„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. Juli 2016

Gunter Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009

1. Zusammenfassung
2. Positionalitäten
3. Bilder und Folien
4. Sprachspiel und Expressivität
5. Pädagogik und Kybernetik

Wittgenstein vertritt im „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) eine Abbildtheorie der Sprache: sie bildet die äußere Welt ab, und zwar nur die äußere Welt. Die Vorstellung, daß die Sprache auch eine innere Welt abbilden könnte, hält Wittgenstein für widersinnig, und er führt das Privatsprachen-Argument gegen diese Vorstellung an. (Vgl. Gebauer 2009, S.129ff.) Es bedarf immer einer Einigung unter allen Sprechern eines Sprachspiels, daß die Sprache das, worüber sie miteinander sprechen, auf korrekte Weise abbildet. Zu einer Einigung kann es immer nur über äußere, allen Sprechern gleichermaßen zugängliche Gegenstände kommen. Zur Innenwelt hat aber jeder Sprecher nur einen privilegierten Zugang, den er mit niemand anderem teilen kann. Es kann also zu keiner Einigung darüber kommen, ob die verwendeten Wörter den inneren Gegenstand, also den Bewußtseinsgegenstand, korrekt abbilden oder nicht.

Der jeweilige ‚Sprecher‘ kann noch nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er mit sich selbst übereinstimmt, wenn er ein bestimmtes Wort für ein Bewußtseinserlebnis verwendet, denn für einen Vergleich von zu verschiedenen Zeiten erlebten Bewußtseinszuständen und den dabei verwendeten Bezeichnungen verfügt er nur über die Erinnerung; und er kann sich niemals sicher sein, ob er sich richtig erinnert. (Vgl. Gebauer 2009, S.136)

Wörter und Sätze ‚bilden‘ also nur die äußere Wirklichkeit ‚ab‘. Diese ‚Abbildung‘ unterscheidet sich erheblich von dem Bildbegriff, wie ich ihn immer in diesem Blog verwende. Wörter und Sätze bilden bei Wittgenstein keine ‚Metaphern‘, jedenfalls nicht im Blumenbergschen Sinne einer Theorie der Unbegrifflichkeit. (Vgl. meine Posts vom 06.09.-10.09.2011) Wörter und Sätze funktionieren aber auch nicht wie Photographien, die die wirkliche Welt auf phänomenaler Ebene lediglich verdoppeln. Wittgenstein vertritt vielmehr eine strukturalistische Abbildungstheorie, derzufolge die Struktur der wirklichen Welt 1:1 der Struktur, also der Grammatik und Syntax der gesprochenen und geschriebenen Sprache entspricht. (Vgl. Gebauer 2009, S.123)

Wittgenstein vermeidet auf diese Weise die Notwendigkeit, für die abbildende Funktion der Sprache ein subjektives Bewußtsein in Anspruch zu nehmen, für das die Wörter mentale Repräsentationen der äußeren Wirklichkeit bilden:
„Der Bezug zur Wirklichkeit wird nicht durch die repräsentierenden Elemente des Bildes selbst hergestellt, sondern durch ‚die abbildende Beziehung‘ (). Bilder und Welt sind in ihrem Inneren auf identische Weise geformt: ‚In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.‘ ()“ (Gebauer 2009, S.50)
Wörter bilden also Wittgenstein zufolge keine mentalen Repräsentationen der äußeren Welt – denn dazu bräuchte es ein Bewußtsein –, sondern sie selbst bilden eine objektive Struktur, die der objektiven Struktur der äußeren Welt entspricht, und zwar der äußeren Welt in zweierlei Gestalt: zum einen die Welt als physischer Prozeß, zum anderen die Welt als menschliches Verhalten. Denn beides basiert wiederum auf objektiven Strukturen. So können wir z.B. auch das Denken statt als einen unzugänglichen mentalen Akt als ein beobachtbares Verhalten wie etwa in Form von Gesten und Gebärden verstehen. Gesten und Gebärden bringen deshalb unsere Gedanken und Gefühle weniger zum Ausdruck, als daß sie diese vielmehr sind, und ihre Struktur entspricht, so wie die Struktur physikalischer Prozesse, der Struktur der gesprochenen Sprache. (Vgl. Gebauer 2009, S.78)

So kann dann die Struktur des Satzes gleichermaßen die Struktur von Gedankenbewegungen wie die Struktur von physikalischen Ereignissen widerspiegeln. Wittgenstein bestimmt das Verhältnis dieser wechselseitigen Spiegelungen als „Projektion“:
„Wenn ein Gedanke in einen Satz projiziert wird, ‚drückt sich‘ der Gedanke im Satz ‚sinnlich wahrnehmbar aus‘ (). Der Sinn des Gedankens wird ‚in den Satz hineingedacht‘.() Ein Satz wird also dadurch zu einem Bild, daß ein Gedanke seinen Sinn auf das sinnliche Gebilde des Satzes überträgt. ... Der Sinn wird von den geistigen oder Denkelementen in die Zeichen und von diesen in empirische Objekte projiziert.“ (Gebauer 2009, S.51)
Und diese Projektionsrichtung, vom Subjekt in den Satz in die empirische Wirklichkeit, funktioniert auch umgekehrt: von der Wirklichkeit in den Satz in das Subjekt. (Vgl. Gebauer 2009, S.52)

In gewisser Weise kann man sich diesen ganzen Vorgang der Projektion von ‚innerem‘ Sinn bzw. von Gesten und Gebärden und von ‚äußerer‘ Welt ‚auf‘ bzw. ‚in‘ einen Satz wie bei einem Photokopierer vorstellen. Allerdings trifft dieser Vergleich nicht den strukturellen Aspekt der von Wittgenstein gemeinten ‚Abbildung‘. Gebauer selbst vergleicht diese Abbildung mit einer Art ‚Folie‘, wie etwa bei einer Blaupause. Die Sprache ‚kopiert‘ mit ihren Wörtern und Sätzen gewissermaßen die „Folie“, die den „absichtsvollen Handlungen, Reaktionen, Gesten und Gebärden“ eines Sprecher-Ichs „unterlegt ist“. (Vgl. Gebauer 2009, S.99) Im heutigen Computerjargon könnte man auch statt von einer Folie von einer Graphikkarte sprechen, die die Rechenprozesse eines Computers in für unsere Augen sichtbare ‚Bilder‘ auf einem Monitor umwandelt.

Apropos ‚Karte‘: Julian Jaynes, der ebenfalls sprachanalytisch argumentiert, spricht in diesem Zusammenhang von einer Landkarte, auf der die verschiedenen Markierungen 1:1 den örtlichen Gegebenheiten einer Landschaft entsprechen. Jaynes bezeichnet diese strukturelle Entsprechung übrigens als ‚metaphorisch‘. (Vgl. meinen Post vom 03.06.2015) Die ‚Landkarte‘ verdeutlicht sehr schön den Projektionscharakter der Bedeutungsübertragung. Jaynes’ Begriff der Metapher entspricht allerdings genausowenig wie Wittgensteins Begriff des Bildes dem Gebrauch, den ich in diesem Blog von diesen Begriffen mache.

Was von der einen Folie auf die andere ‚projeziert‘ bzw. kopiert wird, sind, wie schon erwähnt, nicht die phänomenalen Elemente eines Bildes, aber auch nicht die Markierungen einer Karte, sondern die auf dieser Folie ‚eingetragenen‘ Regeln. (Vgl. Gebauer 2009, S.101) Wittgenstein geht, so Gebauer, von einer „Homomorphie zwischen dem Subjekt und den formelhaften Strukturen der Welt“ aus (vgl. Gebauer 2009, S.74), und die Sprache bildet eine gemeinsame Projektionsfläche bzw. Folie zwischen diesen beiden Polen, vergleichbar mit einem Interface wie etwa einem Flachbildschirm, der die reale Welt ja auch nicht phänomenal abbildet, sondern errechnet. So beschreibt Gebauer auch alle mentalen Akte als „formelhafte Struktur(en)“, die mit den Strukturen der Welt und der Sprache übereinstimmen: „... sie sind in objektiven Tatbeständen gegeben.“ (Gebauer 2009, S.61)

Diese ganze technische Abbildung-Projektionstheorie von Sprache läuft auf die Vorstellung von sprachlichen Bildern als Algorithmen hinaus, die psycho-soziale und physikalische Prozesse auf eine ein-eindeutige Weise korrelieren bzw. miteinander verrechnen. Der Unterschied zu einer Metapherntheorie von Sprache wird gerade am Folienbeispiel besonders deutlich. Auch Michael Tomasello verwendet das Folienbeispiel, um zu beschreiben, wie Schimpansen bestimmte Situationen unter verschiedenen Aspekten wahrnehmen. (Vgl. meinen Post vom 30.10.2014) Dabei überlagern sich die verschiedenen Aspekte (Folien) einer Situation und ermöglichen dem Schimpansen gewissermaßen im ‚Durchblick‘ durch diese Folien seinen Verhaltensspielraum angesichts eines Bananenbaums zu bewerten und eine Entscheidung zu fällen.

Im Unterschied dazu bildet die Folie, von der Gebauer spricht, immer nur ein und dieselbe Struktur ab, wie eine Blaupause. Sie transportiert keine Möglichkeiten, sondern ist auf eine einzelne isolierte Perspektive fixiert. Diese Folie entspricht der Empfindung, die in einem von Gebauer zitierten Satz von Wittgenstein aus den „Philosophischen Untersuchungen“ zum Ausdruck kommt: „Ein Bild hielt uns gefangen.“ (Zitiert nach Gebauer 2009, S.219) – Um sich aus diesem Bild befreien zu können, bedarf es eines Bewußtseins, das in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte eines Bildes zu fokussieren und vor dem gleichbleibenden Bildhintergrund variabel zu halten. In dem Moment, wo sich dieser Wahrnehmungsprozeß in einer Struktur fixiert, nimmt uns das Bild gefangen. Die sich überlagernden Folien, von denen Tomasello spricht, werden zur unterlegten Folie für das „eng begrenzte und hochspezifische Repertoire“ (Gebauer 2009, S.95f.) eines Sprachspielmechanismusses.

Gefangen im Bild. Gefangen im Fliegenglas. Angesichts dieser Situation ist es tatsächlich ein gewaltiger Schritt in Richtung auf einen neuen Verhaltensspielraum, als Wittgenstein in den „Philosophen Untersuchungen“ von der Folie zum Kippbild wechselt. In Gebauers Buch steht dafür vor allem der „Hasen-Enten-Kopf“, der aus einer Perspektive als nach links gerichtetes Profil eines Entenkopfes, und aus einer anderen Perspektive als nach rechts oben gerichtetes Profil eines Hasenkopfes wahrgenommen werden kann. (Vgl. Gebauer 2009, S.211) Wittgenstein bezeichnet diese beiden Versionen des H-E-Kopfes als „Aspekte“, und die Fähigkeit, von einem Aspekt zum anderen zu wechseln, bezeichnet er als „Aspektsehen“.

Zunächst ist es aber doch eher verwunderlich, warum Wittgenstein dem Aspektsehen so eine enorme Bedeutung verleiht. Zwar fügt es der Eindimensionalität des Folienbildes eine weitere Perspektive hinzu, so daß der Betrachter des Kippbildes nun zwischen zwei Perspektiven bzw. ‚Aspekten‘ wechseln kann. Gebauer geht sogar so weit, im Aspektsehen schon das volle Potential eines schöpferischen Subjekts am Werk zu sehen. (Vgl. Gebauer 2009, S.213) Aber tatsächlich haben wir es hier immer noch mit einer sehr eingeschränkten Freiheit zu tun, die sich letztlich auf eine Augenbewegung begrenzt. Die ganze Freiheit des angeblich so schöpferischen Subjekts besteht lediglich darin, einen Reflex auszulösen.

Denn um mehr als um einen Reflex handelt es sich beim Aspektsehen nicht.  Gebauer selbst weist auf dieses Charakteristikum des Aspektsehens hin:
„Die besondere Eigenschaft des H-E-Kopfs besteht darin, daß der Betrachter bei jedem der beiden Bilder eine Ganzheit sieht: einmal den Kopf eines Hasens, dann den Kopf einer Ente. In Begriffen der idealistischen Philosophie ausgedrückt bildet jedes der beiden Bilder eine Totalität, und zwar genau dort, wo vorher eine je andere Totalität erschienen ist.“ (Gebauer 2009, S.235)
Jedes der beiden Aspekte des H-E-Kopfes bildet eine Ganzheit für sich selbst. Sie überlagern sich nicht wie in Tomasellos Folienstapel. Vielmehr schließen sie sich gegenseitig aus. Ich kann immer nur entweder den Hasen oder die Ente sehen, nicht beides zugleich und in ihrer Zusammenschau etwas Neues, wie z.B. einen Hasen-Enten-Hybrid, einen phantastischen neuen Mitbürger aus Entenhausen. Genau das wäre der eigentliche kreative Akt, den uns aber das ständige Umkippen vom einen Aspekt zum anderen und zurück verweigert.

Zwar spricht auch Gebauer davon, daß das zweite Bild das erste Bild „überlagert“. (Vgl. Gebauer 2009, S.225) Aber das ist ein verdeckendes Überlagern. Die beiden Bilder sind nicht, wie in Tomasellos Folienstapel, aufeinander hin transparent.

Verständlich wird Wittgensteins neue Begeisterung für das Aspektsehen nur, wenn man seine Biographie in Betracht zieht. (Vgl. Gebauer 2009, S.217f.) Gebauer verweist auf eine frühe Sprachstörung: Der junge Wittgenstein hatte oft Schwierigkeiten, in einem Gespräch das richtige Wort zu finden. Er wußte genau, was er meinte, aber es fiel ihm das passende Wort dazu nicht ein. Es war gewissermaßen so, als könne er nur die eine Seite des Wortes sehen, seine Bedeutung, aber es fiel ihm die andere Seite des Wortes, das sprachliche Zeichen dazu, nicht ein. In den „Philosophischen Untersuchungen“ bezeichnet Wittgenstein die Unfähigkeit, von einem Aspekt zum anderen Aspekt zu wechseln, als ‚Aspektblindheit‘. (Vgl. Gebauer 2009, S.216) In gewisser Weise litt also auch der junge Wittgenstein zur Zeit seiner Sprachstörung unter Aspektblindheit. Das Gefangensein in einem Bild, das Fehlen eines Wortes, beides bedeutet für Wittgenstein Aspektblindheit.

Aber auch mit dem Aspektsehen bleibt das Bewußtsein für Wittgenstein eine Tabuzone, über die nicht gesprochen werden darf. Mit den Worten Gebauers:
„Blind bin ich in meiner Innensicht, wenn ich hier den Grund meines regelhaften Handelns suche. Öffentlichkeit und sinnliche Anschauung sind die Prinzipien, auf die es beim regelgemäßen Handeln ankommt. Mehr ist über das, was im Subjekt beim Regelfolgen geschieht, nicht zu sagen.“ (Gebauer 2009, S.137)
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2 Kommentare:

  1. Das Subjektive ist ein jeweiliger Ausschnitt und je nachdem, wie sich mir meine eigene Subjektivität zeigt, könnte ich meinen, dass es nicht viel bringt, auf dieser Subjektivität herum zu reiten. Wittgenstein schaut auf den Effekt, wobei er vom großen Ganzen ausgeht. Oder besser, welchen Effekt es haben sollte. Nachdem man alle Irrungen und Wirrungen hinter sich gelassen hat. Hätte er eine Philosophie auf dem Hintergrund eines provinziellen Dorfes erstellt, sähe die Sache wohl anders aus. Zuviel eigene Subjektivität von Wittgenstein, die er da hat einfliessen lassen.

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    1. Tatsächlich war Wittgenstein Gebauer zufolge schon immer viel subjektiver als seine Texte es vermuten lassen. So ist z.B. der Tractatus trotz seiner logischen Struktur mit seiner Paragraphengliederung viel weniger systematisch-objektiv, als es den Eindruck erweckt. Das ist alles nur Mache. Aber diese Mache hat eben die Linguistik des 20. Jhdts. enorm beeinflußt.

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