„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. Mai 2015

Maxwell R. Bennett/Peter M.S. Hacker, Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt 3/2015 (2003)

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 585 Seiten mit einem Vorwort von Annemarie Gethmann-Siefert, brosch., 49,90 €)

1. Zusammenfassung
2. Fachsprachliche und nichtfachsprachliche Begriffe
3. Denken und Sprechen
4. Phänomenologie und Sprachanalytik
5. Bindungsproblem (Gestaltwahrnehmung)
6. Innen-Außen-Differenz als Kryptokartesianismus
7. Qualia, Seele und das Arrangieren von Dingen
8. Gibt es Willensakte?
9. sprachanalytischer Reduktionismus

Das Problem bei der sprachanalytischen „Philosophie des Geistes“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.514) ist, daß die Sprachanalytiker nicht genügend berücksichtigen, daß es neben der „Standardverwendung“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.8, 521), auf die sie ihre Analysen beziehen, immer auch sehr auf ihr jeweiliges, subjektives Sprachgefühl ankommt, wenn es darum geht, zu beurteilen, was man sagen kann und was man nicht sagen kann. Die sogenannte ‚Standardverwendung‘ der Sprache ist viel toleranter gegenüber kreativen Abweichungen – auch ohne explizite Neudefinitionen durch die Sprachverwender –, als Bennett/Hacker es wahrhaben wollen. Für die Variationsbreite innerhalb einer Standardverwendung der Sprache stehen die Metaphern. Und was hinsichtlich der Bildung von Metaphern ‚geht‘ und was nicht, entscheidet wiederum das subjektive Sprachgefühl der jeweiligen Gesprächspartner.

Sprachanalytik geht also immer mit einer Phänomenologie einher. Verfügten die Sprachanalytiker nicht über eine eigene sprachliche Intuition (Anschauung), könnten sie auch keine Urteile über den korrekten oder inkorrekten Gebrauch bestimmter Phrasen und Idiome fällen. Die Standardverwendung bildet dabei nur einen gewissen, recht vagen Hintergrund, vor dem dann entsprechende normative Urteile möglich werden. Überhaupt bildet die Sprache im Rahmen eines sprachanalytischen Vorgehens weniger einen ‚Ausdruck‘ des Denkens – wie Bennett/Hacker immer wieder auf verworrene Weise behaupten (vgl. u.a. Bennett/Hacker 3/2015, S.454) –, als vielmehr ein „Denk-Werkzeug()“, wie es an anderer Stelle richtigerweise heißt: „Es gehört sich so, dass wir unsere Werkzeuge kennen und sicherstellen, dass sie einwandfrei funktionieren und keines fehlt.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.518)

Tatsächlich benutzen Bennett/Hacker die Sprache bzw. den Alltagssprachgebrauch nämlich als Analysewerkzeug, um mit seiner Hilfe die neurowissenschaftlichen Begriffsverwirrungen zu klären. Indem sie aber die Sprache als „Ausdruck des Denkens“ bezeichnen, belegen sie nur die Verworrenheit ihres eigenen Sprachgebrauchs, wie sie etwa in folgender Behauptung zum ‚Ausdruck‘ kommt: „Die Grenzen des Denkens und Wissens sind die Grenzen des möglichen Ausdrucks des Denkens und Wissens.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.454) – Wenn die sprachlichen Grenzen nämlich tatsächlich mit den Grenzen des Denkens identisch wären, dann wären sie das Denken selbst, und es gäbe gar nichts mehr auszudrücken.

Auch sonst betreiben Bennett/Hacker viel Phänomenologie. Wenn sie über viele hundert Seiten hinweg detailliert die verschiedenen Bewußtseinszustände und Wahrnehmungserlebnisse und die zugehörigen sprachlichen Idiome beschreiben, legen sie dabei eine bemerkenswerte phänomenologische Sensibilität an den Tag. Doch bewegen sie sich dabei in einem beständigen performativen Widerspruch: Bennett/Hacker leugnen ständig, daß sie tun, was sie da gerade tun, nämlich gleichzeitig innere wie subjektive Erlebenisse zu beschreiben. So halten sie es z.B. für ‚verworren‘, zu glauben, daß es eine von der äußeren, physikalischen Welt unterscheidbare innere Welt der Erfahrung geben könne: „Die Verwirrung entsteht durch den Gedanken, dass eine ausschließlich physikalische Beschreibung der Welt die Erfahrung ausspart. Was wohl auch das Verhalten lebender Körper betreffen würde. Bei Erfahrungen handelte es sich allerdings nicht um Verhalten, sondern um etwas, das dem Verhalten zugrunde liegt, etwas wesentlich Subjektives.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.352)

Tatsächlich aber haben Bennett/Hacker kein Problem mit dem Subjektiven: „Es ist vollkommen korrekt zu behaupten, dass es ohne ein Subjekt keine Erfahrung geben kann, dass es keine Gedanken gibt, die nicht jemandes Gedanken sind, und keine Schmerzen, ohne dass jemand sie empfindet.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.451) Sie haben nur ein Problem damit, daß es etwas Inneres sein soll. Es gibt also subjektive Erfahrungen, aber sie bilden keineswegs irgendetwas Innerliches in irgendeiner Form.

Ausgangspunkt von Benntt/Hackers Überlegungen ist die Trennung zwischen Wahrnehmungen und Empfindungen: „Empfindungen sind keine irgendwie gearteten Wahrnehmungsobjekte, denn diese existieren, ob man sie nun wahrnimmt oder nicht.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.159) – Wahrnehmungen richten sich nach Bennett/Hacker nur auf äußere, vom Subjekt unabhängig existierende Objekte: „Die Wahrnehmungsvermögen sind kognitive Fähigkeiten derart, dass wir uns durch ihre Ausübung Wissen von Objekten und ihren Qualitäten, von Ereignissen und ihren charakteristischen Merkmalen und von bedeutsamen, in unserer Umgebung vorherrschenden Sachverhalten aneignen können.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.165)

Empfindungen haben Bennett/Hacker zufolge keine Objekte. Sie sind an bestimmte Körperstellen gebunden, wie Schmerz- und Juckreize. Außerdem bilden sie keine ‚Objekte‘ unserer Wahrnehmung, weil der Schmerz oder der Juckreiz unmittelbar empfunden wird: wir sind gleichzeitig Subjekte und Objekte unserer Empfindungen. Beziehungsweise wir sind überhaupt keine Subjekte unserer Empfindungen, sondern erleiden sie nur.

Die bevorzugte Empfindung, anhand deren Bennett/Hacker ihre Behauptung, daß Empfindungen weder Wahrnehmungen noch Objekte unserer Wahrnehmungen seien, belegen, ist die Schmerzempfindung, deren Charakteristika sie auf alle anderen Gefühlszustände übertragen. Die Trennung zwischen einerseits Empfindungen im engeren Sinne und Gefühlszuständen im weiteren Sinne und andererseits der Wahrnehmung als ausschließlich außenweltorientierter Erfahrung wird von Bennett/Hacker so radikal vollzogen, daß sie auch leugnen, daß Wahrnehmungen mit Empfindungen einhergehen. Dabei geht es ihnen vor allem um das Prinzip: sie leugnen, daß Empfindungen und Wahrnehmungen begrifflich eine Einheit bilden, auch wenn natürlich Empfindungen mit Wahrnehmungen einher gehen können. So ist z.B. das „Rot einer Geranie“, das man sieht, also wahrnimmt, „keine Rotempfindung“, denn die Rotempfindung wird „weder gesehen noch gehabt“. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.175)

Durch diese allzu subtilen Unterscheidungen – die zudem nicht durch die „Standardverwendung“ der Sprache gestützt werden! – wird ein großer Bereich dessen, was das traditionelle Thema der  Phänomenologie bildet, ausgeschaltet. Die ganze Welt der inneren Phänomene, denen sich die Phänomenologen auf meditierende Weise zuwenden, wird durch Bennett/Hacker zum Anathema erklärt.

Mit der Leugnung einer inneren Vorstellungswelt, der man seine Aufmerksamkeit zuwenden könnte, geht aber – wiederum auf verworrene Weise – die Behauptung einher, daß es nichts gibt, was man sich nicht vorstellen kann, und daß unsere Vorstellungen nicht an irgendwelche äußeren, physikalischen Gesetze gebunden seien. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.250ff.) So könne man sich durchaus einen Würfel vorstellen, den man von allen Seiten gleichzeitig sieht, oder man könne sich ein Gesicht im Profil mit zwei Augen vorstellen, was alle die wissen, die „mit den Gemälden und Zeichnungen Picassos“ vertraut seien. (Vgl. Bennett/Hacker 3/2015, S.252)

Mit dieser Behauptung wollen Bennett-Hacker allerdings nur darauf hinaus, daß unsere bildhaften Vorstellungen stets mit äußeren Bildwahrnehmungen verbunden sind. Ein inneres Abgleichen von Vorstellungsbildern, wie sie den Husserlschen Meditationen entsprechen, leugnen Bennett/Hacker. Damit leugnen sie allerdings auch die Möglichkeit eines inneren, vom Sprachgebrauch unabhängigen Abgleichs dessen, was ‚geht‘ und was nicht ‚geht‘, wie es Husserl immer wieder gerne an der Beschreibung einer imaginären Teetasse vorführte. Phänomenologen versuchen so zum Wesen einer Dingwahrnehmung vorzustoßen. Bennett/Hacker zufolge ist das alles nur ein Mißverständnis, das von einem verworrenen Sprachgebrauch herrührt.

Es ist interessant, daß Phänomenologen und Sprachanalytiker letztlich die gleiche Sorge miteinander teilen. Beide wollen die metaphysischen Verirrungen der Philosophie und der Wissenschaft bezüglich des Bewußtseins und des Mensch-Welt-Verhältnisses bereinigen, die einen durch Meditation, die anderen durch Sprachkritik: „Unwissenheit ist eine Sache, Rätselhaftigkeit eine andere. Die Wissenschaftler und Philosophen bekennen nicht nur ihre bedauerliche Unwissenheit, sie unterstellen gemeinhin auch, dass das Bewusstsein außerordentlich rätselhaft ist.“ (Bennett/Hacker 3/2015, S.324)

Phänomenologen und Sprachkritiker wenden sich also gemeinsam gegen die metaphysische Verrätselung der Welt. Aber es ist auch interessant, an welcher Stelle Sprachkritiker und Phänomenologen sich gegen diese Verrätselung wenden: Sprachanalytiker wenden sich gegen Begriffsverwirrungen und wollen das Bewußtsein vor allem als eine Form des Sprachgebrauchs verstanden wissen, während Phänomenologen sich gegen die Molekularisierung des Bewußtseins wenden und es vor allem als Phänomen verstanden wissen wollen. Beide gehen dabei von einer Naivität des Alltags aus: hinsichtlich des Sprechens die einen („Standardverwendung“), hinsichtlich des Erlebens die anderen („Lebenswelt“).

Im Grunde bewegen sich die Sprachanalytiker aber auf einem, wenn auch nicht unwichtigen, Nebenschauplatz der Kritik. Anstatt wie die Phänomenologen die Bewußtseinserlebnisse als unmittelbar gegeben anzunehmen und sie meditierend und beschreibend zu erfassen zu versuchen, widmen sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Instrument dieser Zuwendung, der Sprache. Dabei verlieren sie die Bewußtseinsphänomene selbst aus dem Blick und verstricken sich in eine moderne Scholastik der Wortklauberei, die sich am Ende auch noch gegen den naiven Wortgebrauch selbst richtet, der die Grundlage ihrer Kritik bildet. Mauthner hatte das verstanden, als er schrieb, man verliere als Sprachkritiker notwendigerweise den Boden unter den Füßen und schwebe in der Luft. (Vgl. meinen Post vom 13.10.2013)  Letztlich gehen deshalb auch Bennett/Hacker phänomenologisch vor. Denn ihre ganze Sprachkritik beruht zu einem wesentlichen Teil auf der genauen Beobachtung von Bewußtseinsphänomenen, zu denen nicht zuletzt auch die Sprache selbst gehört.

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