„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 12. September 2015

Bewußtsein & Gehirn

Immer wieder gibt es dieses elendige Gezerre zwischen Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern, bei dem beide Seiten aneinander vorbeireden, weil sie den fundamentalen methodischen Unterschied zwischen ihren Disziplinbereichen übersehen. (Vgl. meinen Post vom 20.12.2014) Geisteswissenschaftler haben es mit Texten zu tun, die interpretiert werden müssen. Ihr Wahrheitsanspruch beruht immer nur auf Plausibilität. Plausibilität bedeutet aber, daß ein bestimmter hermeneutischer Ansatz niemals auf Dauer als widerlegt angesehen werden kann. In den Naturwissenschaften hingegen gilt das Falsifikationsprinzip: Nur die Theorien können als wahrheitsfähig akzeptiert werden, die auch falsifizierbar sind. Geisteswissenschaftliche Erklärungsansätze sind in diesem Sinne niemals endgültig widerlegbar.

Anstatt aber den Finger auf diesen Knackpunkt zu legen und hier den interdisziplinären Diskurs zu beginnen, geben viele Geisteswissenschaftler schon im Vorfeld des auszutragenden Streites klein bei und akzeptieren den naturwissenschaftlichen Anspruch auf Falsifizierbarkeit. Wenn sie aber dennoch auf dem „humanistischen Kern unserer Lebenswelt“ beharren wollen, wie der Philosoph Nida-Rümelin in einem von der „Frankfurter Rundschau“ veranstalteten Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Wolf Singer, ergibt sich daraus ein unfruchtbares Gezerre, bei dem sich beide letztlich als erstaunlich einig darin zeigen, daß Bewußtseinsprozesse auf neuronale Prozesse zurückzuführen seien. (Vgl. „Gehirnforscher sind doch keine Unmenschen“) Damit gerät aber die Frage, worin sich Bewußtseinsprozesse eigentlich von neuronalen Ereignissen unterscheiden, aus dem Blick.

Beide, Nida-Rümelin und Singer, verknüpfen Bewußtseinsprozesse unmittelbar mit den neuronalen Ereignissen: „JNR: Selbstverständlich äußert sich das Abwägen in neuronalen Prozessen.“ – Das einzige, worin sie sich uneinig sind, ist der kausale Ablauf: Beeinflussen Bewußtseinsprozesse die neuronalen Ereignisse oder beeinflussen neuronale Ereignisse die Bewußtseinprozesse? Dieses Hin und Her ist ermüdend und verwirrend und bringt keinen Schritt weiter.

Das Bewußtsein ist nicht einfach etwas Kausales, mal Ursache, mal Wirkung von neuronalen Ereignissen, je nach dem, welchen Standpunkt wir einnehmen. Und das Gehirn mit allen seinen neuronalen Prozessen bildet kein eins-zu-eins-Korrelat des Bewußtseins. Schon allein die Tatsache, daß viele Bewußtseinsphänomene auf neuronaler Ebene auf multiple Weise realisiert werden (Neuro-Plastizität) spricht gegen eine solche Korrelation. Auch daß Menschen mit Hydrocephalus (Wasserkopf) mit u.U. bloß 5 Prozent Gehirnmasse ein normales Leben führen können, sollte sogar einen knochenharten Naturalisten doch irgendwie nachdenklich machen. (Vgl. meinen Post vom 06.06.2013)

Das Bewußtsein ist also offensichtlich etwas anderes als das Gehirn. An einer Stelle in dem Streitgespräch spricht Singer vom „Organismus“, von der „Gesamtheit von Körper und Nervensystem“. – Das klingt fast schon wie Plessner, ist aber als Aussage leider völlig irrelevant, weil Singer gleich wieder alles auf neuronale Ereignisse reduziert.

Das Bewußtsein ist aber genau dieses Gesamt von Körper und Nervensystem, der Körperleib, weil wir hier nämlich die Grenze bzw. den Hiatus haben, aus der bzw. aus dem das Bewußtsein hervorgeht. Der Mensch scheitert als Körperleib an der Durchsetzung seiner Bedürfnisse, weil die Welt ihm Widerstand leistet. Erst jetzt wird er sich seiner selbst bewußt und positioniert sich exzentrisch zur Welt und zu sich selbst. Das Bewußtsein geht also aus einer Erfahrung hervor und nicht aus spezifischen neuronalen Ereignissen, und vermutlich auch noch nicht mal aus der Totalität neuronaler Ereignisse eines vollständigen Gehirns. Das impliziert, daß es Menschen mit einem vollständigen Gehirn, aber weitgehend ohne Bewußtsein gibt (vgl. meinen Post vom 01.06.2015), wie es andererseits auch möglich ist, ohne vollständiges Gehirn über Bewußtsein zu verfügen.

Wenn wir das Bewußtsein unmittelbar mit den neuronalen Prozessen zusammendenken, gleichgültig in welche Richtung die Kausalität geht, fokussieren wir eine ‚Innenwelt‘, der der Bezug zur Außenwelt fehlt. Die Differenz, aus der das Bewußtsein hervorgeht, wird irrelevant. Mein hauptsächlicher Einwand gegen eine mit Bewußtsein ausgestattete künstliche Intelligenz besteht darin, daß diese künstliche Intelligenz über keinen Körperleib verfügt und deshalb nicht zwischen Innen und Außen unterscheiden kann. Künstliche Intelligenz kann nur Informationen verarbeiten, und Informationen sind immer Informationen, ohne Unterschied, ob sie wahr oder falsch sind und ob sie real oder fiktiv sind. Diesen Unterschied kann nur ein mit subjektivem Bewußtsein ausgestattetes Lebewesen machen.

Ein Gehirn, das von der Außenwelt abgetrennt in einer künstlichen Nährlösung vor sich hinvegetieren würde, wäre kein Gehirn mehr, und es hätte ganz gewiß auch kein Bewußtsein.

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