„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. März 2016

Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015

1. Phänomenologie und Zeit
2. Räumliche und zeitliche Grenzen
3. Zeiterleben als Apperzeption
4. Die ‚Zeit‘ der Gestaltwahrnehmung
5. Der kurze Weg der Technik

Rüdiger Safranski wendet sich gegen die Vorstellung, daß die Zeit aus Zeitpunkten zusammengesetzt sein könnte, im Sinne einer linearen Strecke, in der ein aktueller, ausdehnungsloser Jetzt-Punkt zahllose vergangene Jetzt-Punkte hinter sich zurückläßt: „Man sollte nicht vergessen, dass ein Denken, das nur mit Zeitpunkten rechnet, die Zeit als erfahrbares Kontinuum der Dauer vollständig verfehlen muss. So wie die Linie nicht die Summe der Punkte ist, ganz einfach, weil ein Punkt ausdehnungslos ist und man aus Ausdehnungslosem niemals zur Ausdehnung gelangt, ebenso wenig ist das Kontinuum der Zeit die Summe von Zeitpunkten, ganz einfach, weil ein Zeitpunkt ohne Dauer ist und man noch so viele Zeitpunkte zusammenrechnen kann und doch keine Dauer bekommt.“ (Safranski 2015, S.138)

Damit die Zeit zu fließen beginnen kann, bedarf es an den „Rändern“ des Gegenwartserlebens eines Vergangenheits- und eines Zukunftsbezugs. Die Gegenwart sollte deshalb eine Dauer von mindestens drei Sekunden umfassen, wie Safranski mit Bezug auf den Hirnforscher Ernst Pöppel festhält. (Vgl. Safranski 2015, S.137) Allerdings berücksichtigt Safranski an dieser Stelle nicht, daß auch Drei-Sekunden-Intervalle immer noch ein digitales Muster und kein Kontinuum bilden. Der Unterschied zu einem ausdehnungslosen Punkt ist hier nicht relevant.  „Protention“ und „Retention“ (Husserl; vgl. Safranski S,137) greifen weiter aus als bis zur nächsten und zur gerade vergangenen Sekunde. Wir haben es beim Zeiterleben vielmehr mit einer komplexen Gestaltwahrnehmung zu tun. Die Wahrnehmung besteht nicht im Nacheinander von Gestaltaspekten, sondern in der Gleichzeitigkeit der Erfassung ihrer Gesamtwirklichkeit.

Zwar können wir inzwischen die verworrenen Blickmuster beim Erfassen eines Bildes mit technologischen Mitteln erfassen und analysieren. Das bedeutet aber nicht, daß wir ein Bild, einen Gegenstand, eine Situation in voneinander unterscheidbaren Zeitabschnitten ‚erleben‘. Ein Haus, das wir sehen, sehen wir nicht erst dann vollständig, wenn wir einmal um dieses Haus herumgegangen sind und auch seine Rückseite in Augenschein genommen haben. Wir sehen räumliche Gegenstände immer als Ganzes, indem wir uns ihre Rückseiten hinzudenken. Wir erleben die Gegenwart eines Hauses als Ganzes und nicht als aus verschiedenen Vergangenheitswahrnehmungen zusammengesetzt.

So erfassen wir auch ein Gemälde mit einem Blick als Ganzes. Das hindert uns nicht daran, es im Anschluß, mit hin und her springenden Blicken, in seinen verschiedenen Details zu fokussieren und zu analysieren. Der erste Blick kann oft schon mehr erfassen, als uns in diesem Moment bewußt wird und was wir dann erst nach und nach ins Bewußtsein heben.

Diese eben beschriebene Gestaltwahrnehmung, wie wir sie beim Anblick von Kunstwerken oder beim Hören von Musikstücken erleben, entspricht dem, was Safranski an anderer Stelle als „kleine Ewigkeit“ bezeichnet. (Vgl. Safranski 2015, 229) Damit ist eine Fülle der Gegenwart gemeint, die uns auch noch im Nachhinein lange innerlich zu beschäftigen vermag.

Die Qualität der Gestaltwahrnehmung, um die es hier geht, bringt Safranski mit Verweis auf Augustinus mit dem Beispiel einer Melodie, die wir hören, zum Ausdruck. Allerdings verbleibt er hier noch im Nacheinander des Hörens einzelner Töne: „Eine Tonfolge zum Beispiel kann nur dann als Melodie gehört und erkannt werden, wenn der soeben gehörte Ton in der Erinnerung noch nachklingt, während der nächste ertönt.“ (Vgl. Safranski 2015, S.197f.)

Tatsächlich erfassen wir die Qualität eines Musikstücks nur dann, wenn wir nicht nur ein Paar aufeinander folgende Töne im Gedächtnis behalten. Ein anderes Beispiel erfaßt die Qualität der Gestaltwahrnehmung besser, weil es das Ganze der „kleinen Ewigkeit“ eines Musikerlebnisses hervorhebt: „Es wäre, um noch ein anderes Bild zu verwenden (die Vorstellung kommt hier nur mit Bildern weiter) als würde eine Schallplatte abgespielt. Die Platte wäre die Gesamtwirklichkeit, und die Nadel wäre die Zeit, in der und mit der diese eigentlich zeitlos fertige Wirklichkeit in ein zeitliches Nacheinander auseinandergelegt und hörbar gemacht wird.“ (Safranski 2015, S.174f.)

Es geht bei der Gestaltwahrnehmung immer um diese „Gesamtwirklichkeit“. Und das Erleben dieser Gesamtwirklichkeit geht weit über Pöppels Drei-Sekunden-Intervalle hinaus. Die Gegenwart eines Musikstücks reicht weiter als drei Sekunden.

Wie sehr unser Gegenwartserleben von solchen Gesamteindrücken abhängig ist, zeigt Safranski sehr schön an den modernen Speichermedien, zu denen auch die Schallplatte gehört. In einer Zeit, wo es solche Speichermedien noch nicht gegeben hatte, gingen die Menschen zu einer Musikaufführung mit dem Bewußtsein, daß sie hier an etwas teilnehmen würden, das einmalig war und nie so wiederholt werden würde: „Wir werden einem Musikereignis, dieser hörbar gemachten Zeit, wohl nie mehr so lauschen können wie Menschen in früherer Zeit, die damit rechnen mussten, dass sie an einem einmaligen, unwiederholbaren Ereignis teilnahmen.“ (Safranski 2015, S.104)

Das Gegenwartserleben ist also niemals einfach aus Drei-Sekunden-Intervallen zusammengesetzt, sondern in historische Kontexte eingebunden, die seine Qualität individuell modifizieren. Bei Kunstwerken kommt hinzu, daß sie einen eigenen Kontext kreieren, der das Erleben von Zeit noch einmal spezifisch verändert. Safranski entwickelt eine am subjektiven Zeiterleben orientierte Typologie literarischer Formen. (Vgl. Safranski 2015, S.207ff.) Der Grundgedanke dabei ist, daß wir beim Hören oder Lesen einer Geschichte nicht mehr dem Zeitpfeil unterworfen sind, der unerbittlich auf das Lebensende gerichtet ist: „Etwas erzählen können, erweist sich als ein elementarer Akt der Emanzipation, weil man mit der Zeit, der man sonst unterworfen ist, sein eigenes Spiel treiben kann.“ (Safranski 2015, S.204)

Weil wir uns also in unseren Geschichten von der Zeit emanzipieren, hat der Tod, für die Dauer einer Geschichte, für uns seinen Stachel verloren: „Darum auch wird so häufig vom Tod erzählt, weil man ihn im Erzählen überleben kann.“ (Safranski 2015, S.207)

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