„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 21. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Wir leben in einer komplexen Welt, in der wir „nicht sicher berechnen (können), was auch nur eine einzelne Handlung auslösen wird“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.28) Dazu ist das Erkenntnisvermögen des Menschen zu begrenzt. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.33) Hinzu kommt, daß wir Technologien entwickelt haben, die einen neuen Graben zwischen den Generationen aufgerissen haben, der durch keine gemeinsamen generationenübergreifenden Erfahrungen mehr gefüllt werden kann:
„Wer ... mit der Wirklichkeit der Vernetzung und des ständigen Online-Kontakts aufgewachsen ist, findet den einfachsten Weg nicht mehr ohne all das. Unser mal wohlmeinender mal ungeduldiger, aber immer dummer Rat, das Zeugs doch einfach nicht so wichtig zu nehmen und abzustellen, wenn es nervt, klingt da zumindest so existenziell bedrohlich wie die digitale Hetzmeute. Das Aufwachsen in einer durch die Digitalisierung erweiterten Realität hat längst mehr verändert, als dass sich noch vom üblichen Generationenkonflikt reden ließe.“ (Stangneth 2/2016, S.197)
Das gilt natürlich nur für den Teil der nachwachsenden Generation, der überhaupt Zugang zu der vernetzten Welt hat. Man darf nicht vergessen, daß ein Großteil der Menschen immer noch offline ist. Dennoch bringt Stangneths Analyse das Problem korrekt auf den Punkt:
„Der Hinweis auf die größere Bedeutung von Wissen und damit auch dem Wissen, wie man es erwirbt, bedeutet nur, dass man nicht mehr vieles tun kann, wenn man nicht auch bereit ist, vieles zu lernen. Alles andere würde schließlich bedeuten, dass in einer komplexen Welt überhaupt niemand mehr in der Lage sei, verantwortungsbewusst zu handeln, ohne sich in die Einöde zurückzuziehen, in die das Weltgetriebe nicht reicht ...“ (Stangneth 2/2016, S.102)
Nichts tun ist jedenfalls keine Option. Genau deshalb legt Bettina Stangneth auch so viel Wert auf die Einfachheit und Schlichtheit des Moralgesetzes, das den gordischen Knoten nicht etwa mühsam aufdröselt, sondern wie ein scharfes Schwert durchschneidet:
Wenn deine Art und Weise zu handeln eine Welt schafft, in der du nicht selber an der Stelle eines jeden anderen leben wollen würdest, dann handle anders.“ (Stangneth 2/2016, S.9)
Das, so Stangneth, kann wirklich jeder begreifen, unabhängig von Herkunft, Glaube und Bildungsstand. Hinzu kommt diese innere, hartnäckig störende Stimme der Vernunft, die sich immer dann meldet, wenn unsere Vorstellungen untereinander und in Bezug auf unser Handeln aus der Balance geraten und widersprüchlich geworden sind. Hier haben wir es mit einer Form der Achtsamkeit zu tun, die man auch üben kann und üben muß, um für diese leise Stimme der Vernunft sensibel zu bleiben. Ungeachtet der radikalen Freiheit, sich jederzeit gegen das Gute entscheiden zu können – so wie man sich auch jederzeit gegen das Böse entscheiden kann – plädiert Stangneth für die Einübung einer „Haltung“, „weil erfahrungsgemäß alles dadurch einfacher wird, dass der Mensch es übt“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.163)

Die Schlichtheit des Moralgesetzes stellt Stangneth zufolge keine Überforderung des Menschen dar, indem sie ihm eine unmenschliche Konsequenz der Pflichterfüllung aufzwingt, die in einer komplexen Welt notwendigerweise scheitern muß. Ihr entspricht vielmehr die Schlichtheit eines Handelns, das eine neuartige Balance beinhaltet zwischen dem Wenigen, das wir wissen, und dem Wenigen, das wir, als Individuen, tun können:
„Aufklärung ist die Forderung an jeden Einzelnen, bei genau dem anzufangen, was er selber anfangen kann, also tatsächlich vernünftig zu handeln, statt vom Paradies zu träumen; in jeder einzelnen Handlung, immer wieder, Tag für Tag, weil es nur darauf ankommt.“ (Stangneth 2/2016, S.245f.)
Das leuchtet mir ein, und deshalb soll es auch das Schlußwort sein.

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Sonntag, 20. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Was die Frage nach dem Handlungssubjekt betrifft, ist Bettina Stangneths Position ganz entschieden und eindeutig:
„Handeln, das kann immer nur der Einzelne, und wir handeln noch dann, wenn wir uns einreden, dazu nicht in der Lage zu sein.“ (Stangneth 2/2016, S.230)
Es gibt keine Entschuldigung für Mitläufer und Mittäter, daß nämlich die Umstände oder das ‚System‘ an dem, was sie angerichtet haben, schuld seien:
„Systeme morden nicht. Sie bringen sich auch nicht vorsätzlich wieder und wieder in Kraft.“ (Stangneth 2/2016, S.230)
Heute morgen, wo ich diese Worte schreibe, am 9. November 2016, deutet alles darauf hin, daß Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden ist. Jeder einzelne der Wähler, die ihn gewählt haben, ist verantwortlich für das Kreuz, das er neben diesen Namen gesetzt hat, unabhängig von seinem Frust und seiner Empörung über das ‚System‘, gegen das sich möglicherweise seine Wahlentscheidung gerichtet haben mag.

Diese Randbemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.

Bettina Stangneth macht also die Verantwortung für seine Taten am Individuum fest. Aber dann gibt es doch wieder gewisse Ambivalenzen, die diese Zuordnung fragwürdig erscheinen lassen, und diese Ambivalenzen haben etwas mit dem Formalismus der Kantischen Moralphilosophie zu tun. Denn der Adressat der Kantischen Moralphilosophie sind nicht etwa die verschiedenen individuellen Handlungssubjekte, sondern die Menschheit:
„... die Menschheit und nur sie, ist der Adressat aller Wissenschaft und Moral.“ (Stangneth 2/2016, S.125)
Mit Verweis auf Hannah Arendt hält Bettina Stangneth fest, daß die „Idee der Menschheit“ die „einzige Garantie“ sei, „daß nicht eine ‚höhere Rasse‘ nach der anderen sich verpflichtet glauben wird, dem Naturgesetz vom ‚Recht des Stärkeren‘ zu folgen und die ‚niederen lebensunfähigen Rassen‘ auszurotten“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.125f.) – An diesem Argument ist durchaus etwas dran, denn wir brauchen einen anthropologischen, also allgemeinen Begriff vom Menschen, der niemanden aus dieser Begriffsbestimmung ausschließt.

Was aber den Formalismus der Kantischen Moralphilosophie betrifft, ist nicht ganz klar, ob sich Adressat und Subjekt des moralischen Handelns so sauber voneinander trennen lassen, daß es immer das konkrete Individuum ist und bleibt, das sich verantworten muß, und nicht etwa nur irgendein beliebiger Vertreter unserer Spezies. Nicht umsonst verweist Stangneth, wiederum mit Hannah Arendt, auf den Umstand, daß die „nationalsozialistischen Täter“ sich als konkrete Individuen zu verantworten haben, weil sie „die Möglichkeit verwirkt“ haben, „sich in einer Rechtfertigung auf die gemeinsame Menschennatur in moralischer Hinsicht zu berufen“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.70)

Das nächste Buch, das ich in diesem Blog besprechen werde, „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ (2016) von Matthew B. Crawford, befaßt sich mit genau dieser Problematik. Crawford wirft Immanuel Kant vor, am Anfang einer Entwicklung zu stehen, die den materialen Aspekt des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses mißachtet. Diese Mißachtung hat, ausgehend von der Bestimmung formaler Moralprinzipien, zu einer liberalistischen Wirtschaftsform und zu Technologien geführt, die den Menschen von der Wirklichkeit abgetrennt und in eine irreale Sphäre der von der Wirklichkeit unbehinderten Wunschbefriedigung eingesperrt haben.

Es gibt Stellen in Stangneths Buch, die die materiale „Fremdbestimmung“ des Menschen durch die Wirklichkeit ähnlich positiv bewerten wie Crawford. Da spricht Stangneth vom ‚schlichten Zwang‘ der Evidenz; von der Welt als etwas, „mit dem wir keine Kompromisse finden können“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.189) Wie bei Crawford sind es Stangneth zufolge „die Tatsachen, die uns nicht freilassen, zu tun und zu lassen, was wir wollen“. (Vgl. ebenda)

Zugleich aber heißt es im Kantischen Sinne, daß „ein materiales Moment ... in einem formalen Prozess, eine Entscheidung zu finden“, nichts zu suchen hat. (Vgl. Stangneth 2/2016). Das Argument ist klar:
„Das formale Sittengesetz hat auch darum einen Vorzug vor dem Wertekatalog einer Kultur, weil es die Vielseitigkeit des Menschen nicht beurteilt und unsere damit gegebenen Möglichkeiten nicht reduziert, solange das Handlungsprinzip Vernunft ist.“ (Stangneth 2/2016, S.175)
Crawford hätte zu Stangneths Behauptung, daß ein „materiales Moment“ „in einem formalen Prozess, eine Entscheidung zu finden“, nichts zu suchen hat, einiges zu sagen; allerdings bezieht Stangneth das materiale Moment an dieser Stelle nicht auf die materielle Welt und ihre Gegenstände, sondern auf den „Wertekatalog“, also auf den Menschen als kulturell eingebundenes Handlungssubjekt. Es geht bei dieser Entscheidung nicht wie bei Crawford um die Wahl von Mitteln und ihre instrumentelle Handhabung, sondern um ihre moralische Tauglichkeit. Crawford wiederum glaubt, daß man zwischen der instrumentellen und der moralischen Tauglichkeit der Mittel nicht wirklich trennen kann, da es gerade der kompetente, besonnen auf kontingente Umstände reagierende Umgang mit der Wirklichkeit ist, der dem Menschen die Grenzen seines Handelns und seine Verantwortung bewußt macht.

Der Formalismus Kants hat also eine problematische Seite; noch mehr aber eine technologische Entwicklung, die die menschlichen Unzulänglichkeiten ausgleicht und vergessen macht, insofern sie Umwelten erzeugt, in denen das Scheitern des Menschen nur noch als technologisches Versagen vorkommt. Bettina Stangneth deutet diese anthropologische Dimension der menschlichen Existenz an, wenn sie mit Kant den Menschen als ein Wesen „in der Zeit“ bezeichnet, das „nie ganz vollständig das zu sein“ vermag, „was man zu werden im Begriffe ist“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.164) Stangneth spricht auch ausdrücklich von einem „moralische(n) Interesse“ daran, „mehr über das herauszufinden, was uns selbst Angst macht: das Scheitern“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.210)

Wenn es tatsächlich ein echtes moralisches Interesse an der Frage des menschlichen Scheiterns gibt, dann kann die Moralphilosophie nicht rein formal sein. Mit dem Scheitern geht unvermeidbar ein materiales Moment einher, nämlich die „Fremdbestimmung“ als ein Aspekt des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Diese Fremdbestimmung ist aber nunmal kein Problem der Menschheit, die Kant zufolge der Adressat des Sittengesetzes sein soll; sie ist vor allem ein Problem der konkret-individuellen Existenz jedes einzelnen Menschen.

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Samstag, 19. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Bettina Stangneth überfordert die menschliche Kognition und damit das Denken mit Aufgaben, für die die mit unseren körperlichen Funktionen, insbesondere unserer Physiologie verbundene Empathie zuständig ist. Auf diese physiologischen Voraussetzungen kommt Stangneth nur ein einziges Mal zu sprechen. Sie verweist auf die Spiegelneuronen als einer Voraussetzung dafür, die Empfindungen anderer Menschen nachempfinden zu können. Allerdings schränkt sie die Bedeutung dieser Spiegelneuronen gleich wieder ein, indem sie auf die Ungesichertheit des diesbezüglichen neurophysiologischen Wissens verweist und festhält, daß auch die Spiegelneuronen nichts daran ändern, „dass menschliche Gefühle in einem Ausmaß individuell, also durch die eigene Geschichte so nachhaltig überschrieben sind, dass jeder Versuch, sich das Fühlen eines anderen vorzustellen, zu einem wesentlichen Teil Projektion bleibt“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.220)

Nun bin ich selbst nicht gerade ein Freund der neurophysiologischen Attitüde, als alles erklärende anthropologische Instanz aufzutreten. Aber es ist immerhin bezeichnend, daß Stangneth keine anderen Empathie ermöglichenden körperleiblichen Merkmale einfallen als die Spiegelneuronen. Kein Hinweis auf muskuläre Bedingtheiten der menschlichen Körperhaltung und auf die Mimesis, die sie ermöglichen. Kein Wort zum Körperleib als gleichermaßen weltzugewandtem wie weltoffenem Prinzip, das uns zum Mitvollzug der Gefühle unserer Mitmenschen befähigt, und zwar auf einer Ebene, die unserem Denken nur begrenzt zugänglich ist. Stattdessen hält Stangneth apodiktisch fest:
„Wir können schlicht die Gefühle anderer nicht wahrnehmen, sondern immer nur sichtbare Anzeichen oder Beschreibungen von Gefühlen auf dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrung und unseres Wissens über die Situation und die konkrete Person deuten.“ (Stangneth 2/2016, S.220)
Dieser Satz ist gleich in zweifacher Hinsicht von einer bestürzenden Gedankenlosigkeit. Zum einen nimmt Stangneth die unbestreitbare Tatsache, daß wir die Erlebnisse der Mitmenschen stets von unserem eigenen Hintergrund her erleben und bewerten, als Beleg dafür, daß wir deren tatsächlichen Gefühle nicht kennen können. Das ist ungefähr so unsinnig wie die Behauptung, daß wir die wirkliche Wirklichkeit nicht kennen, weil wir sie nur mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen können. Als wenn nicht genau das die Definition der Wirklichkeit wäre, daß wir sie nämlich mit unseren eigenen Sinnen wahrnehmen!

Zum zweiten reduziert Stangneth das Miterleben der Empfindungen unserer Mitmenschen auf einen wissensbasierten Deutungsvorgang. Sie faßt also Empathie als Kognition. Dafür steht, daß es nach Stangneths Auffassung einer bewußten Projektion von sich auf den Anderen bedarf, um sich so dessen Empfinden zu vergegenwärtigen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.220) Stangneth beschreibt diesen Projektionsvorgang als eine Art vergleichender Beobachtung und Einschätzung der sensiblen Stellen des Menschen uns gegenüber, was, wie ich finde, besonders krass in ihrer Version von besonders gutem und gleichzeitig grenzwertigem Sex zum Ausdruck kommt:
„... wir wissen sehr genau, dass derjenige, der uns gut beobachtet und sich möglichst genau vorzustellen versucht, was er anrichtet, damit nicht nur derjenige ist, der Lust steigern kann, sondern auch derjenige sein könnte, der uns Schmerz zu bereiten in der Lage wäre, wie es sonst niemand vermag.“ (Stangneth 2016, S.221)
Bei dieser Darstellung von Sex gruselt es einem nicht von ungefähr. Denn der kühle Beobachter, der die Kenntnis unserer Schwachstellen für die Anstachelung zu höchsten Lustempfindungen zu nutzen vermag, ist zugleich der berechnend vorgehende Folterknecht, der sich, wie Stangneth meint, ‚empathisch‘ in seine Opfer hineinversetzt, um sie so noch besser quälen zu können:
„Folter ist, abgesehen davon, dass sie durch nichts zu rechtfertigen ist, niemals bloß eine erlernte Technik. Sie ist immer auch geradezu hingebungsvolle Beobachtung und praktische Vorstellungskraft.“ (Stangneth 2016, S.222)
An keiner Stelle ihrer Beschreibung der verschiedenen Schattenseiten empathischer Fähigkeiten kommt Stangneth auf die Idee, daß Empathie keineswegs schon selbst und allererst eine Kognition ist, sondern lediglich die körperleibliche Voraussetzung für ihren kognitiven Mißbrauch bildet. Letztlich fällt ihr zur Empathie nicht mehr ein, als sie zur „notwendige(n) Bedingung des Sadismus“ zu deklarieren. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.214) Aber es ist plausibler, daß der Folterer selbst nicht wirklich mitempfindet, wenn seine Opfer unter den trickreichen Ergebnissen seiner kognitionslastigen Beobachtungs- und Erfindungsgabe leiden. Er müßte ja die Schmerzen gleichsam am eigenen Leib spüren. Man müßte diesbezüglich mal experimentell überprüfen, wie er sich verhält, wenn er selbst gefoltert würde. Nein, wo seine Opfer leiden, empfindet er nicht wirklich Empathie, sondern Befriedigung über den Erfolg seiner diesbezüglichen Kognitionen.

Wo Michael Tomasello an der geteilten Intentionalität und am Vertrauen in die Hilfsbereitschaft unserer Mitmenschen den Ursprung der menschlichen Kognition festmacht und wo Frans de Waal von der Empathie als einem gemeinsamen vorrationalen Erbe unserer animalischen Herkunft spricht, befindet sich bei Stangneth nur ein blinder Fleck in Form der Gefühle der Anderen. Wenn dennoch Vertrauen möglich wird, dann nicht etwa als natürliche Gabe, sondern als „gewaltige Leistung“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.233); nämlich als Leistung einer kognitiven Anstrengung, die keineswegs selbstverständlich ist.

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Freitag, 18. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Einer der mit Kants Aufklärungsformel: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)) verbundenen Mißverständnisse besteht in der Verabsolutierung des dieser Formel zugrundeliegenden Autonomieanspruchs. Zu diesem Mißverständnis trägt auch Kants Hinweis bei, daß der Verstandesgebrauch „ohne Leitung eines anderen“ zu geschehen habe. Mit der Zurückweisung jeder fremden Autorität über den eigenen Verstand ist aber nur der Herrschaftsanspruch religiöser und politischer Instanzen gemeint, dem wir uns nicht unterwerfen dürfen. Die jahrtausendlange Gewöhnung, das Denken anderen zu überlassen, bezeichnet Kant auch als „selbstverschuldete Unmündigkeit“. Der „Muth“, dessen es Kant zufolge bedarf, selber zu denken, richtete sich also schon damals nicht nur gegen äußere gesellschaftliche Instanzen, sondern auch gegen die eigene innere Bequemlichkeit und Ängstlichkeit, die Dinge lieber so zu belassen wie sie angeblich sind.

Mittlerweile besteht eher die Gefahr, es sich auf andere Weise bequem zu machen. Wir haben uns so an den Anspruch gewöhnt, daß wir ein Recht auf unsere eigene Meinung haben und uns niemand vorzuschreiben hat, was wir denken dürfen und was nicht, daß es inzwischen für viele eine regelrechte Selbstüberwindung bedeutet, überhaupt noch den Verstand ihrer Mitmenschen ernstzunehmen und sich auf ihn einzulassen. Jeder Versuch, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen, wird brüsk als Angriff auf die eigene Meinungsfreiheit zurückgewiesen. Man hat es sich so schön in seinem Meinungsbett behaglich gemacht, daß man es als eine Art Hausfriedensbruch wahrnimmt, wenn einen andere Menschen mit ihrer abweichenden Meinung behelligen.

Bettina Stangneth verweist auf eine neue Bewegung an den Universitäten in den USA, wo die Studenten ihre Gesprächs- und Lernverweigerung – denn jede Gesprächsverweigerung ist gleichbedeutend mit einer Lernverweigerung – als ein „the right to be comfortable“, ein Recht auf Behaglichkeit, deklarieren. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.191f.) Stangneth spricht von einer grassierenden „Debattenangst“ unter den Studenten. (Vgl. Stangneth 2016, S.193) Wenn also heute vom Mut die Rede ist, dann hat sich die Situation um 180 Grad gewendet. Der Mut besteht nicht mehr darin, dem Autoritätsanspruch gesellschaftlicher Instanzen die Stirn zu bieten, sondern sich wieder auf das Gespräch mit anderen Menschen einzulassen und dabei die eigene Meinung aufs Spiel zu setzen.

„Fremdbestimmung“ ist deshalb Stangneth zufolge auch nicht einfach das Gegenteil von Selbstbestimmung, sondern ein notwendiger Bestandteil davon:
„Die Welt und der Versuch, sie gemeinsam zu verstehen, bedeutet auch zu akzeptieren, dass Fremdbestimmung insbesondere für den mündigen Bürger sogar notwendig ist: (Sie) ist nämlich die Welt. Es sind die Tatsachen, die uns nicht freilassen, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Wissenschaftliche Erkenntnisse gehören keinem Einzelnen, sie sind nicht in seiner Verfügbarkeit, denn Evidenz ist schlicht Zwang, so wie uns auch Vernunft bindet und nicht freilässt.“ (Stangneth 2/2016, S.189) 
Unser Denken ist immer schon an der Welt begrenzt, und das nicht einfach nur in einem negativen Sinn, sondern im Sinne eines positiven Voraussetzungsverhältnisses. Ohne ‚Welt‘, also ohne Fremdbestimmung, kein Denken, weshalb Stangneth zufolge die undifferenzierte Ablehnung jeder Fremdbestimmung letztlich zur „Selbstentmachtung des Denkens“ führt. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.239)

Das läßt sich besonders gut an den Folgen der Gesprächsverweigerung zeigen. Selbst- und Fremdbestimmung sind im Gespräch rekursiv aufeinander bezogen: so wie ich mich in meinem Denken durch das Denken meines Gesprächspartners bestimmen lasse, läßt sich auch mein Gesprächspartner in seinem Denken von meinem Denken bestimmen. Michael Tomasello bezeichnet das als Rekursivität, die das Grundprinzip der menschlichen Kognition bildet, die wiederum in der geteilten Intentionalität besteht. (Vgl. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a.M. 2002) Wer sich dieser geteilten Intentionalität verweigert, fällt auf die Stufe der Schimpansenkognition zurück.

Die Basis der geteilten Intentionalität besteht wiederum im gegenseitigen Vertrauen, daß der Andere uns nicht übervorteilen und hintergehen wird. Auch Bettina Stangneth kommt auf dieses Vertrauen zu sprechen, wenn sie die von der modernen Mobilitätsinfrastruktur geprägte Befindlichkeit von Reisenden beschreibt:
„Die wenigsten, die dieses selbstbewusste und neugierige Wandern durch die Welt und die vielen Begegnungen mit Menschen kennen, machen sich bewusst, was für eine gewaltige Leistung nötig ist, um ein Reisender zu sein. Sie müssen vertrauen, nämlich darauf, dass Menschen aus Neugierde Wissen von der Welt erwerben und bereit sind, es aufrichtig zu teilen; und auf Ihre Fähigkeit, eigenständig zu denken und zu urteilen; und auf dieses ganz besondere Medium, in dem wir beides verbinden und erweitern können: das Gespräch.“ (Stangneth 2/2016, S.233)
Was Bettina Stangneth hier als „gewaltige Leistung“ beschreibt, ist aber gar nicht so ‚gewaltig‘, wie sie meint, sondern Tomasello zufolge Teil der Naturgeschichte der menschlichen Kognition. Es bedarf zu diesem Vertrauen keiner eigenen kognitiven Anstrengung. Hier zeigt sich ein Problem der Stangnethschen Konzentration auf das Denken. Sie überbewertet die Möglichkeiten der Kognition und vergißt dabei, daß auch diese Kognition noch in unsere Körperleiblichkeit eingebettet ist. Selbst- und Fremdbestimmung unseres Denkens verweisen nicht einfach nur auf weltbezogene Grenzen, die die Evidenz des Faktischen uns zieht. Sie verweisen auch auf unsere eigene körperlich geprägte Leiblichkeit. Dazu mehr im nächsten Post.

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Donnerstag, 17. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Bettina Stangneth liefert im dritten Abschnitt ihres Buches zum akademischen Bösen eine Phänomenologie des bösen Denkens. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.123-240) Zwar gesteht sie Kant und Arendt zu, daß auch sie trotz ihres aufklärerischen Optimismusses, daß das Denken immer „ausschließlich moralisierend“ wirke (vgl. Stangneth 2/2016, S.117), nicht frei von dem Verdacht gewesen seien, „dass mit dem gesellschaftspolitischen Projekt fortschreitender Mündigkeit und der offenen Gesellschaft auch Risiken verbunden sein“ könnten (vgl. Stangneth 2016, S.121). Kant befürchtete, daß mit dem eigentlichen Denken ‚Denkungsarten‘ verbunden sein könnten, die den positiven Effekten des Denkens entgegenwirken. (Vgl. ebenda) Und Hannah Arendt betonte, daß es vor allem auf die „Tiefe“ des Denkens ankomme, weil mit dem Denken auch immer eine Abwendung von der Welt und eine gewisse Selbstbezogenheit einhergehe. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.93f. und S.118)

Jedenfalls befaßten sich Kant und Arendt weniger mit den negativen als mit den positiven Folgen des Denkens. Stangneth zufolge gibt es aber ein böses Denken, womit sie neben dem eigentlichen bösartigen, bewußt die Mittel des Denkens mißbrauchenden Denken vor allem bestimmte Deformationen des Denkens meint, und sie liefert in dem genannten dritten Abschnitt eine entsprechende Phänomenologie dieser Denkungsarten. Dabei bezeichnet Stangneth als ‚Denkungsart‘ die menschliche Neigung, die verschiedenen Denkvermögen, den Verstand, die Vernunft und die Urteilskraft, nur als eine Art „mentalen Werkzeugkasten“ zu verstehen, mit dem man verschiedene, auch amoralische Zwecke verfolgen kann. (Vgl. Stangneth 2016, S.144) Natürlich ist so eine instrumentelle Einstellung zum Denken zunächstmal nicht grundsätzlich schlecht. Schlecht bzw. ‚böse‘ wird diese instrumentelle Einstellung aber in dem Moment, wo sie sich „wider die Vernunft“ selbst richtet. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.141)

Bettina Stangneth bezeichnet den Mißbrauch eines sich gegen das Denken richtenden Denkens als „akademisches Böses“. Dieses akademisch Böse kennzeichnete auch schon den Nationalsozialismus und Denker wie Martin Heidegger, der dazu aufgerufen hatte, sich „von der Vergötzung des boden- und machtlosen Denkens“ loszusagen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.133) Man kennt dieses akademisch Böse auch als allgemeine Intellektuellenfeindlichkeit, die oft mit einer generellen Abneigung gegenüber demokratischen Formen der Öffentlichkeit und einer kritischen Presse verbunden ist. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.136ff.) Stangneth zufolge reicht dieser Antiintellektualismus weit in die Geschichte zurück, bis in die Reformation:
So „kam auch der deutsche Theologe Martin Luther auf die Möglichkeit, seinen Gegnern vom kleinen Dorfpfarrer bis zum Papst mit einem Streich die Waffe aus der Hand zu schlagen. Er erklärte Vernunft zur ‚Hure des Teufels‘ und empfahl, dass jeder, der nach dem richtigen, dem gottgefälligen Leben suche, ‚seiner Vernunft die Augen ausstechen‘ muss, weil sie ihn sonst unvermeidlich von Gott wegführen wird“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.140)
Insgesamt zählt die Autorin drei verschiedene Denkungsarten auf: die „Ästhetisierung des Denkens“, die vor allem in einer unernsten Spielerei mit Worten und Begriffen besteht (vgl. Stangneth 2/2016, S.156 und S.224); die „Ablenkung des moralischen Anspruchs auf einen nicht-moralischen Zweck“ und die Vernachlässigung „des Verstandes zugunsten des Selberdenkens“. Alle diese Denkungsarten bezeichnet Stangneth als „eine Art des verschobenen, aber immer noch unter dem moralischen Interesse stehenden Denkens“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.205)

Die letzteren zwei Formen des bösen Denkens haben etwas mit einer gewissen Mißverständlichkeit oder vielleicht auch mit einer Schwäche der Kantischen Moralphilosophie zu tun. Der Formalismus dieser Philosophie soll es Menschen ermöglichen, ihr Leben nach den unterschiedlichsten Wertkonzepten auszurichten und trotzdem friedlich zusammenzuleben, ohne daß es zu einem Bürgerkrieg kommt. Bildung und Kultur sollen keinen Einfluß auf die Moralität des Menschen haben. Zugleich aber erhoffen sich Kant und Arendt, daß das Denken zu einer gewissen Übung und Sensibilisierung des Menschen für Widersprüchlichkeiten in seiner Lebenspraxis beiträgt; daß es also dazu beiträgt, „das moralische Interesse zu kultivieren“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.116)

Diese wertmateriale Leerstelle der Kantischen Moralphilosophie und die damit verbundene paradoxe Hoffnung auf eine gewisse Gewöhnbarkeit des Menschen an eine denkerische Grundhaltung (vgl. Stangneth 2/2016, S.116) führte im 19. Jhdt. dazu, daß Moralität und Charakterbildung als eine Einheit mißverstanden wurden:
„Der wesentliche Schritt dieser Denkbewegung ist die erkenntnistheoretisch nicht statthafte Erweiterung des formalen Selbstbewusstseins als faktischer Einheit meines Erkenntnisvermögens zum materiellen und damit auch individuellen Selbstbewusstsein als gesuchter Einheit eines konkreten Lebens.“ (Stangneth 2/2016, S.164)
Aufgrund dieses Mißverständnisses trat schließlich die Identität an die Stelle der Moral: der moralische Anspruch wurde also auf einen „nicht-moralischen Zweck“ abgelenkt. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.205) In Verbindung mit einem anderen Aspekt der Kantischen Moralphilosophie – der herausragenden Funktion, die der Pflichtbegriff in ihr hat, der wiederum mit ‚Konsequenz‘ verwechselt wurde: pflichtgemäßes Handeln gleich konsequentes Handeln –, uferte das Streben nach Identität zu einem „Totalitarismus im Selbstverhältnis“ aus. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.166)

Der Rigorismus der Kantischen Moralphilosophie wurde also auf die Charakterbildung des Menschen übertragen und gipfelte in dem neuen höchsten Gut einer konsequenten, sprich: rücksichtslosen Selbstverwirklichung, nämlich gleichermaßen rücksichtslos gegenüber sich selbst wie gegenüber Anderen zu sein. Die Gleichsetzung von Selbstverwirklichung und Selberdenken bildet die dritte der von Stangneth aufgezählten Denkungsarten. Keinem anderen Verstand zu folgen als dem eigenen bedeutete nun zugleich die Gleichsetzung des Verstandes der Anderen mit „Fremdbestimmung“. Den Verstand der Anderen aber nur noch als eine Art von Fremdbestimmung wahrzunehmen, gegen die man sich zugunsten der eigenen Autonomie zur Wehr zu setzen hat, geht wiederum auf Kosten des eigenen Verstandes und führt letztlich zur „Selbstentmachtung des Denkens“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.239)

Das alles hat selbstverständlich nichts mehr mit Kant zu tun. Aber für Demagogen ergibt sich hier ein reichhaltiges Betätigungsfeld, indem sie gerade diejenigen, die als vermeintliche Kinder der Aufklärung so sehr an ihrem eigenen Verstandesgebrauch festhalten wollen, besonders leicht manipulieren können:
„Schon vor hundert Jahren konnte man den Bürger nur faktisch entmachten, wenn der bei seiner eigenen Entmündigung mithalf.“ (Stangneth 2/2016, S.182)
Wer seinen eigenen Verstand zum einzigen, durch niemand Anderes begrenzbaren und korrigierbaren Maßstab macht, verliert die Möglichkeit, im Gespräch mit diesem Anderen herauszufinden, welche seiner Urteile nur Meinungen sind und welche sich auf intersubjektiv beglaubigte Fakten zurückführen lassen. So verliert er sogar das Unterscheidungsvermögen zwischen Subjektivität und Objektivität. Informationen, die von anderen kommen, werden als Bevormundung wahrgenommen (vgl. Stangneth 2/2016, S.182), alle potentiellen Informationsquellen erscheinen als fragwürdig und sogar als manipulativ:
„Es gibt keine freie Presse, keine erhellende Forschung und keine Autoritäten, sondern nur Lügenpresse, heillose Zergliederung und Fachidiotentum.“ (Stangneth 2/2016, S.183)
Wenn Menschen nicht mehr zwischen Meinungen, Urteilen und Fakten unterscheiden können, weil sie keine Gespräche mehr führen können und weil sie verlernt haben, zuzuhören, wird der eigene Verstand zu einem bloßen Organ der persönlichen Meinungsbildung herabgestuft, und der eigene Anspruch auf subjektive Meinung wird gegen das Recht der Anderen gerichtet, ebenfalls eine eigene Meinung haben zu dürfen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.183) Niemand ist manipulierbarer als Menschen, die sich so in ihre vermeintliche Autonomie einigeln. Demagogen haben mit ihnen ein leichtes Spiel.

Stangneth gelingt es, die verschiedenen historischen und aktuellen Deformationen des Denkens, wie es die Aufklärer ursprünglich verstanden hatten, auf nachvollziehbare und anregende Weise zu beschreiben und auch die damit verbundenen Fallstricke, in die diejenigen geraten, die ihrem Denken allzusehr vertrauen, offenzulegen. Dabei faßt sie das Denken als ein umfassendes Selbst- und Weltverhältnis, für das der Bezug auf den anderen Menschen und auf die Welt wesentlich ist. Zur Selbstbestimmung gehört die Fremdbestimmung, also das Weltverhältnis, unverzichtbar dazu. Dazu im nächsten Post mehr.

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Mittwoch, 16. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Bevor ich in den folgenden Posts auf Bettina Stangneths Phänomenologie des bösen Denkens zu sprechen komme, möchte ich an dieser Stelle auf die meiner Ansicht nach problematische Differenzierung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ eingehen. Offensichtlich ist diese Differenzierung unvermeidlich, wenn man wie die Autorin in der Kantischen Tradition der Moralphilosophie steht. Die Kantische Moralphilosophie ist geprägt von Begriffen wie der ‚heilige‘ bzw. der ‚gute‘ Wille, von Entgegensetzungen wie das ‚gute‘ Prinzip im Unterschied zum ‚bösen‘ Prinzip und von Feststellungen, wie daß der Mensch ‚radikal‘ bzw. ‚von Natur aus‘ böse sei. Das verleitet dazu, nicht nur von einer Realität des ‚Bösen‘ auszugehen, sondern diesem auch ein reales und vielleicht sogar wesensmäßiges Gutes gegenüberzustellen.

Auch Bettina Stangneth geht in naiver, unkritischer Weise von der „Unterscheidung von gut und böse“ aus. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.118) Zwar führt sie diese Unterscheidung vor allem auf die Erfahrung des Holocaust zurück, als einem Bösen, das niemals wiedergutzumachen ist (vgl. Stangneth 2/2016, S.14), und sie fragt sich, was „alles Sprechen von gut und böse“ nütze, „wenn es ausgerechnet für eine solche Tat nicht reicht“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.69). Aber ihr kritischer Blick auf das Böse bleibt zugleich naiv für die Frage, ob denn dieselbe Notwendigkeit, das Böse beim Namen zu nennen, so auch für das Gute gilt.

Wir neigen dazu, alle Versuche, dem Bösen in Gestalt des Holocaust etwas entgegenzusetzen, unter das Gute zu subsumieren. Auch Bettina Stangneth ist nicht frei von solchen Pauschalisierungen, wenn sie sich über Schimpfwörter wie „Gutmensch“ und „Versteher“ beschwert und sich fragt, was denn „auf einmal am Verstehen und am Guten falsch“ und inwiefern „Tumbheit lobenswert sein soll“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.216f.) Dabei wendet sie sich selbst in ganz ähnlicher Weise gegen eine bestimmte Denkungsart, die sie an anderer Stelle als „akademisches Böses“ (Stangneth 2/2016, S.157) identifiziert, wenn sie sich über die Klugschwätzer beklagt, die darauf bestehen, „dass die Dinge nun einmal so lange differenzierter zu betrachten sind, bis jeder auf seine Weise recht hat, und genau das auch noch als Erkenntnisfortschritt“ verkaufen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.11)

Letztlich haben wir es bei dieser Denkakrobatik nur mit einer besonderen Form zu tun, die Probleme aus der Welt wegzudifferenzieren, für die in anderer Weise auch Neologismen wie „Gutmensch“ oder „Putin-Versteher“ (wahlweise auch „Trump-Versteher“, „Erdogan-Versteher“ etc.) stehen, auch wenn sie zugegebenermaßen inzwischen schon wieder zu einer Art Ramschware verkommen sind, auf die diejenigen zurückgreifen, die jeder ernsthaften Diskussion aus dem Weg gehen wollen. Ursprünglich waren damit Bewußtseinshaltungen gemeint, die im Namen vermeintlicher political correctness oder angeblicher geopolitischer Notwendigkeiten unserem Wahrnehmungsfeld weitere blinde Flecken hinzufügen und unserem Denken weitere Schranken.

Eine Apologie des Gutmenschentums kann jedenfalls genauso wenig dazu beitragen, weiterhin über das Gute reden zu dürfen, wie den Holocaust als böse identifiziert zu haben. Tatsächlich ist die Nennung des Guten und das Bekenntnis zum Guten historisch kompromittiert. Praktisch jedes Verbrechen, das an den Menschen und der Menschheit begangen wurde, geschah im Namen des Guten. Dabei wurde dieses Gute substanzialisiert, galt also als etwas den Zufälligkeiten des praktischen Lebens und der historischen Ereignisse Enthobenes und von ihnen Unbeeinflußtes.

Tatsächlich aber bleibt das Handeln des Menschen und sein Schicksal in jedem Moment seines Lebens ungewiß, und seine Hoffnung, sich irgendwann aufs Ganze gesehen gerechtfertigt zu sehen, ist nichtig und eitel. Es gibt keine Dauer im Guten, nur jeweils richtig oder falsch, und auch das nur auf begrenzte Sicht. Nicht einmal das formale Sittengesetz, wie es Kant im kategorischen Imperativ auf den Punkt bringt, ist für sich genommen gut. Es bedarf der Anwendung im Handeln des Menschen, und dieses Handeln bindet den Menschen, wie wir aus dem vorangegangenen Post wissen, nicht dauerhaft. Er kann sich jederzeit gegen das Sittengesetz entscheiden.

Die Schwundstufe des Guten finden wir im Totalitarismus, in dem es so falsch dahergeht, daß es darin mit Adornos Worten kein Richtiges geben kann. Stangneth selbst weist mit Bezug auf Hannah Arendt auf diesen Umstand hin, wenn sie es „unter der Bedingung einer totalitären Herrschaft“ für nötig hält, „konsequent alles sein zu lassen, von dem man zu wenig weiß“: also besser gleich überhaupt „nichts zu tun“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.101)

Die Schwundstufe des Guten besteht demnach darin, sich zuhause in seinen eigenen vier Wänden einzuschließen, weil jeder Schritt nach draußen eine gleichermaßen unvermeidbare wie unwillentliche Teilhabe an allem bedeutet, was die Zukunft einer menschlicheren Welt bedroht. Was ja bekanntlich nicht nur für bestimmte historische und aktuelle Diktaturen gilt, sondern auch für unsere globalisierte Welt.

Letztlich bleibt nur noch eine Möglichkeit, vom Guten zu reden, und sie ähnelt der Art, wie Hannah Arendt vom radikal Bösen spricht: So wie dieses als nicht wiedergutzumachendes Menschheitsverbrechen verstanden werden muß, besteht auch das Gute in den nicht mehr rückgängig zu machenden Taten jener, die sich dafür entschieden haben, freiwillig mit den Opfern des Nationalsozialismus in den Tod zu gehen. Dieses Gute als ultima ratio ist von der Verlegenheit befreit, daß der Mensch, der sich jetzt für dieses Gute entscheidet, diese Entscheidung später noch einmal in aller Freiheit revidieren könnte. Als ultima ratio bildet diese Entscheidung ein bleibend Gutes, über den Tod des Menschen hinaus.

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Dienstag, 15. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Als ich Bettina Stangneths Buch „Böses Denken“ (2/2016) in meiner Lieblingsbuchhandlung in Münster erstmals in Händen hielt, verstand ich den Titel falsch. Ich dachte, es ginge mit dem bösen Denken um die Quintessenz des Denkens: daß es nämlich stört. Denn Denken kann ja immer nur kritisches Denken sein und sein Impetus der Zweifel an dem, was ist. Erst als ich dann das Buch tatsächlich zu lesen begann, wurde mir schnell klar, wie sehr ich auf dem Holzweg gewesen war: der Autorin geht es tatsächlich völlig unironisch um böses Denken, nämlich um ein Denken, das unser Leben und Handeln der moralischen Orientierung beraubt. Zwar ist tatsächlich auch von einem Denken die Rede, das ‚stört‘ (vgl. Stangneth 2/2016, S.90), aber nicht im Sinne einer Selbstbesinnung, sondern im Sinne einer bedenklichen Abwendung vom Leben und von der Welt; also im Sinne eines lähmenden Denkens, das „Handlungsunfähigkeit“ auslöst (vgl. Stangneth 2/2016, S.91).

In den ersten beiden Abschnitten ihres Buches diskutiert Stangneth zwei philosophische Versuche, das ‚Böse‘ zu beschreiben: Immanuel Kants „radikal Böses“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.21-67) und Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.69-121). Die Autorin beginnt ihr Buch mit einer erstaunlichen Feststellung: „Nichts“, behauptet sie, sei „so einfach wie Moral“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.9) Mit dieser Feststellung stellt die Autorin den Moralbegriff bewußt in Opposition zur Komplexität des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Es ist gerade diese Komplexität, so argumentiert Stangneth, die die Suche des Menschen nach Orientierung motiviert, und es ist gerade die Moralität, die diese Orientierung bieten muß. Und wenn die moderne Welt kompliziert ist, muß die Moral einfach sein:
„Es ist nicht zuletzt das Eingeständnis, dass ein Leben nicht ausreicht, auch nur das Wissen der eigenen Epoche in sich zu versammeln, das Kant zur Einsicht verhalf, dass eine verbindliche Moral nur dann möglich ist, wenn sie nicht nur unabhängig von Person und Stand nachvollziehbar ist, sondern auch kein Studium voraussetzt. Moral muss sich von selbst verstehen, und zwar für jeden.“ (Stangneth 2/2016, S.181)
Die Moral muß, wie Stangneth auch an anderer Stelle wiederholt, „sich von selbst“ verstehen (vgl. Stangneth 2/2016, S.246), und die Autorin liefert auch gleich zu Beginn ihres Buches ein paar Beispiele für solche moralischen Einsichten, die in ihrer Schlichtheit keiner weiteren intellektuellen Erörterungen bedürfen:
„Achte das Leben aller Menschen und versuche wenigstens, die Welt nicht schlechter zu hinterlassen, als du sie vorgefunden hast. Oder formuliert als Verbot: Wenn deine Art und Weise zu handeln eine Welt schafft, in der du nicht selber an der Stelle eines jeden anderen leben wollen würdest, dann handle anders.“ (Stangneth 2/2016, S.9)
Der zweite Satz, also das ‚Verbot‘, erinnert an Kants kategorischen Imperativ, in dem es darum geht, daß wir stets so handeln sollen, daß die Maxime unseres Handelns jederzeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung taugt. Mit anderen Worten: arbeite mit an einer Welt, in der es sich für jeden Menschen zu leben lohnt und nicht nur für Dich.

Die Formalität des Kantischen Moralbegriffs ermöglicht es Stangneth zufolge allen Menschen, ihr Leben so zu führen, wie es ihren Werten und Wünschen entspricht:
„Das formale Sittengesetz hat auch darum einen Vorzug vor dem Wertekatalog einer Kultur, weil es die Vielseitigkeit des Menschen nicht beurteilt und unsere damit gegebenen Möglichkeiten nicht reduziert, solange das Handlungsprinzip Vernunft ist. ... Wer Tugendterror fürchtet, sollte also vor allem den Formalismus schätzen lernen und weniger darum besorgt sein, ob das zum eigenen Image als Moralist passt.“ (Stangneth 2/2016, S.175f.)
Die individuelle Bildung des Menschen hat in Kants Moralbegriff deshalb nichts zu suchen. Die moralische Orientierung des Menschen ist Stangneth zufolge „unabhängig von Herkunft und Geschlecht, Stand und Glauben“. Die Vernunft ist „kulturunabhängig“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.172) So viel zum derzeit beim CSU-Demagogen Seehofer wiedermal sehr beliebten Begriff der „Leitkultur“. (Zur „Leitkultur“ vgl. auch Stangneth 2/2016, S.172) Bettina Stangneth weist ausdrücklich darauf hin, daß das Grundgesetz von der Kantischen Moralphilosophie inspiriert sei und „unabhängig von Herkunft und Geschlecht, Stand und Glauben“ gelte. (Vgl. ebenda)

Stangneth zufolge besteht die Vernunft in einem bildungsunabhängigen Gefühl bzw. Sinn für „Stimmigkeit und Unstimmigkeit im Selbstverhältnis“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.89; vgl. auch S.37, 44, 49, 141, 169, 201) Sie meldet sich immer dann, wenn sich unsere Vorstellungen untereinander oder mit unserem Handeln im Widerspruch befinden, und hat etwas „von einer Alarmglocke oder einem nervigen Tinnitus oder einem roten Warnlicht“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.38)

Kant zufolge verfügen alle Menschen über diese Vernunft – wobei ‚verfügen‘ nicht das richtige Wort ist, weil die Stimme der Vernunft eher etwas mit Achtsamkeit zu tun hat –, weil alle Menschen denken können. Denken ist nichts anderes als die Fähigkeit, sich seiner Vorstellungen und Empfindungen bewußt zu sein bzw. mit Kant gesprochen: die Fähigkeit, seine Vorstellungen und Empfindungen mit einem Denken begleiten zu können. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.38) Weil uns also unsere Vorstellungen in unserem Bewußtsein präsent sind, können wir sie auch miteinander vergleichen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.39) In diesem ständigen Abgleich unserer Vorstellungen untereinander besteht Stangneth zufolge die Vernunft.

Die Möglichkeit dieses Denkens bzw. dieser Vernunft führt Kant wiederum auf eine „transzendentale() Einheit der Apperzeption“ zurück (vgl. Stangneth 2/2016, S.40), also auf ein transzendentales Ich jenseits unserer empirsch-biographischen Identität. Diese transzendentale Einheit der Apperzeption entspricht der exzentrischen Positionalität von Helmuth Plessner:
„Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ („Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.292)
Dieses ortlose Nirgendwo/Nirgendwann-Ich Plessners, Kants transzendentale Einheit der Apperzeption, ist also bildungs- und kulturunabhängig und absolut frei in seinen Entscheidungen, nach welchen Gründen und Motiven es handeln will. Und genau in dieser Freiheit, sich jederzeit auch gegen das Gute wenden zu können, besteht Kant zufolge das „radikal Böse“:
„... genau das, also dass wir uns immer so, aber auch anders entscheiden können, obwohl wir von unserer Fähigkeit zur Moralität wissen und für diese Fähigkeit auch unwillkürlich Respekt empfinden, charakterisiert unsere Spezies als böse. ... Eine moralische Anlage zu haben, sich selber dafür zu bewundern und dennoch eine Distanz zu ihr zu wahren, statt sie an die erste Stelle zu stellen, wenn es um das eigene Handeln geht – das ist das radikal Böse.“ (Stangneth 2/2016, S.52f.)
Es gibt Kant zufolge keine guten und bösen Menschen, sondern nur jeweils Entscheidungen, die gut oder böse sind. Und gleichgültig wie oft ein Mensch in seinem Leben sich für das Gute entschieden hat und sich empirisch als verläßlich und gutartig erwiesen hat: niemand ist davor gefeit, sich im nächsten Augenblick gegen das Gute zu entscheiden:
„In dem Moment, in dem wir uns zum Handeln entschließen, bleiben wir in unserem Entschluss frei, was nicht weniger heißt, als dass sich noch der klügste und einsichtigste Mensch jederzeit zum Affen machen kann, wenn er sich entscheidet, sein Wissen im Handeln nicht zu berücksichtigen.“ (Stangneth 2/2016, S.51)
Wir haben es hier auch nicht mit einem „Defekt in unserer Natur“ zu tun. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.52) Tatsächlich ist diese ungebundene Entscheidungsfreiheit „Ausdruck der denkbar größten Freiheit“ (ebenda) und bildet deshalb ein wesentliches Moment unserer Anthropologie.

Hannah Arendt war von Kants Begriff des radikal Bösen beeindruckt. Sie gab ihm aber vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und des Holocaust eine neue Wendung:
„Es (das radikale Böse – DZ) ‚besteht in dem, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können‘.“ (Stangneth 2/2016, S.70)
Außerdem ergänzt Hannah Arendt den Begriff des radikal Bösen mit dem Begriff der „Banalität des Bösen“. ‚Banal‘ ist Arendt zufolge das Böse nicht etwa im Sinne einer Verniedlichung dessen, was im Holocaust geschehen ist, sondern in dem Sinne, daß der Holocaust vor allem aufgrund der Verweigerung der vielen Mitläufer, Bürokraten und Karrieristen, auf die Stimme der Vernunft zu hören, also selber zu denken, möglich wurde:
„Wenn Menschen tatsächlich, wie so viele Mittäter und Beihelfer von sich behaupteten, ohne eigene Absicht Böses getan zu haben – lag es vielleicht einfach daran, dass sie gedankenlos waren? Also dem Umgang mit dem eigenen Denken ausgewichen sind?“ (Stangneth 2/2016, S.89)
Dabei unterscheidet Arendt zwischen den Tätern des radikal Bösen, die sich bewußt für das Böse entschieden hatten, und den Täten des banalen Bösen, die ‚nur‘ mitgemacht haben:
„Die nationalsozialistischen Täter hatten die Menschheit verraten, ihre eigene und die ihrer Opfer. Also hatten sie auch die Möglichkeit verwirkt, sich in einer Rechtfertigung auf die gemeinsame Menschennatur in moralischer Hinsicht zu berufen.“ (Stangneth 2/2016, S.70)
Dies sind die Täter des radikal Bösen, denen nicht verziehen werden kann. Die Mittäter und Mitläufer sind die Täter – denn Täter, nämlich Handlungssubjekte sind sie alle – im Sinne der Banalität des Bösen, weil sie sich gegen das Selberdenken ‚entschieden‘ haben. Denn auch dort, wo diese Entscheidung nicht bewußt vollzogen wird, haben wir es mit einer Tat zu tun:
„Weil auch der Mangel an Bewusstsein für die Verantwortung nur selbstverschuldete Unfähigkeit sein kann, ist auch der Nicht-Denkende, den Arendt als Verursacher des Bösen aus banalen Gründen zu begreifen sucht, nur deshalb unfähig zum moralischen Bewusstsein, weil er nicht willens ist.“ (Stangneth 2/2016, S.115)
Wer sich also dem Selberdenken verweigert, kann sich auf keine anderweitigen Motive, persönlichen Schwächen oder besonderen Umstände herausreden. Er macht sich auf jeden Fall schuldig, und deshalb muß Kants Aufmunterung, „den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“, durch „eine Pflicht zu denken“ ergänzt werden. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.114f.)

Kant und Arendt verbindet beide die Hoffnung auf ein Denken, das, wenn man es pflegt und kultiviert, dazu beiträgt, den Rückfall in die Barbarei zu verhindern. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.117) Dabei ist diese Hoffnung aber paradox, denn sie setzt auf Bildung, wo doch gerade der Begriff des radikal Bösen darin besteht, daß nichts die Freiheit des Menschen, sich gegen das Gute zu entscheiden, begrenzen oder unterlaufen kann. Arendt versucht dieses Paradox aufzulösen, indem sie zwischen einem tiefen und einem flachen Denken unterscheidet. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.93, 118) Das flache Denken löst das Denken als „doppelte Dimension des menschlichen Bewusstseins“ (Stangneth 2/2016 S.118) nach einer Seite hin auf: anstatt eine innere Praxis des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses zu bilden, wendet sich das flache Denken von der Welt ab und dem Selbst zu.

Denken ist schon immer eine Form der Distanzierung (vgl. Stangneth 2/2016, S.91), sowohl von sich selbst wie auch von der Welt. Die Distanzierung von sich selbst führt zu der von Kant beschriebenen transzendentalen Einheit der Apperzeption, in Hannah Arendts Worten: zum „Zwei-in-einem“ (vgl. Stangneth 2/2016, ‚S.95, 116), also zur Ausdifferenzierung zweier Ichs, einem denkenden und einem gedachten. Gleichzeitig distanzieren wir uns denkend von der Welt und wenden uns im Denken gleichsam von ihr ab. Ein vollständiges Denken verharrt aber nicht in dieser Abwendung, sondern führt wieder zur Welt zurück. Flaches Denken hingegen verharrt in der Abwendung und verweigert sich der moralischen Verantwortung, die mit dem Denken, als einem „Handeln in uns“ (Stangneth 2/2016, S.204), einhergeht. Diese „eigentümliche Bewegung aus der Welt hinaus und wieder hinein“ muß geübt werden (vgl. Stangneth 2/2016, S.92), und sie muß sogar zur Pflicht werden, da alles andere zu einem flachen Denken führt. Denn flaches Denken bildet die Grundlage für die „Banalität des Bösen“.

Die gemeinsame Hoffnung von Kant und Arendt, „dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt, Denken also unmittelbar auf die Moralität wirkt, und dass diese Wirkung ausschließlich moralisierend ist“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.117), teilt Bettina Stangneth nicht:
„Wenn Denken immer der Weg zum Licht ist, dann gibt es nämlich vor allem eines nicht: das böse Denken.“ (Stangneth 2/2016, S.126)
Eine solche naive Wertschätzung des Denkens sei zudem verführerisch, weil Philosophen, Wissenschaftler und Intellektuelle sich so aus ihrer Verantwortung für die Welt herausmogeln könnten:
„Jeder hätte seinen eigenen Grund, das Denken der Täter zu unterschätzen: die Philosophen aus ihrem Glauben an die moralisierende Kraft des bloßen Denkens, Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft aus ihrer Überzeugung, dass die Ursachen menschlichen Verhaltens nur bedingt im Denken liegen, und die Täter, weil es sich von jeher als klüger herausgestellt hat, den Gedankenlosen zu spielen, sobald einen jemand erwischt hat.“ (Stangneth 2/2016, S.128)
Um die Täter des Holocaust ernstnehmen und etwas aus der Geschichte lernen zu können, muß man sich deshalb ihrem Denken zuwenden. Man darf es weder wegbanalisieren noch wegpsychologisieren. Im dritten Kapitel wendet sich Bettina Stangneth deshalb ausgiebig den verschiedenen Formen des bösen Denkens zu. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.123-240) Damit werde ich mich in den folgenden Posts befassen.

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Freitag, 4. November 2016

K.F. Martin Baesler, Das Problem der menschlichen Erfüllung in Kants Moralphilosophie und Anthropologie (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.216-227)

Schon in meinem letzten Post zu Sebastian Schwenzfeuer (in: Oliver/Maio 2015, S.299-215) mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß Immanuel Kant dem Moralgesetz einen „heiligen Willen“ zugrundelegt und es damit außerhalb der conditio humana begründet. Der „gute Wille“ des Menschen ist Kant zufolge mit dem Makel belastet, daß er auch anders wollen kann; eine Alternative, die der heilige Wille nicht hat.

Es ist mir nicht leicht gefallen, mich dieser Erkenntnis zu stellen, da ich mich bislang immer als Kantianer betrachtet hatte. Auch K.F. Baesler, der Autor des nächsten Beitrags in Oliver Müllers und Giovanni Maios Herausgeberbuch, „Das Problem der menschlichen Erfüllung in Kants Moralphilosophie und Anthropologie“ (2015), hält mehrmals in aller wünschenswerten Klarheit fest, daß Kant den Willen vom menschlichen Streben trennt. (Vgl. Baesler 2015, S.216 und 217) Kant, so Baesler, „setzt voraus, dass die reine Vernunft von sich aus wirksam sein kann“. (Vgl. Baesler 2015, S.217)

Kant trennt also Wille und Intentionalität, denn vom ursprünglichen Wortsinn her bezeichnet ‚intentio‘ ein Streben nach etwas. Dieses Gerichtetsein auf ein Objekt bildet das zentrale Moment jeder Intentionalität. Da aber das jeweilige Objekt, auf das wir uns intendierend richten bzw. nach dem wir ‚streben‘, beliebig ist, ist es Kant zufolge nur ‚empirisch‘ und nicht notwendig; und weil es nicht notwendig ist, ist es auch nicht vernünftig. Auch wenn wir dabei einer Regel folgen, handeln wir nicht vernünftig, sondern nur praktisch:
„Wenn die Begierde nach diesem vorgestellten Gegenstand die praktische Regel bestimmt, dann ist dies nach Kant immer empirisch, denn der Bestimmungsgrund der Willkür ist dann das Verhältnis der Vorstellung des Objekts zum Subjekt. Dieses Verhältnis zum Subjekt bezeichnet Kant als Lust.“ (Baesler 2015, S.218)
Wenn wir also erfolgreich etwas intendieren bzw. nach etwas streben, so ‚erfüllt‘ sich unser Streben. Und dann empfinden wir Lust. Ständige, ununterbrochene Lusterfüllung wiederum bezeichnet Kant als „Glückseligkeit“:
„Kant schreibt: ‚Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein Dasein begleitet, die Glückseligkeit, und das Prinzip, diese sich zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe.‘()“ (Baesler 2015, S.219f.)
Indem Kant also den Willen vom Streben bzw. von der Intentionalität trennt, kann sich dieser Wille auch nicht ‚erfüllen‘. Es gibt schlichtweg kein Objekt, in dem sich dieser Wille erfüllen könnte. Wir wollen niemals etwas, wie bei einer Intention, sondern einfach nur so. Und wenn wir einfach nur so wollen, ohne etwas Bestimmtes zu wollen, und dabei einer Regel folgen, dann ist das vernünftig. Baesler hält fest, daß Kant ein Problem mit der Erfüllung hat:
„Die anthropologische Wissenschaft Kants als Untersuchung des Menschen hinsichtlich seiner Erfüllung ist mit dem Problem behaftet, dass das Glück nur äußerlich verstanden ... wird. Daraus folgt, dass das Wesen des Menschen hinsichtlich seiner Erfüllung als Gegenstand der Anthropologie von Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nicht untersucht wird.“ (Baesler 2015, S.217)
Das Konzept einer ununterbrochenen Glückseligkeit ist auf empirischer Ebene äußerst problematisch. Auf moralphilosophischer Ebene ist sie sogar völlig unmöglich, denn Erfüllung gibt es ja nur mit Bezug auf Objekte, und diese Objekte gehen der reinen Vernunft völlig ab; sonst wäre sie ja nicht ‚rein‘. Kant hat Baesler zufolge „die reine Vernunft unwiderruflich vom gegebenen Einzelobjekt als Objekt des Begehrens und somit vom Einzelobjekt als Einzelnes getrennt.“ (Vgl. Baesler 2015, S.219)

Das Leben des individuellen Menschen ist aber unweigerlich von den Objekten, nach denen es ‚strebt‘, völlig abhängig. Da aber diese Objekte ständig wechseln, befindet sich sein „Instinkt“, wie Baesler Kant zitiert, in einem beständig „schwankenden Zustande“, und er empfindet dabei „Überdruß“. (Vgl. Baesler 2015, S.217) Wir haben es also auf der empirischen Ebene des menschlichen Strebens mit einer gebrochenen Intentionalität zu tun, wie sie Helmuth Plessner beschrieben hat. Eine ununterbrochene Glückseligkeit ist empirisch unmöglich. Bei Plessner führt diese Erfahrung zur Selbsterkenntnis und zu einem neuen Selbst- und Weltverhältnis, in dem sich der Mensch exzentrisch positioniert.

Bei Kant hingegen veranlaßt diese Erfahrung den Menschen dazu, sich von den empirischen Objekten abzuwenden und nach „wahrer Glückseligkeit“ zu streben, die Kant zufolge in der „Verwirklichung eines freiheitlich-sittlichen Lebens“ besteht. (Vgl. Baesler 2015, S.216) Dieses freiheitlich-sittliche Leben übersteigt aber die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen. Dazu bedarf es eines „größeren Zeitrahmen(s)“. (Vgl. ebenda) An die Stelle des Individuums tritt deshalb die Gattung. Es ist die Aufgabe der Menschheit, die Gebote der reinen Vernunft, also die „wahre Glückseligkeit“, zu erfüllen.

Hans Blumenberg hatte in „Höhlenausgänge“ (1989) auf die Zweifelhaftigkeit der Legitimität von Wesensbestimmungen des Menschen hingewiesen, die die Begrenztheit der menschlichen Lebensspanne ignorieren. (Vgl. meinen Post vom 11.07.2012) Genau das macht Kant: er bezeichnet den Menschen als „Vernunftwesen“ (vgl. Baesler 2015, S.221) und trennt gleichzeitig den Willen von der Intentionalität. So trennt er zugleich dessen empirisch beschränkte Existenz von seiner Vernunftnatur ab. Seine Bestimmung bzw. ‚Erfüllung‘ liegt nicht mehr in ihm selbst und seiner Lebensführung, sondern in der Bestimmung der Gattung, d.h. als ‚Menschheit‘ und als ‚Vernunft‘.

Der ideale ‚Mensch‘ im Kantischen Sinne ist also ein Individuum, das für sich selbst möglichst wenig ‚will‘ bzw. möglichst wenige Objekte intendiert:
„Der wahrhaft weise Mensch ist nach Kant affektlos. Affektlos ist, wer phlegmatisch ist. Er sagt, dass beim phlegmatischen Menschen die Triebfedern zum Guten nicht vermindert werden, womit er auf die Pflicht zielt, die also im Zustande des Phlegmas immer noch bestehen.“ (Baesler 2015, S.227)
Kant denkt den Menschen also nicht wie Plessner von der empirischen Gebrochenheit seiner Intentionalität her, sondern er denkt ihn auf die Kontinuität einer sich in der wahren Glückseligkeit erfüllenden Intentionalität der menschlichen Gattung hin. Er nimmt den ganzen Menschen in all seiner biologischen, kulturellen und biographischen Bedingtheit nur ‚pragmatisch‘ zur Kenntnis. In der Anthropologie geht es Kant zufolge nur um „die subjective, hindernde sowohl als begünstigende Bedingung der Ausführung der Gesetze ... in der menschlichen Natur“. (Vgl. Baesler 2015, S.216)

Der empirische Mensch für sich selbst in seiner Körperleiblichkeit ist uninteressant.

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Donnerstag, 3. November 2016

Sebastian Schwenzfeuer, Kants Begründung der Ethik im Verhältnis zur Anthropologie (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.199-215)

Bei der Lektüre von Sebastian Schwenzfeuers Beitrag „Kants Begründung der Ethik im Verhältnis zur Anthropologie“ (2015) ist mir deutlich geworden, wie sehr ich mich, ohne es zu bemerken, in meinem Denken inzwischen von der Kantischen Moralphilosophie entfernt habe. Das liegt vor allem an der Kantischen Konstruktion des „heiligen Willens“. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.209)

Der Begriff des heiligen Willens ist im Grunde ein Paradox, weil er einen Willen meint, der nicht wollen kann. Nur der menschliche Wille kann etwas anderes wollen, als die reine Vernunft ihm vorschreibt; eine „Möglichkeit“, so Schwenzfeuer, „die ein heiliger Wille nicht hat“. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.209) Wenn aber der heilige Wille nicht anders kann, als das zu ‚wollen‘, was die reine Vernunft für moralisch richtig erkennt, ist er überhaupt kein Wille.

Bevor ich mit der Besprechung des Beitrags von Schwenzfeuer fortfahre, möchte ich kurz mein eigenes bisheriges Verständnis der Kantischen Moralphilosophie erläutern, das stark von Schopenhauer beeinflußt ist. Ich hatte mich dabei immer an der zentralen Bedeutung des Willens für Kants Moralphilosophie orientiert. Insbesondere hatte es mir der Begriff des „guten Willens“ angetan, den Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) zum einzig Guten „in der Welt“ erklärt. Dabei war mir das „in der Welt“ nicht weiter aufgefallen, denn ich habe es als Universalitätsformel verstanden. Tatsächlich handelt es sich aber um keine Universalisierung, sondern um eine Einschränkung. Der gute Wille ist eben nur ‚in der Welt‘ wie wir sie kennen das einzig Gute. Er ist es nicht schlechthin.

Mir war es bei dem guten Willen immer vor allem um den Willen selbst gegangen, weil ich darin die Grundlegung der Moral durch eine autonome Subjektivität wiederzuerkennen glaubte. Diese Autonomie entspricht der Kantischen Aufklärungsformel, daß der Mensch seinen Verstand ohne Anleitung eines anderen Verstandes gebrauchen solle. So soll er eben auch nichts für gut halten, wenn er es nicht selbst für gut halten will. Und gut ist der Wille immer dann, wenn er sein eigenes autonomes Wollen mit dem autonomen Wollen aller anderen Menschen abstimmt. Das war für mich immer der Kern der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs:
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV (1968), S.429)
In dieser Fassung des kategorischen Imperativs geht es um die moralische Qualität des Willens: Alles, was wir wollen dürfen, muß im Einklang damit stehen, daß unsere Mitmenschen das gleiche Recht haben, ihr Leben nach ihrem Willen zu gestalten und zu führen. Sie bilden Zwecke für sich selbst und dürfen nicht darauf reduziert werden, bloß Mittel meines eigenen Wollens zu sein.

Jetzt behauptet Schwenzfeuer aber etwas Überraschendes: Es gibt überhaupt keine zwei Fassungen des kategorischen Imperativs, sondern nur eine! Dabei wird die gerade von mir zitierte Formulierung von Schwenzfeuer überhaupt nicht berücksichtigt. Schwenzfeuer bezieht sich ausschließlich auf eine Formulierung, die für mich bislang immer bloß die erste Fassung des kategorischen Imperativs gewesen war:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Zitiert nach Schwenzfeuer 2015, S.206f.)
In dieser Formulierung spielt der Wille der anderen Menschen – also ihre Mittel und Zwecke – keine Rolle. Hier steht vielmehr die in der reinen Vernunft begründete „allgemeine() Gesetzgebung“ im Zentrum. Und die Formulierung dieses Satzes bildet, so Schwenzfeuer, nicht etwa einen Imperativ, sondern eine Deskription; denn dieser Satz, dieses „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ (Schwenzfeuer 2015, S.207), bezieht sich nicht etwa auf den Menschen, sondern auf den schon erwähnten heiligen Willen:
„Das Grundgesetz ist daher für den heiligen Willen gar keine Aufforderung oder Vorschrift, sondern eine reine Beschreibung. Es deskribiert, wie der heilige Wille handelt.“ (Schwenzfeuer 2015, S.211)
Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft beschreibt also nur, was der heilige Wille sowieso schon immer tut, nämlich sich an das „Princip einer allgemeinen Gesetzgebung“ zu halten.

Dieser heilige Wille ist also kein guter Wille, denn der gute Wille ist ein menschlicher Wille, und der kann auch anders. Er ist für beides affizierbar: für das Gute wie auch für das Böse. Und es ist insbesondere der menschliche Wille, für den das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft keine bloße Deskription darstellt, sondern einen Imperativ! Es ist ausschließlich der menschliche Wille, der zur Befolgung des Grundgesetzes genötigt werden muß. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.210) Dieselbe Formulierung des Grundgesetzes beinhaltet also zwei verschiedene grammatische Funktionen: für den heiligen Willen eine Deskription, für den menschlichen Willen einen Imperativ.

Schwenzfeuer kommt in seinem Beitrag kein einziges Mal auf den guten Willen zu sprechen. Und die von mir zitierte Fassung über die Zwecke und Mittel im Umgang mit anderen Menschen wird von ihm ebenfalls nicht erwähnt. Es fehlen also insgesamt Erörterungen zur Subjektivität des Wollens und zu ihrer Funktion für die Kantische Moralphilosophie. Aber ein Argument läßt sich einfach nicht entkräftigen: Schwenzfeuer kann zeigen, daß Kant seine Moralphilosophie nicht im guten Willen des Menschen begründet, sondern im heiligen Willen aller vernunftbegabten Lebewesen, der ja nicht etwa vom Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ‚affiziert‘ wird – wäre der heilige Wille affizierbar, wäre er auch für andere Dinge empfänglich –, sondern mit ihm identisch ist.

Erst von diesem heiligen Willen aus wird die Anwendung des so begründeten Grundgesetzes auf den Menschen konzipiert:
„Die Verbindlichkeit moralischer Verpflichtungen hat also ihren Grund nicht in irgendwelchen wesentlichen oder unwesentlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen.() Die Moralphilosophie ist hingegen ‚a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft‘ ... begründet.“ (Schwenzfeuer 2015, S.200)
Die ganze Anthropologie der „Endlichkeit des Menschen“, seiner Bedürftigkeit und seines Begehrens (vgl. Schwenzfeuer 2015, S.211), spielt für die Begründung der Kantischen Moralphilosophie überhaupt keine Rolle. Sie bildet lediglich den Anwendungsbereich der jenseits dieser Bedürftigkeit angesiedelten reinen Vernunft, die auf die Bedürftigkeit des Menschen lediglich „Rücksicht“ nimmt. (Vgl. Schwenzfeuer 2015, S.212)

Wenn Schwenzfeuer mit diesem Begründungszusammenhang richtig liegt, dann kann Kants Begründung der Moral als gescheitert gelten. Es kann keine Begründung der Moral geben, die allgemeine Verbindlichkeit behauptet und gleichzeitig außerhalb der menschlichen conditio humana liegt. Mit vernunftbegabten Lebewesen, die von keinen Bedürfnissen affiziert werden und zu keinem Selbst- und Weltverhältnis finden müssen, in dem sie lernen, mit der Begrenztheit ihrer Intentionalität umzugehen, hat der Mensch nichts gemeinsam: auch nicht die Moral.

Es mag wohl sein, daß auch der Mensch zu einer reinen Vernunft befähigt ist. Aber nur in der Kontemplation. Nicht in der Praxis.

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Mittwoch, 2. November 2016

Markus Enders, Die biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.31-63)

1. Defiziente Intentionalität
2. Sünde als Entzweiung des Menschen mit Gott

Die Grunderfahrung, die das christliche Menschenbild mit allen Menschen teilt, besteht in der Gebrochenheit und Begrenztheit der menschlichen Intentionalität. Aus der Erfahrung der Begrenzung heraus ergeben sich prinzipiell zwei mögliche Konsequenzen: entweder eine Reflexion der Begrenztheit des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses oder eine Projektion der menschlichen Begrenztheit auf eine göttliche Omnipotenz. Indem der Mensch mit seiner irdischen Beschränktheit durch Unterwerfung unter die göttliche Omnipotenz an dieser Potenz teilhat, ist er einer weitergehenden Reflexion der eigenen Begrenztheit enthoben.

Für die letztere Option hat sich die biblische Tradition entschieden. Diese Option ist aber nicht einfach nur ‚bequem‘ und irrational. Sie beinhaltet eine eigene Rationalität, die sich auf die Erfahrung berufen kann, daß Menschen, die sich mit der Begrenztheit ihres Selbst- und Weltverhältnisses nicht abfinden wollen, zur Hybris neigen: sie versuchen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, die Welt so umzugestalten, daß sie ihren Wünschen keinen Widerstand mehr leistet. Enders weist ausdrücklich darauf hin, daß die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott nicht bedeutet, daß der Mensch wie ein totalitärer Despot über die Welt herrschen und ihre Ressourcen nach Belieben plündern darf. Der biblischen Tradition zufolge ist er vielmehr vor Gott für dessen Schöpfung verantwortlich, und seine ‚Herrschaft‘ ist deshalb nur die eines Statthalters. (Vgl. Enders 2015, S.31) Sein „Herrschaftsauftrag“ gleicht mehr dem eines „Hirten“, der für den „Erhalt der Lebensdienlichkeit der Schöpfung“ sorgt. (Vgl. Enders 2015, S.33)

Der menschliche Wille wird also durch Gottes Willen nicht einfach nur begrenzt, sondern zugleich auch in einen Schutzmechanismus eingebettet, der den Menschen davor bewahrt, sich an sich selbst und an Gottes Schöpfung, zu der der Mensch ja auch gehört, zu vergehen. Für die Gefahren ungebändigter menschlicher Destruktivität ist die Bibel sehr sensibel. Man könnte diese Destruktivität als den Kern des ‚Bösen‘ bezeichnen, von dem mit Blick auf den Teufel bzw. den Satan, Beelzebub etc. immer die Rede ist. Es ist diese mit ungebändigter Destruktivität einhergehende Hybris, mit der der Sündenfall bzw. die verschiedenen Sündenfälle des Alten Testamentes einhergehen.


Zu Beginn der Schöpfungsgeschichte bildeten der Mensch und die Schöpfung ein Ganzes. Das einzige, worin er sich vom Rest der Schöpfung unterschied, bestand in der Gottesebenbildlichkeit. (Vgl. Enders 2015, S.32) In dieser Ebenbildlichkeit bildeten auch Mann und Frau eine Einheit. Das Geschlecht machte keinen Unterschied. (Vgl. Enders 2015, S.32 und S.34)

Mit seinem Wunsch, Gott nicht nur ähnlich zu sein, sondern ihm auch in der Erkenntnis von Gut und Böse gleich zu sein, beginnt eine ganze Reihe von Entzweiungen und weiteren Sündenfällen, die alle mit der „Hybris der Ursünde“ zusammenhängen. (Vgl. Enders 2015, S.36) Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte vom Baum der Erkenntnis stehen die Entzweiung der Geschlechter und der Beginn des Patriarchats, in dem die Frau der Herrschaft des Mannes unterworfen wird. (Vgl. Enders 2015, S.35) Außerdem wird jedes Geschlecht mit sich selbst entzweit: die Frau mit ihrem Körper, weil sie unter Schmerzen Kinder zur Welt bringen muß, und der Mann mit der natürlichen Umwelt, weil er für ihren Lebensunterhalt schwer arbeiten muß. Hinzu kommt die Entzweiung zwischen Mensch und Tier, die sich gegenseitig nach dem Leben trachten. (Vgl. Enders 2015, S.36)

Der nächste Sündenfall, von dem die Bibel berichtet, besteht im Brudermord: Kain tötet Abel, und von nun an herrschen Zwietracht und Feindschaft auch in der Familie. (Vgl. Enders 2015, S.36) Sodom und Gomorrha bilden einen gesellschaftlichen ‚Sündenfall‘: Sittenverfall und Gewalt bestimmen das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. (Vgl. ebenda) Der Turmbau zu Babel führt die Hybris des Menschen noch einmal besonders bildhaft vor Augen: er versucht den Himmel zu erreichen, also Gottes Wohnsitz zu stürmen. Die Folgen sind Sprachverwirrung und weltweite Vereinzelung der Menschen, gewissermaßen eine zweite Vertreibung aus dem Paradies. (Vgl. Enders 2015, S.36f.)

Alle diese Entzweiungen des Menschen mit Gott, sich selbst und mit der Welt gipfeln schließlich in der „Sterblichkeit des Menschen“ (Enders 2015, S.37):
„Genau diesen Verlust (der Unsterblichkeit – DZ) und damit die Sterblichkeit seiner irdischen Seinsweise hat sich der Mensch durch seinen Sündenfall zuallererst zugezogen, worauf die Erzählung dieses zweiten Schöpfungsberichts mehrfach ausdrücklich hinweist.()“ (Enders 2015, S.38)
Für alle diese ‚Entzweiungen‘ des Menschen mit sich selbst und der Welt, die sich aus seiner Erfahrung der eigenen Begrenztheit ergeben, ist die Bibel wie gesagt erstaunlich hellsichtig, und es tut heute mehr denn je not, diese Warnung ernstzunehmen. Sie muß in die Reflexion unserer gebrochenen Intentionalität hineingenommen und aufgehoben werden, im Sinne einer bewußten Selbstbegrenzung. Denn wir können uns nicht mehr damit begnügen, uns von einem allmächtigen, fürsorgenden Gott begrenzt zu wissen bzw. einfach naiv daran zu glauben. Kein Gott wird uns aus der Apokalypse, die wir selbst herbeiführen, erretten.

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Dienstag, 1. November 2016

Markus Enders, Die biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.31-63)

1. Defiziente Intentionalität
2. Sünde als Entzweiung des Menschen mit Gott

Im Unterschied zum Beitrag „Das Menschenbild der Antike“ (2015; vgl. meinen Post vom 01.10.2016) von Friedo Ricken hält der Beitrag „Die biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes“ (2015) von Markus Enders tatsächlich, was er verspricht, und liefert ein erhellendes Portrait des christlichen Menschenbildes. Markus Enders konzentriert sich dabei auf die Aspekte der Ebenbildlichkeit und der „seinsmäßigen Abhängigkeit“ – Friedrich Schleiermacher spricht von der schlechthinnigen Abhängigkeit – des Menschen von Gott. (Vgl. Enders 2015, S.31f.) Diese beiden Aspekte sind für das christliche Menschenbild fundamental und beinhalten ein Konzept defizienter Intentionalität, das das menschliche Selbst- und Weltverhältnis von Gott her und auf Gott hin begrenzt. Das ganze biblische, im Kern katastrophische (Un-)Heilsgeschehen, beginnend mit dem Sündenfall der ersten beiden Menschen Adam und Eva im Alten Testamentes (AT) und endend mit der Apokalypse des Neuen Testamentes (NT), ist durchzogen vom roten Faden von Entgrenzungs- und Wiederbegrenzungsereignissen, in denen sich der Mensch zunächst von Gott ab- und sich und seiner Welt zuwendet und dann wieder von sich und seiner Welt ab- und Gott zuwendet.

Bevor ich im Einzelnen auf Enders Argumentation eingehe, möchte ich hier kurz erläutern, was ich unter einer defizienten Intentionalität verstehe. Mit Helmuth Plessner gehe ich davon aus, daß der menschliche Organismus ein Selbst- und Weltverhältnis bildet, das auf einen ständigen Stoffwechsel mit der äußeren Welt ausgerichtet ist. Seine Bedürfnisstruktur ist durch diesen Stoffwechsel gekennzeichnet. Darin besteht seine Intentionalität, im Sinne von ‚intendere‘: ausrichten bzw. orientieren. Der Mensch bedarf einer Welt, um existieren zu können.

Die biblische Tradition richtet den Menschen hingegen von Anfang an auf Gott aus, eben im Sinne der erwähnten Ebenbildlichkeit und Abhängigkeit, was beinhaltet, daß nicht der Wille des Menschen bzw. seine Intentionalität, sondern allein der Wille Gottes zählt:
„Gott ist der alleinige Grund, der den irdischen Menschen erstens aus sich hervorbringt, und zwar gemäß seiner ewigen, exemplar- bzw. formursächlich wirkenden Schöpfungsidee von ihm;() Gott ist zweitens zugleich derjenige, der den Menschen in seiner leiblichen Existenz erhält, solange er auf Erden lebt; und er führt ihn drittens nach seinem physischen Tode in einer verwandelten Seinsform wieder zu sich zurück.“ (Enders 2015, S.32)
Auch im Jesuanischen Menschenbild (NT) ist die menschliche Bedürfnisbefriedigung im Sinne der Lebenserhaltung völlig zweitrangig. Für die Lebenserhaltung sorgt Gott. (Vgl. Enders 2015, S.41) Das Einzige was zählt, ist die Erfüllung des Willens Gottes:
„Dementsprechend lehrt Jesus seine Jünger, zu Gott als zu ihrem ‚Vater‘ zu beten() und sich daher als seine Geschöpfe zu verstehen, die von ihm in ihrem Sein und ihrem Lebenserhalt restlos herkünftig bzw. abhängig und deshalb auch schöpfungsmäßig auf ihn gänzlich ausgerichtet und bezogen sind.“ (Enders 2015, S.41)
Wir können also von einer im Verhältnis zum ‚natürlichen‘ Selbst- und Weltverhältnis des Menschen beim christlichen Menschenbild von einer ‚umgebogenen‘ Intentionalität sprechen. Diese ‚Umbiegung‘ bzw. Neuausrichtung der menschlichen Intentionalität besteht darin, daß sie sich nicht mehr geradehin auf die Welt und die Gegenstände richtet, sondern einen Umweg über ‚Gott‘ macht. Und der menschliche Wille folgt dem Willen Gottes, weil er im Vergleich zu Gottes Willen unendlich defizient ist:
„Im Vergleich mit dem unübertrefflichen vollkommenen Willen Gottes aber muss sich der Mensch als ein Sünder erkennen, d.h. als jemand, der sein Soll nicht erfüllt ...“ (Enders 2015, S.43)
Diese Umwegigkeit der menschlichen Bedürfnisorganisation, als umgebogene Intentionalität, beinhaltet übrigens eine besondere Anfälligkeit für die Geldwirtschaft. Dies sei hier nur am Rande angemerkt. Christina von Braun hat sich damit in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2/2012) auseinandergesetzt. (Vgl. meinen Post vom 25.11.2012)

Die Folge ist, daß die biblische Heilsgeschichte von „Gerichtsankündigungen und Aufrufe(n) zur Buße“ geprägt ist. (Vgl. Enders 2015, S.43) Der „freie Wille“ ist in der Paulinischen Verkündigung (NT) kein Prädikat des Menschen mehr, sondern ein „Prädikat Gottes“. (Vgl. Enders 2015, S.57, Anm.167)

Wir haben es mit einem spezifisch christlichen Verständnis des Hiatus-Erlebnisses als Sünde zu tun. Der Hiatus bzw. der Bruch öffnet sich nicht wie bei Plessner im einfachen Scheitern der menschlichen Intentionalität an der Welt, sondern im Scheitern der menschlichen Intentionalität am Göttlichen Willen. Im Paulinischen Verständnis ist es schon sündhaft, überhaupt irgendetwas zu wollen, ohne daß dieser Wille den Umweg über Gott nimmt. Der „Eigenwille“ ist Paulus zufolge untrennbar mit dem menschlichen „Fleisch“ verbunden – und das griechische Wort für Fleisch, sark, bildet nicht umsonst die Grundform für den deutschen ‚Sarg‘:
„Ein ‚Leben im Fleisch‘() versteht er (Paulus – DZ) daher pejorativ als eine verweltlichte Existenzweise, als eine ‚fleischliche‘ Gesinnung() des Menschen, die sich am Vergänglichen und Äußerlichen, am Sichtbaren und Handgreiflichen orientiert und somit vom menschlichen Eigenwillen bestimmen lässt ...“ (Enders 2015, S.50)
Der Hiatus, der bei Plessner den Menschen sich auf sich selbst besinnen läßt und ihn allererst zum Menschen macht, besteht also in der biblischen Tradition im Abfall des Menschen vom göttlichen Willen. Dieser Abfall macht ihn zwar auch in gewisser Weise ‚menschlich‘, aber eben nur im pejorativen Sinne, indem er ihn zugleich zum Sünder macht. Der Mensch soll wollen, was Gott will, tut aber meistens das, was er selbst will. In Paulinischer Diktion klingt das folgendermaßen: „Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.“ (Zitiert nach Enders 2015, S.53f.; Quelle: Röm. 7.14-25)

Bei Plessner müßte es heißen: Es geschieht nicht das, was ich will, sondern das, was ich nicht will. Darin kommt die Erfahrung eines Bruchs mit der Welt zum Ausdruck, der den Menschen veranlaßt, in ein Selbstverhältnis zu treten. Die christliche Reflexivität hingegen versteht das scheiternde Tun als Folge eines schlechten Willens, der nicht will, was Gott will. So beginnt der christliche Sünder den eigenen Willen – und das, was er ‚tut‘ – zu hassen. Auf diese Weise kann die Gebrochenheit des eigenen Wollens nicht in den Blick kommen. Eine Selbstreflexion wird dauerhaft unterbunden.

Im Schöpfungsakt wird der Mensch als ein Ganzes erschaffen. Der Mensch existiert zwar in Gestalt zweier Geschlechter, aber beide Geschlechter sind gleichermaßen Ebenbilder Gottes: „Beide Schöpfungsberichte insistieren auf der gleichwertigen Gottesebenbildlichkeit von Mann und Frau bzw. auf der gleichen Würde beider Geschlechter.()“ (Enders 2015, S.34) – Mann und Frau bilden der Genesis zufolge ‚ein Fleisch‘. Über Eva sagt Adam, daß sie „Bein von meinem Bein“ und „Fleisch von meinem Fleisch“ sei. Und über beide heißt es: „Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.“ (Vgl. Enders 2015, S.32, Anm.5; Quelle: Gen. 2,18-2,24)


An dieser Bibelstelle wird schon deutlich, daß hier vom ‚Fleisch‘ nicht so negativ gesprochen wird wie bei Paulus. Die „anthropologische Begrifflichkeit des Alten Testaments“ beinhaltet Enders zufolge ein „ganzheitliches Verständnis des Menschen“. (Vgl. Enders 2015, S.39) Das ‚Fleisch‘ bildet lediglich einen der verschiedenen Aspekte des Menschen. Die ‚Schwäche‘ des Fleisches ist lediglich eine Folge des Sündenfalls und nicht selbst wiederum etwas in sich Böses, sondern eher so etwas wie eine Strafe, die mit der Vertreibung aus dem Paradies einhergeht. Von nun an ist der Mensch sterblich, und diese Sterblichkeit ist eben eine Eigenschaft des Fleisches. (Vgl. Enders 2015, S.37f.)

Erst in der Paulinischen Verkündigung wird das ‚Fleisch‘ so negativ konnotiert, daß es grundsätzlich böse ist. Damit entsteht zwar kein neuer metaphysischer Dualismus im Sinne der platonischen Unterscheidung zwischen Körper und Geist bzw. Seele. Aber Enders spricht mit Udo Schnelle (1991) immerhin von einem „geschichtliche(n) Dualismus“, der durch diese negative Bewertung des Fleisches bewirkt wird. (Vgl. Enders 2015, S.51) Ich möchte stattdessen lieber von einem genetischen Dualismus sprechen, denn mit ‚geschichtlich‘ ist bei Enders kein Epochenbegriff gemeint, im Sinne eines christlichen Dualismusses, sondern ein individueller, ontogenetisch verortbarer Bruch im Gottesverhältnis. Der biblische Schöpfungsbericht, demzufolge der Mensch grundsätzlich gut ist, also kein in sich gespaltenes Wesen, wird von Paulus nicht außer Kraft gesetzt.

Zunächst ist jeder neugeborene Mensch im Stande der Unschuld. Aber der erste Willensakt, der nicht auf Gott ausgerichtet ist, versetzt ihn in den Stand der Sünde. Die Sünde bildet also kein überzeitliches Schicksal, sondern eine Tat des Menschen. Der „Schicksals- und Verhängnischarakter der Sünde für den Menschen“ besteht Paulus zufolge darin, „dass sich der Mensch bereits durch eine einzige Sünde unter ihre Herrschaft begibt, d.h. zu ihrem Sklaven wird, so dass er sein ursprünglich natürliches Vermögen verliert, aus eigener Kraft das für sich Gute wollen und vollbringen und damit sein finales Glück bzw. seine Seligkeit erreichen zu können.“ (Enders 2015, S.53)

Der genetische Dualismus unterscheidet deshalb nicht mehr zwischen Körper und Geist bzw. Seele, sondern zwischen Körper und Körper und erinnert von ferne (allerdings wirklich nur von ferne!) an Plessners Körperleib. Der gute Körper ist der Leib bzw. das soma, während der böse Körper vom Fleisch bzw. vom sark gebildet wird. Bei beiden Begriffen haben wir es mit zwei grundverschiedenen Intentionalitäten zu tun: der Leib bildet den „Ort der Verherrlichung Gottes“ und erfüllt dessen Willen. (Vgl. Enders 2015, S.49) Er verwandelt sich nach dem Tod des Menschen in einen „pneumatischen Leib()“ und wird weiterleben. (Vgl. ebenda)

Das Fleisch hingegen wird vom Eigenwillen des Menschen beherrscht und unterliegt der Herrschaft der Sünde: „Meint der Mensch, aus sich selbst heraus leben zu können, so verfällt er dem Fleisch, das dann nicht vom Geist, sondern von der Sünde beherrscht wird.“ (Udo Schnelle (1991); zitiert nach Enders 2015, S.51)

Die Grunderfahrung des Menschen, auf die sich das christliche Menschenbild bezieht, ähnelt also der Erfahrung aller Menschen und ist deshalb anthropologisch durchaus gehaltvoll. Diese Erfahrung besteht darin, daß die menschliche Intentionalität gebrochen ist und daß die Existenz des Menschen deshalb von Grund auf fragil und gefährdet ist. Allerdings unterscheidet sich das christliche Menschenbild hinsichtlich der Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben. Anstatt den Menschen zu veranlassen, die eigene Gebrochenheit zu reflektieren und zu leben, imaginiert es eine vollkommene Intentionalität, mit der der Mensch sich nicht messen kann und an der er wiederum notwendigerweise scheitern muß. Der ‚Lohn‘ dieses Menschenbildes besteht wiederum darin, daß dieses Scheitern mit einem Heilsversprechen verknüpft wird, das auf ein anderes Leben in einer anderen Welt vertröstet. Und für die diesseitige Welt entlastet das christliche Weltbild von jeder menschlichen Verantwortung, da es niemals auf den individuellen Willen ankommt, sondern immer nur auf den Willen Gottes.

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