„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 27. März 2016

Düzen Tekkal, Deutschland ist bedroht. Warum wir unsere Werte verteidigen müssen, Berlin 2016

(Berlin Verlag, 16.99 €, Klappbroschur, 224 S.)

1. Wo stehst du?
2. Lügenpresse
3. Alternativlosigkeiten
4. Wir und Ihr
5. Werte

Das Wort ‚Lügenpresse‘ ist die für alle Welt sichtbarste Form der Gesprächsverweigerung. Die Haltung, die hinter diesem Vorwurf steckt, beschreibt Düzen Tekkal als Unfähigkeit, mit Ambivalenzen in der Berichterstattung umzugehen und sie auszuhalten. (Vgl. Tekkal 2016, S.141f.) Wenn die veröffentlichten Informationen und Meinungen dem eigenen Weltbild und den eigenen Erfahrungen nicht entsprechen, ist es allemal leichter, die Schuld der Presse und ihrer Berichterstattung zu geben, als sich selbst zu hinterfragen. Tekkal schreibt, wie sie sich vor allem über positive Rückmeldungen aus jenen Bevölkerungsteilen freut, die in ihren Reportagen nicht so gut wegkommen: „Das war für mich das größte Kompliment. Ich wollte keinen Beifall á la ‚endlich sagt’s mal jemand!‘“ (Tekkal 2016, S.142)

Natürlich ist es richtig, daß die Medien manipulativ sind. Aber das ist Sprache generell. Das liegt in ihrer expressiven Natur. Sie vermittelt niemals nur Informationen, sondern immer auch Gefühle. Je nach dem, ob wir sagen: „Der und der droht mit einem Embargo!“ oder „Der und der warnt vor einem Embargo!“, wird dieselbe Information auf völlig unterschiedliche Weise präsentiert. Das ist in unseren alltäglichen Gesprächen so, wenn wir unsere Sympathien und Antipathien oft genug unbewußt in unserer Wortwahl zum Ausdruck bringen, und das ist selbstverständlich auch in den Medien so. Aber es ist einfach zu billig, pauschal den Medien vorzuwerfen, daß sie ‚lügen‘ und manipulieren. Es ist auch immer unser eigener Anteil dabei, wenn wir uns allzu bereitwillig belügen und manipulieren lassen. Der einzige Unterschied ist dann der, daß wir uns unsere Lügner, von denen wir uns manipulieren lassen, selber aussuchen und Hurra! schreien, wenn sie ihre Parolen verbreiten.

Düzen Tekkal hat ein feines Gespür für die Art und Weise, wie wir uns alltäglich gegenseitig verbal hintergehen. Wenn ihr ein Kollege beim RTL vorwirft, daß sie nicht Position bezieht, sondern ‚herumeiert‘, kontert sie selbstbewußt: „Das nennt man differenzieren.“ Und wenn sie aufgefordert wird, ihre allzu differenzierten Reportagen zu ‚verdichten‘, entgegnet sie: „Du willst doch nur, dass ich polarisiere.“ (Vgl. Tekkal 2016, S.143)

Die Sprache ist ein zweischneidiges Schwert. Alle Worte, die wir benutzen, sind doppeldeutig und lassen Nebenbedeutungen mitschwingen, die weder wir alle in unserem Lebensalltag noch die Journalisten in ihrer beruflichen Praxis immer im Griff haben. Die sogenannten Freudschen Versprecher sind ein Beispiel für eine Sprache, die uns spricht, anstatt wir sie. Düzen Tekkal ist sich dessen sehr bewußt und bezeichnet die Sprache als eine Waffe (vgl. Tekkal 2016, S.127), und sie hat ihr Leben lang daran gearbeitet, sie zu ihrer Waffe zu machen: „Wenn du sprichst, dann ist das, als ob du ein Messer nimmst und immer wieder reinstichst“, – wirft die Mutter ihr nach einer Auseinandersetzung vor. (Vgl. Tekkal 2016, S.132)

Um so bemerkenswerter ist es, daß Düzen Tekkal als Journalistin ihre sprachlichen Fähigkeiten in den Dienst derer stellt, die keine Stimme haben. In ihren Reportagen läßt sie die Lebensgeschichten von Menschen zu Wort kommen, und sie verspricht Jugendlichen, deren Leben schon gescheitert ist, bevor es beginnen konnte, den „Schmerz“ ihres „Ausgeschlossenseins“ zu „transportieren“. Sie bittet um ihr Vertrauen und verspricht: „Ihr werde es nicht bereuen.“ (Vgl. Tekkal 2016, S.152)

Vielleicht ist das der Unterschied. Tekkal handelt als Journalistin nicht einfach mit Informationen, die immer wahr oder falsch sein können, ohne daß es für die Information selbst irgendeinen Unterschied machen würde. Bei solchen Informationen kommt es vor allem auf die Verpackung an, und nicht auf ihren Sachgehalt. Dieselben Informationen sind für Propagandisten der unterschiedlichsten Couleur gleichermaßen ‚nützlich‘, weil sie nichts beweisen und keine Tatsachen belegen. ‚Gelogen‘ wird hier nicht, indem Tatsachen geleugnet werden, sondern indem sie einfach nur, je nach Gusto, mit einem günstigeren oder ungünstigeren Licht beleuchtet werden.

Tekkal berichtet keine Tatsachen in diesem simplen Sinne. Sie läßt nur die Verzweiflung und die Angst der Menschen, von denen sie berichtet, zu Wort kommen. Sie läßt die Sprache wieder expressiv sein. Während ihres Aufenthaltes im Nordirak hat sie diese „Angst in den Gesichtern“ jesidischer Frauen und Männer gesehen und seitdem weiß sie, wie der Krieg riecht: „... eine Mischung aus süßem Tee und Angstschweiß.“ (Vgl. Tekkal 2016, S.25)

Wer so mit offenen Sinnen auf die Menschen zugeht und sich von ihrem Schmerz berühren läßt (vgl. Tekkal 2016, S.150), darf sich wirklich Journalist nennen. Und er hat ein Recht darauf, als solcher respektiert zu werden, und zwar im wohlverstandenen Interesse aller: „Wenn Journalisten verbal verunglimpft und körperlich attackiert werden, ist die Meinungsfreiheit bedroht. Dann ist Deutschland auch als demokratisches, pluralistisches Land bedroht.“ (Tekkal 2016, S.218)

Da nimmt sich ein Berufsstand nicht einfach etwas heraus. Wer seine eigene Meinung nicht riskieren will, indem er sich aus Respekt vor der Meinung Anderer einer Debatte stellt, hat den Bürgerkrieg schon begonnen. Es ist dann nur noch ein Ausdruck der eigenen Feigheit, der ‚Lügenpresse‘ die Schuld zu geben.

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