„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 8. Juni 2015

Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1993 (1976)

(Einführung: Das Problem des Bewußtseins (S.9-30) – Erstes Buch: Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele (S.33-182) – Zweites Buch: Das Beweismaterial der Geschichte (S.185-381) – Drittes Buch: Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt (S.385-546))

5. Bikamerale Kulturen
6. Stimmverlust
7. Hiatus
8. Körperleib

Der Begriff des Körperleibs steht bei Helmuth Plessner für eine neue Verhältnisbestimmung des Gehirns im Organsystem des menschlichen Körpers. Die anatomische Gegenüberstellung des Kopfes gegenüber dem Körper überträgt sich bei der Herausbildung eines individuellen subjektiven Bewußtseins auch auf das Gehirn: es ist nun nicht länger nur Organ unter Organen, sondern bildet jetzt zugleich auch ein Reflexionsmedium des lebendigen Organismusses, ein Bewußtsein ermöglichendes Unterbrechungsorgan des Reflexbogens. (Vgl.u.a. meinen Post vom 11.07.2013)

Auch Jaynes zeichnet auf vergleichbare Weise eine Entwicklung der verschiedenen menschlichen Organsysteme über die Muskulatur, die Lungen, den Blutkreislauf und die Eingeweide zu einem integrierten, einen Bewußtseinsraum eröffnenden Körperleib nach. Die diese Organsysteme bezeichnenden Wörter werden im Laufe der Kulturentwicklung zu Metaphern für subjektives Bewußtsein: „Insgesamt sieben solcher Wörter sind es, die wir hier in Augenschein nehmen wollen: thymos, phrenes, noos und psyche, die allesamt abwechselnd mit ‚(innerer) Sinn‘, ‚Gemüt‘, ‚Seele‘ oder ‚Geist‘ übersetzt werden, sowie kradie, ker, und etor, häufig mit ‚Herz‘ übersetzt und manchmal auch mit ‚Gemüt‘ oder ‚Geist‘.“ (Jaynes 1993, S.314)

Die Grundlage dieser Liste bildet die Ilias. Die Helden der Ilias handeln nicht aus eigenem Bewußtsein, sondern sie sind von den Stimmen der Götter gesteuerte „Marionetten“. Sie besitzen keine Moral, und „Gut und Böse existiert für sie nicht“. (Vgl. Jaynes 1993, S.335) Ihr Handeln wird deshalb in der Ilias ausschließlich anhand der äußerlich beobachtbaren „physiologische(n) Begleiterscheinungen“ (Jaynes 1993, S.316) beschrieben, eben jener Phänomene, auf die sich die genannten sieben Wörter beziehen: „Gefäßveränderungen, die als Hitzewallungen empfunden werden, üble Veränderungen der Atmung, Herzklopfen oder Herzflattern und so weiter – und diese Reaktionen sind es, die in der ‚Ilias‘ als thymos, phrenes oder kradie bezeichnet werden. ... bis ihnen sogar die göttliche Funktion zuwächst und sie sich im phänomenalen Bereich als das alleinige handlungsauslösende Moment darstellen.“ (Jaynes 1993, S.314f.) – Anhand der späteren Literatur, u.a. der Odyssee, kann man dann rekonstruieren, wie diese Organsysteme allmählich „zu einem einheitlichen Seelenraum mit seinem Analogon-‚Ich‘ zusammenwachsen, den wir heute Bewußtsein nennen“. (Vgl. Jaynes 1993, S.330)

Der Thymos steht Jaynes zufolge für motorische Agilität, für die Beweglichkeit des lebendigen Körpers. Solange der Körper sich bewegt, ist er lebendig. Endet diese Beweglichkeit, z.B. durch Tötung in einer Schlacht, ist er auch nicht mehr lebendig. In Erweiterung dieser Beobachtung bezieht sich der Begriff dann auch auf die Blutgefäße und auf die „Skelett- und Herzmuskulator“. Im Zuge der Verwandlung dieses Begriffs zu einer Metapher für Bewußtsein bezeichnet er Eigenschaften wie „Mut und Stärke“, die meist in der Brust lokalisiert werden. So wird auf metaphorischem Wege der Innenraum erzeugt, „in dem wir den Vorläufer unseres zeitgenössischen Bewußtseins vor uns haben.“ (Jaynes 1993, S.320)

Die Phrenes bezeichnen die Lungen. Mit ihnen sind alle möglichen Erregungen verbunden, die sich auf unsere Atmung auswirken. Sie bilden Jaynes zufolge „eine Art seismographische(n) Apparat“, der alles, was wir tun, genau und differenziert registriert“: „Es ist zum mindesten denkbar, daß dieser innere Spiegel des Verhaltens im Reizuniversum der vorbewußten Psyche eine weit beherrschendere Position einnahm, als er es für uns heute tut.“ (Jaynes 1993, S.321)

Die Kradie bezeichnet das Herz. Das Wort leitet sich von dem Verb kroteo (schlagen, klopfen) ab und bedeutete Jaynes zufolge „ursprünglich einfach eine zitternde oder zuckende Bewegung“. (Vgl. Jaynes 1993, S.323) Ähnlich wie die Lungen reagiert das Herz sensibel auf alle möglichen Aspekte unserer Umwelt. Die Bedeutung des Herzens als Synonym für ‚Seele‘ ist wohl für jeden von uns heutigen Menschen unmittelbar gegenwärtig.

Mit Etor werden alle möglichen Bauchgefühle bezeichnet. Es stammt von ‚etron‘ ab, was ‚Bauch‘ bedeutet. Ich frage mich, ob ‚etor‘ ethymologisch mit ‚ethos‘ zusammenhängt? Jaynes zufolge fungiert dieses Organsystem als ein allgemeines „Reizfeld für die Seelentätigkeit“. (Vgl. Jaynes 1993, S.325) Von den damit zusammenhängenden psychischen Erkrankungen leitet Jaynes auch den Begriff der Psychosomatik ab, der ja letztlich auch nur ein anderes Wort für ‚Körperleib‘ ist: „In der Tat ist der Magen eines der reizbarsten Körperorgane, das mit Krämpfen und Entleerung, mit Veränderungen der Motorik und der Sekretion auf nahezu alle Emotionen und Empfindungen reagiert. Deshalb auch waren Magen-Darm-Erkrankungen der historische Ausgangspunkt für die psychosomatische Betrachtungsweise.“ (Jaynes 1993, S.325)

‚Ker‘ ordnet Jaynes dem Wortfeld von ‚Kradie‘ zu. Insbesondere sind damit „zitternde Hände und Glieder“ gemeint, und das Wort bezeichnet deshalb vor allem Gefühlszustände wie Angst und Furcht. (Vgl. Jaynes 1993, S.326)

‚Noos‘ stammt von ‚sehen‘, und dieses Wort ist zur Metapher von Bewußtsein schlechthin geworden. (Vgl. Jaynes 1993, S.327) Der Gesichtssinn steht in einem gewissen Gegensatz zum Gehör, das weniger auf ein selbständiges Bewußtsein als vielmehr auf Gehorsam und Hörigkeit verweist: „Der Grund dafür mag darin liegen, daß das Gehör das eigentliche Wesen der bikameralen Psyche ausmacht.“ (Jaynes 1993, S.328) – Die „Heraufkunft des Bewußtseins“ hat Jaynes zufolge zu einem „Wechsel von einer auditiven zu einer visuellen Psyche“ geführt. (Vgl. ebenda)

Ähnlich wie die Phrenes verweist die Psyche auf die Atmung. Ursprünglich war damit eine sichtbare Eigenschaft des lebendigen Körpers gemeint. Sobald die Atmung ausbleibt, verliert der Körper die Eigenschaft, lebendig zu sein. Lebendigkeit war also eine Eigenschaft und kein selbständiges Substantiv. Wenn die Psyche nach dem Tod in den Hades entweicht, führt sie dort kein eigenständiges Leben, sondern nur ein substanzloses Schattendasein: „Der Ausdruck meint in diesen Fällen fast das genaue Gegenteil von dem, was er in ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ sonst bedeutet: nicht Leben, sondern was da ist, nachdem das Leben gewichen ist.“ (Jaynes 1993, S.351)

Man kann also sagen, daß die Psyche nach der Loslösung vom Körper nur eine Weise des Todseins bezeichnet und nicht etwa in eine andere Art des Lebens übergeht. In späteren Epochen des subjektiven Bewußtseins wird die Psyche zu einer eigenständigen Substanz, und jetzt entsteht so etwas wie ein Leib-Seele-Dualismus, wie er zum ersten Mal in den Philosophien von Platon und Sokrates zum Ausdruck gekommen ist: „Das Wort soma hatte zuvor Leichnam oder Leblosigkeit bedeutet, strukturell-funktional also den Gegensatz zu psyche qua Belebtheit. Während aus psyche jetzt die Seele wird, bleibt die strukturelle Relation erhalten, so daß soma die Bedeutung von Körper annimmt. Und damit ist der Leib-Seele-Dualismus, die vorgeblich separaten Daseinsformen von Geist und Körper, institutionalisiert.“ (Jaynes 1993, S.353f.)

Aus der schlichten Notwendigkeit der Ausdifferenzierung eines subjektives Bewußtsein ermöglichenden Innenraums, also schon früh, praktisch im direkten Anschluß an die bikamerale Epoche, ist also ein Leib-Seele-Dualismus hervorgegangen, wie er das okzidentale Denken und die schriftbasierten Offenbarungsreligionen bis in unsere Gegenwart hinein geprägt hat.

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