„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. März 2015

Lew Semjonowitsch Wygotski, Denken und Sprechen. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann, Stuttgart 1964/1969 (1934)

1. Prolog: Tomasello und Rousseau
2. Zusammenfassung
3. Experimentelle Methode
4. Innerer Dialog und Egozentrismus
5. Strukturen der Verallgemeinerung
6. Folien und Meridiane
7. Rekursivität?
8. Wortbedeutung
9. Situationsbegriff
10. Subjekte und Prädikate
11. Gesetz der Bewußtwerdung

Eine Eigenschaft der egozentrischen Sprache, die Wygotski und Piaget sogar als ihre grundlegende Struktur bezeichnen, besteht in der Verkürzung der Syntax: „Sie ist nur für den Sprecher verständlich, sie ist verkürzt und zeigt die Tendenz zu Auslassungen oder Kurzschlüssen, sie läßt das fort, was zu sehen ist, unterliegt also komplizierten strukturellen Veränderungen.“ (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.40)

So kompliziert, wie Wygotski behauptet, sind diese strukturellen Veränderungen aber gar nicht. Die Veränderungen bestehen nur im Weglassen von bestimmten Wörtern, und zwar hauptsächlich denjenigen Wörtern, die den Subjektbestandteil einer vollständigen Syntax ausmachen. Das mit sich selbst sprechende Kind begnügt sich damit, das, was es gerade tut, mit kommentierenden Worten, also mit Prädikaten, zu begleiten, ohne sich auf das, was es gerade tut, noch einmal explizit zu beziehen.

Auch die innere Sprache ist durch so eine verkürzte Syntax gekennzeichnet, und das sogar in einem verstärkten Maße als die egozentrische Sprache, was für Wygotski ein Beleg dafür ist, daß die egozentrische Sprache eine Übergangsphase zur inneren Sprache bildet (vgl. Wygotski 1964/1969, S.44, 93, 318): „Die innere Sprache ist eine maximal zusammengedrängte, verkürzte ‚stenographische‘ Sprache. Die geschriebene Sprache ist eine maximal entfaltete, formal vollendeter als selbst die gesprochene. Sie hat keine Ellipse. Die innere Sprache ist daran überreich. Sie ist in ihrem syntaktischen Bau fast ausschließlich prädikativ. Ähnlich wie unsere Syntax in der gesprochenen Sprache dann prädikativ wird, wenn das Subjekt und die dazugehörigen Satzglieder in gewisser Weise zu Gesprächspartnern werden, besteht die innere Sprache, bei der das Subjekt, die Sprechsituation dem denkenden Menschen selbst immer bekannt ist, fast nur aus Prädikaten. Uns selbst brauchen wir niemals mitzuteilen, wovon die Rede ist.“ (Wygotski 1964/1969, S.227)

Mit „Gesprächspartner“ meint Wygotski, daß Subjekte und Prädikate in ein und demselben Satz je nach Perspektive und Betonung des Sprechers die Rollen tauschen können: „Nehmen wir den Satz ‚Die Uhr ist heruntergefallen‘, in dem ‚die Uhr‘ Subjekt, ‚ist heruntergefallen‘ das Prädikat ist und stellen wir uns vor, daß dieser Satz in zwei verschiedenen Situationen ausgesprochen wird und folglich in ein und derselben Form zwei verschiedene Gedanken ausdrückt. ... Die Analyse zeigt, daß in einem zusammengesetzten Satz jeder beliebige Satzteil zum psychologischen Prädikat werden kann.“ (Wygotski 1964/1969, S.305)

Die Betonung kann mal auf der Uhr liegen und damit einem Gesprächspartner signalisieren, daß es die Uhr ist, die heruntergefallen ist, und nicht irgendein anderer Gegenstand – dann wäre das grammatische Subjekt zugleich auch das ‚psychologische‘ Subjekt –, oder die Betonung liegt auf ‚heruntergefallen‘, was dann möglicherweise eine Entschuldigung zum Ausdruck bringen soll, daß man nicht als Urheber dieses Unfalls in Haftung genommen werden möchte. Dann unterscheidet sich das ‚psychologische‘ Subjekt vom grammatischen Subjekt. Wygotskis Differenzierung zwischen einem grammatischen und einem psychologischen Subjekt läuft hier auf eine Unterscheidung zwischen Sagen und Meinen hinaus.

Die zunehmende Verkürzung des Sprechens über das egozentrische bis zum inneren Sprechen kann jeder an sich selbst beobachten. Auf die Behauptung aber, daß wir es hier mit einem strukturellen Unterschied zwischen egozentrischem und innerem Sprechen auf der einen Seite und der gesprochenen Sprache auf der anderen Seite zu tun haben, trifft das nicht zu: „... die sinnvolle Syntax der inneren Sprache ist eine ganz andere als die der gesprochenen und die der geschriebenen Sprache. Es gelten darin völlig andere Gesetze des Aufbaus des Ganzen und der Sinneinheiten.“ (Wygotski 1964/1969, S.227) – Was hier lediglich eine Tendenz betrifft, nämlich die zunehmende Vervollständigung des Sprechens bis hin zur maximalen syntaktischen Vollständigkeit der Schriftsprache (vgl. ebenda), wird von Wygotski zu einem Prinzip erhoben: egozentrisches und inneres Sprechen sind syntaktisch unvollständig, und mündliches und schriftliches Sprechen sind syntaktisch vollständig.

Das hatte schon Mauthner besser gewußt, der meines Wissens als erster darauf hingewiesen hatte, daß die Sprache ihr eigentliches Subjekt immer außerhalb ihrer Satzstruktur hat: nämlich im Kontext der jeweiligen Sprechsituation. (Vgl. meinen Post vom 23.10.2013) Das gilt sogar für schriftliche Dokumente, zumal von solchen aus einer antiken Epoche, deren Lebensumstände für uns heutige Zeitgenossen fremd sind, so daß es einer langjährigen philologischen Ausbildung bedarf, um sie zu verstehen. Oder man denke an den Koran, der mehr noch als die Bibel nicht nur von Schriftstellern verfaßt wurde, die sich für von Gott inspiriert hielten, sondern von Gott höchstselbst dem Mohammed in die Feder diktiert worden sein soll. Nichts in diesem Buch versteht sich für den Leser und/oder Gläubigen von heute von selbst. Jede Sure, jedes Wort bedarf der Interpretation, der Rückübersetzung in einen Kontext.

Sogar Wygotski selbst weiß es besser, denn er bringt viele Beispiele eines verkürzten Sprechens, die seiner eigenen These von einem strukturellen Unterschied zwischen innerer und gesprochener Sprache widersprechen. Wenn etwa jemand an einer Straßenbahnhaltestelle steht und sagt „Die B“, so reicht dieser verkürzte Satz völlig aus, um vom Kontext her zu verstehen, daß da jetzt die Straßenbahn der Linie B, auf die man gemeinsam wartet, kommt. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.330) Verkürzungen sind im täglichen gemeinsamen Sprechen miteinander genauso üblich wie beim inneren Sprechen mit sich selbst.

Ein wunderschönes Beispiel für ein verkürztes Sprechen, das zugleich ein bezeichnendes Licht auf die spezifische Expressivität des Menschen wirft, liefert eine Szene aus einem Roman von Tolstoi. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.330f.) Dort unterhalten sich zwei verliebte Menschen, indem sie die Anfangsbuchstaben von Wörtern aufschreiben. Diese Wörter bilden eine Liebeserklärung des Mannes, Lewin, an Kitty. Und die Frau, Kitty, versteht ihn, sozusagen ‚Wort‘ für ‚Wort‘, und verwendet nun ebenfalls nur die Anfangsbuchstaben von Wörtern, um Lewin zu bestätigen, daß auch sie ihn liebt. Dieses extrem verkürzte Sprechen ist in einen gemeinsamen Kontext eingebunden und führt auf diese Weise zum Erfolg. Es ist sozusagen das Gegenteil eines Gesprächs zwischen einem in die Jahre gekommenen Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat und am gemeinsamen Frühstückstisch aneinander vorbeiredet. Hier gibt es keinerlei gemeinsamen Kontext mehr.

Was mir aber besonders an diesem Beispiel gefällt, ist die besondere Expressivität der Situation. Schüchterne Menschen, zum Beispiel ich selbst, kennen die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, jemandem mitzuteilen, daß man in ihn verliebt ist. Man findet dann einfach keine Worte und verstummt regelrecht. Das Innere will nicht nach außen. Man weiß einfach nicht, wie der andere reagieren wird und ob er oder sie etwas Ähnliches empfindet. Man will sich einfach nicht blamieren. Und man will auch nicht das verlieren, was man schon hat, eine Art ‚Freundschaft‘, die vielleicht in die Brüche gehen könnte, wenn man seine wahren Gefühle eingesteht.

Die von Lewin gewählte Methode überwindet alle diese Probleme auf geniale Weise. Er sagt ja nicht wirklich irgendetwas. Sein Sprechen ist so extrem verkürzt, daß er entweder behaupten kann, etwas ganz anderes gesagt zu haben, oder sich einfach weigert, das Rätsel der Anfangsbuchstaben aufzulösen, wenn Kitty tatsächlich nicht verstehen will oder kann, was er meint. Die Anfangsbuchstaben sind sozusagen ein Test, ob Kitty dasselbe empfindet wie Lewin. Denn wenn sie dasselbe empfindet, wird sie auch geneigt sein, die Anfangsbuchstaben entsprechend zu deuten. Und sie selbst kann, indem sie ebenfalls mit Anfangsbuchstaben antwortet, testen, ob sie Lewin richtig verstanden hat, ohne sich etwas zu ‚vergeben‘. Indem beide so auf syntaktisch verkürzte Weise halbwegs einander entgegenkommen, bauen sie eine Brücke, die über alle Sprachschwierigkeiten hinweghilft.

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