften etwas entgegenzusetzen. Nichts scheinen nämlich die Naturwissenschaftler, zumindest der Mainstream, lieber zu tun, als dem Menschen seine Freiheit abzusprechen und ausschließlich die ‚Fakten‘ zu beachten, die für einen rigiden Determinismus sprechen. Umso erfreuter war ich gewesen, als ich vor acht Jahren mit Peter Sporks Buch „Der zweite Code“ (2009) auf ein biologisches Phänomen, auf das Epigenom, aufmerksam gemacht wurde, das für die Freiheit des Menschen und damit für seine Würde spricht. Spork bringt es in seinem aktuellen Buch auf den Punkt:
„Die Gene entscheiden nicht über uns. Sie sind nicht unser Schicksal. Wir sind nicht ihre Marionetten.“ (Peter Spork 2017, S.81)
Die Gene können Spork zufolge schon deshalb nicht über den Phänotyp – und dazu ist nicht nur die Anatomie und Morphologie, sondern auch die individuelle Persönlichkeit des Menschen zu zählen – entscheiden, weil das „Potenzial in den Genen aller Menschen ... nahezu gleich (ist)“. (Vgl. Spork 2017, S.81) Schätzungen gehen davon aus, daß 99 % bis zu 99,9 % der Gene bei allen Menschen identisch sind. Zwillingsstudien erübrigen sich an dieser Stelle. Man kann nicht im Ernst glauben, daß 100 % hier noch einen Unterschied machen. Mit Schimpansen teilen wir mehr als 98 % aller Gene. (Vgl. Spork 2017, S.74f.) Hier kann eigentlich nur noch das Epigenom den entscheidenden Unterschied im Phänotyp von Schimpansen und Menschen machen. Berücksichtigt man auch das Y-Chromosom, dann sind Männer mit Schimpansen enger verwandt als mit ihren Ehefrauen.

Ich denke, man kann mit guten Gründen behaupten, daß das Epigenom das biologische Substrat der menschlichen Persönlichkeit bildet. Es ist so plastisch, daß sich Muskeln auf molekularbiologischer Ebene innerhalb von zwanzig Minuten anpassen, wenn wir mal mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zur Arbeit fahren. (Vgl. Spork 2017, S.344) Das Epigenom sorgt für ein „teils hochdynamische(s), teils lang anhaltende(s) Zusammenwirken() von Erbe und Umwelt“:
„Unser Handeln wirkt. Immer!“ (Spork 2017, S.49)
Und unser Handeln beginnt, wie Spork schreibt, mit der Geburt. (Vgl. Spork 2017, S.222) Letztlich, so Spork, geht es in seinem Buch um Freiheit:
„Wir können selbst bestimmen, was wir im Dienst unserer Gesundheit tun oder lassen. Es sind die frei aus unserer eigenen Verantwortung heraus getroffenen Entscheidungen, die zählen.“ (Spork 2017, S.341)
Deshalb will Spork auch keine Rezepte für eine verantwortungsvolle und gesunde Lebensführung empfehlen. Gesundheit ist Spork zufolge ein Persönlichkeitsmerkmal, und gerade deshalb bedeutet sie für jeden Menschen etwas anderes:
„Bemerken möchte ich allerdings, dass mir Dogmatismus an dieser Stelle völlig unangebracht erscheint. Menschen sind Organismen, nicht mehr – aber auch nicht weniger. Und als solche sind sie von Natur aus darauf angelegt, sich im Rahmen einer großen Bandbreite von Umweltreizen gut zurechtzufinden und gesund zu entwickeln.“ (Spork 2017, S.258)
Sowohl im Bereich der Gesundheit wie auch im Bereich der Intelligenz hilft uns Statistik nicht weiter – und die ist das hauptsächlichste Erkenntnisinstrument in diesen Bereichen –, weil Durchschnittswerte bei unseren Entscheidungen, wie wir persönlich und konkret unser Leben führen wollen, für uns bedeutungslos sind. Ausgerechnet da, wo es ganz konkret um uns selbst geht, kann es sein, daß für die eigene Person der Mittelwert keine Gültigkeit hat. So hat sich inzwischen der Einfluß des BMI auf unsere Lebenserwartung geändert. Es ist nicht mehr das Idealmaß, das die höchste Lebenserwartung verheißt:
„Das Körpergewicht in Bezug zur Körpergröße bei dem Menschen rein statistisch die höchste Lebenserwartung haben, steigt an. Nach einigen Studien liegt es inzwischen sogar im Übergewichtsbereich.“ (Spork 2017, S.120)
Wer übergewichtig ist, kann gesund sein, wer ein Idealgewicht hat, kann krank sein. Worauf es bei unserer Lebensführung ankommt, so Spork, ist unsere persönliche Intuition, was gut für uns ist:
„Dieses Buch soll erklären, motivieren, faszinieren, helfen, uns besser zu verstehen. Aber es sucht keine Schuldigen und liefert keine stupiden Gebrauchsanweisungen. (Ich bin ohnehin der Meinung, dass jeder Mensch im Grunde ein intuitives Gespür dafür hat, was für ihn und seine Gesundheit gut ist und was nicht.)“ (Spork 2017, S.24)
Spork hält allerdings fest, daß uns seit der Steinzeit das Gespür für das, was gut für uns ist, abhanden gekommen ist:
„Weil unsere genetischen Programme aber noch immer aus der Steinzeit stammen (die Evolution ist nun mal langsam), fehlt es uns am geeigneten Sensorium für die Gefahren des modernen Lebensstils.“ (Spork 2017, S.343)
An dieser Stelle begibt sich Peter Spork auf dünnes Eis. Aus unserer verminderten Intuition schlußfolgert er, daß wir technischer Sensorien bedürfen, die uns Tag für Tag den aktuellen Stand unserer Fitneß mitteilen und bei Bedarf zu geeigneten Gegenmaßnahmen auffordern:
„Tragen Sie nicht längst eines dieser hippen Fitness-Armbänder, um am Abend darauf nachzuprüfen, ob Sie Ihre 10.000 Schritte pro Tag gemacht haben, und gehen Sie im Zweifel noch ein Ründchen um den Block? Lassen nicht auch Sie sich von Ihrem kleinen privaten Gesundheits-Kalkulater am Morgen berechnen, ob Sie nachts zuvor ausreichend Tief-, Leicht- und REM-Schlaf bekommen haben? Freuen Sie sich nicht auch, wenn Ihr handliches elektronisches Rundum-Überwachungssystem Ihnen bestätigt, dass Blutdruck und Herzfrequenz schon seit 48 Stunden im Optimalbereich sind?“ (Spork 2017, S.104)
Spork begrüßt diesen Trend ausdrücklich:
„Ich finde ihn überwiegend positiv, denn letztlich erweitern die Fitness-Armbänder unsere Sinne. ... Die Evolution ist viel zu langsam. Sie hat uns noch nicht mit den passenden Sinnesorganen ausgestattet ... Da ist es doch nur hilfreich, wenn wir uns dank kultureller und technischer Evolution mittlerweise per Fitness- und Activity-Tracker mit dem nötigen Feedback selbst versorgen.“ (Spork 2017, S.104f.)
Spork berücksichtigt an dieser Stelle nicht, daß wir die Askese und die Disziplin, die eine intuitive Achtsamkeit auf unsere Bedürfnisse ermöglichen, an eine Technologie auslagern (exteriorisieren), die zugleich unsere Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, bedroht, wie Spork nur wenige Absätze weiter selbst zugibt:
„‚Unsere Gesundheitsdaten von heute sind einer der größten Wirtschaftsfaktoren von morgen‘, warnt der Molekular- und Systembiologe Ernst Hafen von der ETH Zürich. Er rät, extrem zurückhaltend mit der Herausgabe seiner Daten zu sein.“ (Spork 2017, S.105) 
Askese und Disziplin sind ein derart grundlegendes Moment jeder Willensbildung und damit letztlich auch der Handlungsfreiheit, daß ihre Auslagerung auf Geräte unsere Menschlichkeit untergräbt. Wer sich darin nicht übt und auf diese Weise sich mit sich selbst konfrontiert, kann kaum Anspruch auf Freiheit und Würde erheben. Ich bin der Ansicht, daß wir jederzeit vor der Entscheidung stehen, inwieweit wir den Einfluß technologischer Innovationen auf unsere Lebensführung begrenzen und vielleicht sogar umkehren müssen, wenn wir uns unsere Menschlichkeit bewahren wollen.

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Samstag, 2. September 2017

Peter Spork, Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt: die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Integral und Anachronismus
3. Freiheit und Intuition

Peter Spork verwendet den schönen Begriff des Integrals, um damit das Zusammenwirken des aktuellen individuellen „Handelns“, der „Erfahrungen der Vorfahren“, der „Zeit im Mutterleib“ und der „ersten wichtigen Monate() und Jahre() nach der Geburt“ und des „ganzen langen Rest(s) des eigenen Lebens“ zu beschreiben. (Vgl. Spork 2017, S.23) Ich denke, daß Spork damit auch auf den Umstand hinweist, daß es insbesondere das individuelle Handeln, also das Individuum ist, das als Subjekt, das sein Leben führt, dieses Zusammenwirken vollbringt.

Spork führt in dieser Aufzählung drei wichtige Entwicklungsebenen auf: (1) das Individuum und sein Handeln, (2) die Vorfahren, zu denen nach den bisherigen Ergebnissen der Epigenetik etwa drei Generationen bis zu den Urgroßeltern (vgl. Spork 2017, S.330) und außerdem die perinatale Prägung zu zählen wären, die Spork zufolge sich nicht nur auf die Monate nach der Geburt erstreckt, sondern auch die ersten drei Monate vor der sogenannten Zeugung umfaßt und das Verhalten der zukünftigen Eltern und deren Einfluß auf die Keimzellbildung betrifft (vgl. Spork 2017, S.142); und schließlich (3) haben wir es mit der das ganze Leben umfassenden Entwicklung eines Individuums zu tun, das sich bis zum Schluß epigenetisch auf sein biologisches Erbe auswirkt.

Die eigentliche genetische Ebene, also die DNA, bildet die im engeren Sinne biologische Evolution; sie verläuft auf der Basis zufälliger Mutationen. Peter Spork faßt sie nochmal mit den anderen Ebenen in einem Dreiklang aus „Genetik, Epigenetik und Umwelt“ zusammen. (Vgl. Spork 2017, S.172) Die Epigenetik besteht in den beiden Formen der mehrere Generationen (Großeltern bis Urenkel) umfassenden transgenerationellen Epigenetik und der individuellen, die perinatale Prägung und die spätere individuelle Entwicklung eines Menschen umfassenden Epigenetik. Die perinatale Prägung bildet einen Übergangsbereich zwischen transgenerationeller und individueller Epigenetik. Wir haben es also mit zwei verschiedenen, über die perinatale Prägung miteinander verbundenen Formen der Epigenetik und je nach Zählung mit drei oder mit vier verschiedenen Entwicklungsebenen zu tun.

Peter Spork zufolge bezieht sich die klassische Genetik im engeren Sinne nur auf jene ‚Gene‘, die Proteine codieren. Auf molekularbiologischer Ebene ist die Produktion von Proteinen immer noch komplex genug. Aber mit dem späteren Phänotyp, also der individuellen menschlichen Persönlichkeit, hat diese klassische Genetik wenig bis gar nichts zu tun. Wenn es um wirklich komplexe Persönlichkeitsmerkmale wie Gesundheit und Intelligenz geht, ist die Epigenetik zuständig. Man kann Peter Spork sicherlich so verstehen, daß das Epigenom das biologische Substrat der menschlichen Persönlichkeit bildet. Es ist bis ins Alter – wenn auch zunehmend weniger – plastisch, also durch Umwelteinflüsse und individuelles Verhalten formbar:
„Im Gegensatz zu Veränderungen der DNA, sogenannte Mutationen, sind Veränderungen der epigenetischen Strukturen grundsätzlich reversibel. Diese Umkehrbarkeit ist einer der Wesenszüge der Epigenetik.“ (Spork 2017, S.351)
Die Epigenetik bildet Spork zufolge eine „Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen“. (Vgl. Spork 2017, S.73ff. und S.99) Sie nimmt also bei Spork genau die Rolle ein, die in meinem Modell der drei Entwicklungsebenen das Individuum einnimmt, wobei ich beim Individuum weniger von einer ‚Brücke‘ als vielmehr von einem ‚Schlachtfeld‘ spreche, um damit den Anachronismus zwischen Biologie und Kultur hervorzuheben. Letztlich läuft es auf eine gleiche Aufgabenbestimmung für das Individuum hinaus: es muß sein Leben führen! Peter Spork bringt das folgendermaßen auf den Punkt:
„Die Gene entscheiden nicht über uns. Sie sind nicht unser Schicksal. Wir sind nicht ihre Marionetten.“ (Spork 2017, S.81)
Vielleicht kann man ja soweit gehen und die Behauptung aufstellen, daß angesichts der Zivilisationskrankheiten der von mir angedachte Anachronismus zwischen den Entwicklungsebenen ein Ergebnis der letzten 10.000 Jahre ist, während der Steinzeitmensch noch in Eintracht mit seiner Biologie lebte. Hier stehen zwei konträre Fakten gegeneinander: die Zivilisationskrankheiten wie Fettsucht, Allergien, Asthma und Krebs, unter denen insbesondere der zeitgenössische Mensch leidet. (Vgl. Spork 2017, S.20f., 180f. u.ö.) Auf der Habenseite des zeitgenössischen Menschen steht hingegen eine verdoppelte und verdreifachte Lebenserwartung. Das mag man interpretieren wie man will: eine hohe Lebenserwartung war jedenfalls aus biologischer Perspektive nicht vorgesehen. Und gerade die Hygienemaßnahmen, die zur hohen Lebenserwartung beitragen, führen selbst wiederum zu neuen, früher unbekannten Allergien und weiteren gegen den eigenen Körper gerichteten Immunreaktionen. Man könnte also mit gutem Grund behaupten, daß die sogenannten ‚Volkskrankheiten‘ das medizinische Äquivalent zum Anachronismus der Entwicklungsebenen bilden.

Umso wichtiger ist die individuelle Lebensführung, und zu den wichtigsten Faktoren, die unsere Epigenetik positiv beeinflussen, zählt Peter Spork Bewegung (Laufen und Fahrradfahren), Pflege sozialer Beziehungen (zu denen gewiß nicht Facebook gehört) und eine ausgewogene Ernährung. (Vgl. Spork 2017, S.36f., 86, 181ff., 344f.u.ö.) Peter Sporks Ausführungen bieten für mich den Anlaß und die Grundlage für eine überarbeitete Graphik zu den Entwicklungsebenen.

Mit dieser überarbeiteten Graphik möchte ich die spezifische Position der individuellen Entwicklung (Ontogenese) zwischen ‚Erbe‘ und ‚Umwelt‘ bzw. zwischen Biologie und Kultur veranschaulichen. Das menschliche Individuum ist durch Handlungsfreiheit gekennzeichnet:
„Durch die Geburt werden die Kinder schlagartig zu Handelnden.“ (Spork 2017, S.222)
Handlungsfreiheit bedeutet, daß die Menschen auf der Basis von Intuitionen und des eigenen Verstandesurteils in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen und ihr Leben zu führen. Dabei sind die Freiheitsgrade des Säuglings natürlich gering, und sie steigern sich mit Alter und Bildung. Natürlich ist die Freiheit des Menschen biologisch begrenzt. Aber nicht nur biologisch, sondern auch kulturell. Diese beiden Ebenen, Biologie und Kultur, stellen ihre eigenen Ansprüche an das Individuum, und es muß lernen sich ihnen gegenüber zu behaupten, weshalb ich bei der Verhältnisbestimmung der Entwicklungsebenen dazu neige, von einem Anachronismus zu sprechen.

Mit der kulturellen Evolution meine ich generell alle Umwelteinflüsse, denn wir leben in einer menschengemachten Welt, in der die Natur selbst nur bei (oft genug menschengemachten) Naturkatastrophen in Erscheinung tritt. Der Mensch definiert sich über seine Herkunft, also über seine Geschichte. Diese Selbstbestimmung ist weniger rational als mythologisch begründet. Hinzu kommen die ebenfalls kulturellen, aber eben auch epigenetisch bestimmten Einflüsse der Familie und der Lebenswelt. Diese kulturell-biologische Einflußnahme beginnt mit der perinatalen Prägung des Embryos im Mutterleib.

Die biologische Evolution des Menschen, seine Phylogenese, beginnt spätestens mit der Entwicklung der Primaten. Die DNA bildet das biologische Material, mit dem epigenetische Prozesse arbeiten. Beide Ebenen beeinflussen sich also wechselseitig (Doppelpfeil). Die biologische Evolution verläuft auf der Basis zufälliger Mutationen und ist ziellos. Eine Voraussage ist nicht möglich. Werden wir unsere Menschlichkeit behaupten oder mündet unsere Evolution in einer transhumanen ‚Lebensform‘, wenn dann überhaupt noch von Lebensformen die Rede sein kann? Steht am Ende die Apokalypse?

Eins scheint mir zunehmend gewisser: wenn wir unsere Menschlichkeit behaupten wollen, brauchen wir eine Begrenzung und Neuorientierung der technologischen Innovationen.

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