„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 12. Oktober 2015

Frans de Waal, Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote, Stuttgart 2015 (2013)

(Klett-Cotta, 365 S., gebunden, 24,95 €)

1. Methode I
2. Methode II
3. Monopole
4. Emotion und Kognition
5. Empathie und Altruismus
6. Gut, Böse und die Natur des Menschen
7. Moralität
8. Sex

Frans de Waal bezeichnet sein moralphilosophisches Konzept als „Bottom-up-Moralität“. (Vgl. de Waal 2015, S.299ff.) Er unterscheidet davon den Top-down-Ansatz, bei dem die Moral von außen kommt bzw. von oben herab verordnet wird, z.B. von einem göttlichen Gesetzgeber: „Die Vorstellung von Moralität als eine Reihe von unumstößlichen Prinzipien oder Gesetzen, die wir selbst entdecken müssen, geht im Endeffekt auf die Religion zurück.“ (De Waal 2015, S.38) – So brachte Moses von seiner Begegnung mit Gott auf dem Berg Sinai dem unten in der Ebene wartenden Volk Israel die Zehn Gebote. (Vgl. u.a. de Waal 2015, S.244)

In diesem Sinne sind alle moralischen Gesetze und Gebote, die auf reiner Erkenntnis beruhen – de Waal wendet sich an dieser Stelle dezidiert gegen Immanuel Kants Konzept von der reinen Vernunft (vgl. de Waal 2015, S.232) – Top-down-Verordnungen, die bestenfalls „nette Post-hoc-Zusammenfassungen davon“ sind, „was wir für moralisch halten“. (Vgl. de Waal 2015, S.321) Letztlich ist die Moral dem Menschen nämlich nichts Äußerliches, sondern sie bildet einen festen Bestandteil seiner biologischen Natur. Alle die Top-down-Verordnungen moralischer Normen, hätten keine Chance auf Realisierung, wenn die Menschen nicht schon von sich aus geneigt wären, sich entsprechend zu verhalten: „Würde es beispielsweise Sinn machen, die Menschen zu gegenseitiger Rücksichtnahme zu verdonnern, wenn sie nicht ohnehin eine natürliche Neigung dazu hätten? Stellen Sie sich die kognitive Belastung vor, wenn wir jede unserer Entscheidungen erst auf eine tradierte Logik hin überprüfen müssten. ... Moralische Empfindungen und Intuitionen gehören zu unserer Grundausstattungen und genau an diesem Punkt ist die Kontinuität mit anderen Primaten am größten.“ (De Wal 2015, S.30f.)

Mit ‚Bottom-up‘ ist also gemeint, daß die biologische Natur des Menschen, die er mit den Menschenaffen gemeinsam hat, einer gesellschaftlichen Moralität zuarbeitet. Schon die biologische Natur aller Lebewesen verfolgt bestimmte Ziele, geht also über das bloße Hier-und-Jetzt einer akuten Bedürfnisbefriedigung hinaus: „Werte gründen sich darauf, wie wir sind. Es wird manchmal behauptet, die Biologie stünde voll und ganz auf der ‚Ist‘-Seite der moralischen Gleichung, aber jeder Organismus, den sie beschreibt, verfolgt auch Ziele.“ (De Waal 2015, S.222)

Aus den Notwendigkeiten der Fortpflanzung und des Überlebens heraus entwickelte sich auf der Entwicklungslinie des Menschen die Fähigkeit, „sich in andere hineinzuversetzen“, „Kompromisse“ zu schließen und auf andere „Rücksicht“ zu nehmen. (Vgl. De Waal 2015, S.222) Alles das ergibt sich de Waal zufolge allein schon daraus, daß wir „Wesen aus Fleisch und Blut“ sind, und aus den damit verbundenen Bedürfnissen nach „Nahrung“, „Sex“ und „Sicherheit“. (Vgl. de Waal 2015, S.232) Deshalb, so de Waal, sei Kants Konzept der reinen Vernunft „reine Fiktion“. (Vgl. ebenda)

Ein wichtiges Argument für de Waals Bottom-up-Ansatz sind die vielen moral-analogen Verhaltensweisen von Bonobos und Schimpansen, mit denen der Mensch am nächsten verwandt ist. Alle drei Menschenaffen sind aus einem gemeinsamen Vorfahren vor ca. sechs Millionen Jahren hervorgegangen, und die Menschen haben sich seitdem getrennt von Schimpansen und Bonobos entwickelt. Die Bonobos haben sich erst später aus einem letzten gemeinsamen Vorfahren von der Schimpansenentwicklungslinie getrennt. Sie bilden eine eigene Menschenaffenart. (Vgl. de Waal 2015, S.84f.) Mit beiden Menschenaffenarten hat der Mensch gemeinsame Gene, auf der einen Seite mit den Schimpansen, die den Bonobos fehlen, und auf der anderen Seite mit den Bonobos, die den Schimpansen fehlen, und die auf den erwähnten gemeinsamen Vorfahren aller drei Menschenaffenarten zurückverweisen: „Die Entschlüsselung des Bonobo-Genoms im Jahr 2012 hat bestätigt, dass wir Menschen bestimmte Gene mit den Bonobos gemein haben, die wir nicht mit den Schimpansen teilen. Umgekehrt gibt es aber Gene, die wir mit den Schimpansen teilen, nicht aber mit den Bonobos.()“ (De Waal 2015, S.115)

Für de Waal ist es dabei wichtig, zu wissen, ob nun die Schimpansen oder die Bonobos unserem gemeinsamen Vorfahren mehr ähneln und welche der beiden Menschenaffenarten die größere Abweichung zu diesem Vorfahren bildet. Schimpansen sind nämlich viel aggressiver und konkurrenzorientierter als die Bonobos, und umgekehrt die Bonobos viel kooperativer und friedlicher als die Schimpansen: „Ich schätze die Bonobos, gerade weil sie sich von den Schimpansen unterscheiden und unser Verständnis der menschlichen Evolution dadurch bereichern. Sie zeigen, dass unsere Entwicklungsgeschichte nicht nur durch männliche Dominanz und Xenophobie geprägt ist, sondern auch durch ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis und Einfühlungsvermögen.“ (De Waal 2015, S.24)

Möglicherweise – so de Waals hoffnungsvolle Vermutung – bilden die Schimpansen nur einen „gewaltvolle(n) Ausreißer aus einer ansonsten friedlichen Abstammungslinie“. (Vgl. de Waal 2015, S.89)

Aber unabhängig von der offenbleibenden Frage nach der genauen Abstammungslinie läßt de Waal keinen Zweifel daran, daß wir bei beiden Menschenaffenarten dieselben moral-analogen Emotionen finden wie bei uns selbst. Dazu gehören die Anerkennung von Besitz – wenn sich ein rangniedrigerer Schimpansen als erster Futter angeeignet hat, muß selbst ein Schimpansenalpha um eine milde Gabe betteln (vgl. de Waal 2015, S.175, 219) –, Dankbarkeit – verbunden mit einem gelegentlich Jahrzehnte überdauernden Gedächtnis (vgl. de Waal 2015, S.174) –, Gerechtigkeit – Ungleichbehandlung wird abgelehnt, auch wenn man selbst davon profitiert (vgl. de Waal 2015, S.312f.) –, und ältere Schimpansen oder Schimpansinnen treten immer wieder uneigennützig als Streitschlichter auf und bevorzugen dabei nicht einmal enge Freunde oder Verwandte. (Vgl. de Waal 2015, S.67)

Alle diese Beispiele sprechen tatsächlich dafür, daß es viele evolutionsgeschichtlich alte Emotionsbestände gibt, die moralischen Verhaltensweisen zuträglich sind. Für de Waals Bottom-up-Ansatz spricht also einiges. Aber er selbst wirft dann die wichtige Frage auf, ob der biologische Ist-Zustand, auch wenn er schon von sich aus Zielzustände beinhaltet, nämlich in Form der Befriedigung von biologischen Bedürfnissen, in gerader Linie, ohne Umwege, in ein moralisches Sollen übergeht: „Das Faszinierende am Sozialkodex ist, dass er Vorschriften macht. Der Kodex ist äußerst wirkmächtig, nicht nur, was die Art und Weise betrifft, wie Tiere sich verhalten, sondern auch, wie sie sich verhalten sollen. Am Ende läuft alles auf die Dichotomie von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ hinaus.“ (De Waal 2015, S.220)

An dieser Stelle verläßt de Waal die Ebene der rein biologischen Argumentation und beginnt eine im engeren Sinne moral-philosophische Diskussion. Er wendet sich mit David Hume gegen eine bloße „Deduktion von Fakten auf Werturteile“. Werturteile lassen sich nicht mit Fakten, sondern nur mit Gründen legitimieren. (Vgl. de Waal 2015, S.220f.) Andererseits aber, so de Waal, dürfe man die „Kluft zwischen ‚Sein‘ und ‚Sollen‘“ auch nicht übertreiben. (Vgl. de Waal 2015, S.221) Das ‚Sollen‘, also die moralischen Werte haben nunmal einen biologischen Hintergrund. Sonst könnten sie unser Handeln überhaupt nicht motivieren. Jemand, der die Kluft zwischen Sein und Sollen übertrieb, war nach de Waals Überzeugung Immanuel Kant: „Er (Kant – DZ) maß der menschlichen Freundlichkeit ungefähr den gleichen Stellenwert bei wie Dick Cheney dem Energiesparen.“ (Vgl. de Waal 2015, S.223)

In der Folge setzt sich de Waal dann zwar nicht direkt mit Kant selbst auseinander, sondern mit der goldenen Regel, aber dennoch kann man diesen Teil seiner Argumentation auch auf Kants Moraphilosophie beziehen. Letztlich bilden dessen kategorischen Imperative nur alternative Formeln zur goldenen Regel. De Waal hält fest:
„So sehr ich den Klang und den Sinn der Goldenen Regel schätze – ‚Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu‘ – so birgt sie doch eine fatale Schwachstelle. Im Umkehrschluss geht sie nämlich davon aus, dass alle Menschen das Gleiche wollen. Um ein plumpes Beispiel zu nennen: Wenn ich bei einer Konferenz einer attraktiven Frau, die ich kaum kenne, auf ihr Hotelzimmer folge und unaufgefordert in ihr Bett springe, kann ich mit ziemlicher Sicherheit voraussagen, wie sie reagiert. Wenn ich ihr dann erkläre, dass ich doch nur das tue, was ich mir umgekehrt von ihr wünschen würde, so würde mein Appell an die Goldene Regel vermutlich nicht fruchten.“ (De Waal 2015, S.245)
Anders als de Waal meint, geht die Goldene Regel keineswegs davon aus, daß alle Menschen das Gleiche wollen. Tatsächlich haben wir es mit einer Negativ-Formulierung zu tun: was Du nicht willst ... – Es wird in der Goldenen Regel nicht von einem gemeinsamen Wollen ausgegangen, sondern von einer Differenz im Wollen! Jemand will etwas Bestimmtes von mir oder mit mir, aber ich will genau das nicht. Ein bestimmtes, situationsgebundenes Wollen wird abgelehnt. Es geht nicht um ein formal gleiches, sondern um ein inhaltlich verschiedenes Wollen. Und die Goldene Regel erwartet von mir, daß ich diese Andersartigkeit des Wollens auch bei allen Anderen respektiere.

Damit sind wir schon mitten drin in der Kantischen Moralphilosophie mit ihren zwei kategorischen Imperativen. Weniger elegant, aber dafür inhaltlich vollständig ausformuliert lautet die Goldene Regel: „Was der Andere nicht will, das ich ihm bzw. mit ihm tun will, soll ich ihm nicht antun, denn auch ich will nicht, daß man so mit mir verfährt.“ – Um diese Aussage der Goldenen Regel sicherzustellen, hat Kant zwei verschiedene, aber zusammengehörige kategorische Imperative aufgestellt. Der eine Imperativ ist abstrakt und situationsunabhängig: Die Maxime meines Handelns soll jederzeit auch als allgemeine Gesetzgebung dienen können. Alles, was ich jetzt tue, muß also jederzeit mit dem moralischen Gesetz übereinstimmen können. Das ist der die Gesellschaft und ihre Zukunft betreffende Teil der Moral.

Zugleich muß aber mein Handeln situationsadäquat sein. Diese Notwendigkeit bringt der andere Imperativ zum Ausdruck: Ich darf niemals andere Menschen nur als Mittel behandeln. Ich muß sie immer zugleich als Selbstzweck anerkennen. Das ist der den gegenwärtigen, konkreten Menschen betreffende Teil der Moral. Was in diesem Sinne jeweils als ‚Mittel‘ unseres gemeinsamen Handelns in einer konkreten Situation in Betracht gezogen werden kann, wie unser jeweiliges Handeln also in der konkreten Situation auszusehen hat, muß immer von Fall zu Fall entschieden werden. Es gibt keine universellen ‚Werte‘ (Mittel), die für alle Situationen gleichermaßen gelten, weil nämlich die Menschen immer schon verschiedene Zwecke verfolgen, ohne selbst dabei zum Mittel gemacht werden zu dürfen. ‚Gut‘ ist unser Wollen, also unser Streben nach Zweckerfüllung, immer dann, wenn wir diese Selbstzweckhaftigkeit unserer Mitmenschen in jeder besonderen, konkreten Situation berücksichtigen.

Das unterscheidet die menschliche Moralität von der Biologie: der Biologie sind die Mittel gleichgültig; Hauptsache sie erfüllen ihren biologischen Zweck. Beim Menschen hingegen sind Mittel und Zwecke immer über die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen vermittelt. Um nichts anderes geht es in der Goldenen Regel.

Die Kluft zwischen Sein und Sollen ist deshalb gerade im Sinne eines festen Wertekanons unüberbrückbar, denn der Wertekanon – wie auch jede starre Prinzipienlogik, da hat de Waal durchaus recht – setzt seine eigenen materialen Zwecke (bzw. im Sinne einer Prinzipienlogik ihre formalen Prinzipien) an die Stelle der menschlichen Selbstzweckhaftigkeit. Es gibt weder eine Bottom-up- noch eine Top-down-Begründung von Moralität. Es geht vielmehr immer nur um situationsadäquates Handeln, das die gemeinsamen Mittel und Zwecke der beteiligten Menschen immer wieder neu aufeinander zu beziehen und miteinander zu versöhnen versucht. So verstehe ich Kants Moralphilosophie.

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