„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 28. Dezember 2015

Alexander Krützfeldt, Wir sind Cyborgs. Wie uns die Technik unter die Haut geht, Berlin 2015

(Blumenbar (Aufbau Verlag), 191 S., Broschur, 15.-- €)

In Michael Endes „Die Unendliche Geschichte“ (1979) ist der Weg der Wünsche gefährlich. Mit jedem Wunsch, der in Erfüllung geht, geht etwas verloren, und schließlich landet man in der „Alten Kaiser Stadt“, der Endstation all jener, die am Ende aller Wunscherfüllung den Verstand verloren haben. Ob Michael Ende damals wohl geahnt hatte, daß dieser Weg der Wünsche identisch ist mit dem Weg der Technik? – Ich glaube schon. Schon in seinem „Jim Knopf“ (1962) hatte sich Michael Ende gründlich mit dem Verhältnis von Mensch und Technik auseinandergesetzt. Technik und Magie hatten schon immer eine hohe Affinität zueinander.

Es gibt eine Passage in Alexander Krützfeldts Buch „Wir sind Cyborgs“ (2015), in der unsere Neigung angesprochen wird, uns mit Hilfe der Technik von Fähigkeiten zu befreien, die wir als stumpfsinnig und mühsam einordnen; Fähigkeiten also, von denen wir annehmen, daß wir, wenn wir sie an andere delegieren könnten, mit der gewonnenen Zeit etwas Besseres anfangen könnten. Im antiken Griechenland wurden mit diesen Fähigkeiten verbundene Tätigkeiten an Sklaven delegiert, damit die freien Bürger sich mit den wirklich wichtigen Dingen, nämlich mit der Politik befassen konnten. Schon Rousseau wußte, daß diese Sklaven stärker waren als ihre Herren, die tatsächlich auf diese Weise von ihren Sklaven abhängig geworden waren, weil sie sich nicht mehr selbst am Leben erhalten konnten. Hegel bezeichnete das als Herr-Knecht-Dialektik.

In der erwähnten Passage unterhält sich der Autor mit dem Sozialpsychologen Sascha Topolinski. (Vgl. Krützfeld 2015, S.143ff.) Topolinski hebt in diesem Gespräch hervor, wie sehr Werkzeuge schon immer in der Menschheitsgeschichte als Verlängerungen unserer körperlichen Organe wahrgenommen worden waren. (Vgl. Krützfeld 2015, S.146) Darin steckt ein Gutteil Körperdisziplin. Man denke nur an Eugen Herrigels „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ (1948): es bedarf eines jahrelangen Trainings, der Meditation und der Übung, um mit den verschiedenen Phasen des Bogenschießens so vertraut zu werden, daß sie zu einem Teil der eigenen Körperfunktionen werden.

Topolinski weist darauf hin, daß wir inzwischen ‚Werkzeuge‘ entwickelt haben, die uns nicht mehr nur motorische, sondern auch „primär psychologische Funktionen“ abnehmen. (Vgl. Krützfeld 2015, S.147) Insbesondere lagern wir an „Internet und Smartphone“ immer mehr „spezifische Funktionen“ aus: „Ich: Aber wenn ich immer mehr outsource, dann verliere ich doch irgendwann – mangels Training – die Fähigkeit, das selbst zu tun? Zum Beispiel, den richtigen Weg zu finden? Topolinski: Vollkommen richtig! Das dauert zwar alles recht lang, aber (S)ie verlieren durch fehlendes Training grundsätzlich Fähigkeiten – beziehungsweise: Sie können es nur nicht mehr so gut wie früher.“ (Krützfeld 2015, S.148)

Die Thematik erinnert an Leroi-Gourhans Warnung, daß das ‚Auslagern‘ bzw. ‚Exteriorisieren‘ kognitiver Fähigkeiten auf Computer zu einer generellen Verkümmerung unserer Kognition führe. (Vgl. meinen Post vom 08.03.2013) Leroi-Gourhan stellt die Technik unter Generalverdacht: eine technische Umwelt hindert den Menschen daran, seinen Verstand zu gebrauchen. Die Differenzierung zwischen stumpfsinnigen und sinnvollen Kognitionen ist bloß Augenwischerei, weil diese Grenze fließend und letztlich eine Sache der Interpretation ist. Was ist am Umgang mit Pfeil und Bogen stumpfsinnig, was notwendig und was von hoher geistiger Qualität? – Nicht alle Praktiken, die der Meister von Herrigel abverlangte, erschienen ihm auch als sinnvoll.

Es gibt Fähigkeiten, so Topolinski, die prinzipiell nicht auslagerbar sind: „Ich brauche Allgemeinwissen, um kreativ zu sein. Wenn ich kreativ nach der Lösung eines Problems suche, verbinde ich Fragmente verschiedenen Wissens – zum Beispiel aus unterschiedlichen Fachbereichen – miteinander. ... Dieser Prozess lässt sich nicht outsourcen.“ (Krützfeld 2015, S.149)

Mit dieser Bemerkung trifft Topolinski den Kern des Problems. Wenn ich über ein Allgemeinwissen verfüge, verfüge ich nicht einfach nur über eine bestimmte Menge von Informationen, die ich genausogut von meinem Smartphone abrufen könnte. Das Allgemeinwissen ist in mir aktiv, es arbeitet in mir, in meinem Unterbewußten. Wenn ich ein Problem zu lösen versuche und mir dazu Informationen aneigne, z.B. beim Lesen von Fachbüchern, dann bin ich wochenlang damit beschäftigt, unabhängig davon, was ich gerade sonst so mache. Während ich schlafe, einkaufen gehe oder mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, wird auf einer tiefen Ebene in mir ununterbrochen an diesem Problem gearbeitet, und irgendwann habe ich eine Idee, wie ich das Problem lösen kann, ohne wirklich zu wissen, wo diese Idee jetzt plötzlich hergekommen ist.

Die ganze mühsame Informationensammelei auf dem Weg zur Problemlösung mag ich vielleicht als stumpfsinnig wahrgenommen haben. Dennoch hätte sie mir kein Computer, keine Suchmaschine abnehmen können. Auch irgendein verborgener Winkel des scheinbar nebensächlichen Allgemeinwissens, das nicht direkt mit meinem aktuellen Problem zu tun zu haben scheint, hat dazu etwas beigetragen. Das alles ist nicht auslagerbar. Da hat Topolinski völlig recht.

Allerdings wirkt sich diese Debatte zwischen dem Autor und dem Sozialpsychologen nicht auf das eigentliche Thema aus, nämlich auf die Frage nach der technologischen Verbesserbarkeit und Erweiterbarkeit menschlicher Fähigkeiten. Am Ende einigen sich die beiden darauf, daß Cyborgs Pioniere sind, die die Grenzen der menschlichen Begrenztheit überwinden helfen, ohne dabei noch einmal auf Topolinskis Grundsatzkritik zurückzukommen. (Vgl. Krützfeld 2015, S.155)

An dieser Stelle wird das große Defizit dieses Buches deutlich: Es werden alle möglichen Probleme und Themen angesprochen, aber nichts wird wirklich vertieft. Die verschiedenen Standpunkte stehen unvermittelt nebeneinander, ohne daß der Autor im Einzelnen versucht, diese Standpunkte zu klären und auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Er bleibt überall nur an der Oberfläche. Dazu paßt, daß es kein Inhaltverzeichnis und kein Literaturverzeichnis gibt. Zum großen Teil besteht der Text nur aus Gesprächen, die der Autor mit den verschiedenen Protagonisten der Cyborg-Szene und mit dem einen und anderen Wissenschaftler führt. Ein anderer, nicht minder großer Teil des Textes besteht aus im Reportagestil berichteten Reiseerlebnissen und den damit verbundenen subjektiven Empfindungen und gedanklichen Assoziationen, die dem Autor beim Aufsuchen des nächsten Gesprächspartners durch den Kopf gehen. Für wirklich interessante und tiefergehende Analysen bleibt da nicht mehr viel Platz.

Was letztlich von diesem wirklich wichtigen und hochbrisanten Thema bleibt, ist der Eindruck einer unter Cyborgs verbreiteten Körperfeindlichkeit. So ist der im Buch prominenteste und am meisten zitierte selbsternannte ‚Cyborg‘, ein gewisser Tim Cannon, ein Ex-Alkoholiker, der den Umstand, daß er seine Sucht so lange nicht in den Griff bekommen und überwinden konnte, nicht auf seine mangelnde geistige Selbstdisziplin zurückführt, sondern auf die Schwäche seines Körpers: „‚Als ich trocken war‘, sagt Tim und spielt an seinem Piercing, ‚habe ich durch diese ganze Willenssache verstanden, dass der Körper schwach ist und willenlos. Dass seine Chemie anfällig ist für Sucht, Glücksspiel, Endorphine beim Sex, Reize. Es ist und bleibt eine Frage des Geistes, ob du ihr nachgibst. Aber das Fleisch bleibt in jedem Fall schwach.‘“ (Krützfeld 2015, S.98)

Die Geisteshaltung des typischen Cyborgs – und Cyborg-sein ist vor allem, wie Krützfeld hervorhebt, eine Geisteshaltung (vgl. Krützfeld 2015, S.32) – ist also ein aggressiver Körper-Geist-Dualismus. Der eigene Körper wird als unzulänglich und schwach empfunden, und die jahrtausendealte Tradition der körperlichen Selbstertüchtigung und geistigen Disziplin, wie sie etwa im Zen zum Ausdruck kommt, soll durch Technologie kurzgeschlossen und überflüssig gemacht werden. Mit dem Argument, das alles sei ‚stumpfsinnig‘. – „Sie träumen davon“, so Krützfeld, „die biologische Hülle, die Last der Körperlichkeit zu überwinden. Sie träumen von neuen Menschen, die mit Technik gekoppelt sind und aufregende Fähigkeiten besitzen.“ (Krützfeld 2015, S.10)

Cyborgs sind die Praktiker einer transhumanistischen Philosophie, deren Programm in der „vollständige(n) Überwindung des menschlichen Körpers“ und in der „endgültigen Überwindung des Menschen“ besteht. (Vgl. Krützfeld 2015, S.34) Als der bereits erwähnte Sozialpsychologe Topolinski im Gespräch mit Krützfeld erfährt, daß Tim Cannon monatelang ein Gerät von der Größe eines Smartphones im Unterarm mit sich herum getragen habe und davon eine riesige Narbe zurückgeblieben sei, die wohl nie wieder vollständig verheilen werde, ist seine spontane Diagnose absolut fachgerecht: „Puh – also ich bin kein Therapeut, aber da können Sie gern meinen Namen nennen – psychologisch gesehen grenzt das, wenn das aus Lustigkeit passiert, meiner Meinung nach schon sehr an so körperdysmorphe Störungen.“ (Krützfeld 2015, S.152)

Unabhängig von all den anderen Themen, die mit Cyborg-Technologie zusammenhängen – vom Herzschrittmacher bis hin zum Cochlea-Implantat, deren medizinische Notwendigkeit ich überhaupt nicht bestreiten will –, ist es insbesondere diese Körperfeindlichkeit, diese verweigerte Selbstdisziplin, die mir die eigentliche Triebfeder der technologischen Innovationen zu sein scheint. Der Weg der Wünsche muß bis zur restlosen Wunscherfüllung ausgeschritten und in diesem Sinne alles Menschliche überwunden werden.

Mit dieser Form des Fortschritts nichts zu tun haben zu wollen, hat nichts mit der „Angst vor Technik“ zu tun, die gelegentlich auch als „German Angst“ verunglimpft wird. Sie ist nicht einfach teilweise „irrational“, wie Krützfeld meint, wieder einmal ohne tiefer auf diese Thematik einzugehen. (Vgl. Krützfeld 2015, S.52) Evolution ist nicht einfach nur Evolution, an ihrer Spitze die ferne, gleichermaßen gefürchtete wie herbeigesehnte „Singularität“, wo eine „künstliche computergestützte Intelligenz“ den Menschen übertrifft. (Vgl. Krützfeld 2015, S.46) Die Kehrseite dieser Evolution ist vielmehr die Degeneration des Menschen, und nicht zu Unrecht droht ihm die Einstufung durch die neue künstliche Intelligenz als „parasitäres und begrenztes Wesen“. (Vgl. Krützfeld 2015, S.47) Denn dazu hat er sich längst schon selbst gemacht.

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Donnerstag, 17. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Ein Kritikpunkt Dammers gegen den Positivismus von Karl Popper (1902-1994) besteht darin, daß ihm „ein auf die Gesellschaft als ganze angewandter Vernunftbegriff“ fehlt. (Vgl. Dammer 2015, S.55) Daß es dabei nicht nur um eine ‚Vernunft‘ geht, die das gesellschaftliche Moment der menschlichen Existenz in ihre Reflexion mit einbezieht, sondern um eine mit einer eigenen Vernunft ausgestattete Gesellschaft, wird an Dammers Bemerkung zur Notwendigkeit einer „Erkenntnis gesellschaftlicher Wahrheit“ deutlich. Nur wenn man sich im Besitz einer „Idee einer wahren Gesellschaft“ befinde, würden auch die „wesentliche(n) Strukturmomente der Gesellschaft“ thematisierbar, wie Dammer mit Verweis auf Adorno (1903-1969) festhält. (Vgl. ebenda)

Ich habe ein Problem damit, der Gesellschaft eine Vernunft zuzusprechen. Wir geraten damit genau in die Problematik, die Dammer – nicht ganz zu Unrecht – der geisteswissenschaftlichen Pädagogik vorwirft: „Wesensbeschreibungen“ Vorrang gegenüber der „Erforschung der Wirklichkeit“ zu geben. (Vgl. Dammer 2015, S.87) Wenn von ‚Vernunft‘ die Rede ist, frage ich mich immer nach dem materiellen Träger dieser Vernunft. Und mit ‚materiell‘ meine ich nicht die marxistische Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Ökonomie. Ich meine vielmehr den materiellen ‚Körper‘, über den ein individuelles Subjekt in ein exzentrischen Verhältnis zu sich und zur Welt treten kann und den Helmuth Plessner als „Körperleib“ bezeichnet. (Vgl. meine Posts vom 14.07.2010 und vom 08.02.2011)

In einem Post zu Jan Assmann (vom 04.02.2011) hatte ich in Erwägung gezogen, daß die Gesellschaft in dem Moment, als sie von der Mündlichkeit zur Schrift überwechselte, in ein exzentrisches Verhältnis zu sich selbst getreten sei. Die Schrift wurde nun zum ‚Körperleib‘, zur materiellen Basis der Gesellschaft. Von da an wäre die Gesellschaft tatsächlich vernunftsfähig geworden.

Aber das ist nur ein sekundäres Vernunftsverhältnis. Das primäre Vernunftsverhältnis besteht in den Individuen, die diese Schriften lesen und über die die exzentrische Positionalität einer Gesellschaft vermittelt ist. Und schon auf die Individuen selbst ist der Wahrheitsbegriff nicht anwendbar. Denn die exzentrische Positionalität des Menschen macht Authentizität und einen naiven Wahrheitsbegriff – ist ‚Wahrheit‘ nicht immer naiv? – fragwürdig. Der Mensch befindet sich nur noch auf vermittelte Weise in seiner ‚Mitte‘, und letztlich weiß er nicht einmal mit völliger Gewißheit, „ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.298f.; vgl. auch meinen Post vom 28.10.2010)

Wir sollten also generell Begriffe wie ‚wahre Idee‘ und ‚wahres Wesen‘ vermeiden, wenn wir vom Menschen sprechen. Und natürlich sprechen wir immer von Menschen, wenn wir von der ‚Gesellschaft‘ sprechen. Denn die Gesellschaft besteht – anders als Luhmann meinte – aus Menschen.

An einer Stelle deutet Dammer, wiederum mit Verweis auf Adorno, an, was er meint, wenn er von gesellschaftlicher ‚Vernunft‘ spricht. ‚Unwahr‘ ist demnach eine Gesellschaft, „die Individualität postuliert, aber ihre Entfaltung einschränkt“. (Vgl. Dammer 2015, S.56) Wenn wir diese Stelle so verstehen dürfen, daß wir es hier nicht allgemein mit Widerspruchsfreiheit zu tun haben – in dem Sinne, daß eine Gesellschaft immer dann ‚wahr‘ ist, wenn sie sich nicht mit sich selbst im Widerspruch befindet (gleichgültig um welche Postulate es sich dabei handeln mag) –, sondern daß es in der Gesellschaft essentiell um ihr Verhältnis zu den Individuen geht, dann könnte man tatsächlich zwischen ‚vernünftigen‘ und ‚unvernünftigen‘ Gesellschaftsformen unterscheiden. Bei einer solchen Verhältnisbestimmung ginge es insbesondere um die „phronesis“ (Urteilskraft), die Dammer als eine „innere und äußere Freiheit“ beschreibt, den eigenen individuellen Verstand so zu gebrauchen, daß er sich durch „keine äußeren Zwecke“ bestimmen läßt „außer dem prinzipiellen des gelingenden Zusammenlebens“. (Vgl. Dammer 2015, S.40) Eine schönere Formulierung für das „sapere aude“ Immanuel Kants ist wohl kaum vorstellbar.

In vernünftigen Gesellschaftsformen dürfte die gesellschaftliche Praxis nicht durch eine bestimmte Praxisform dominiert werden, wie wir das heute kennen, wo die Ökonomie alle anderen Gesellschaftsbereiche dominiert und im Habermasschen Sinne kolonialisiert. In früheren Zeiten war es die Religion, die als dogmatische Gesamtpraxis alle anderen gesellschaftlichen Teilpraxen dominierte. In solchen Gesellschaftsformen haben die Individuen kaum eine Chance, sich im Plessnerschen Sinne auszuprobieren und sich in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Vielfalt zu bilden, wie es sich Wilhelm von Humboldt vorgestellt hatte. (Vgl. hierzu meine Posts vom 16.11.2010 und vom 04.09.2013) Gesellschaftliche Vielfalt wäre also eine notwendige Voraussetzung für individuelle Bildung und Selbstverwirklichung.

Dammers Kritik an Poppers „Stückwerk-Perspektive“ (Dammer 2015, S.56) geht also fehl. Nur das Stückwerk, das Fragment entspricht der individuellen Begrenztheit und Endlichkeit. Wir haben es hier mit einem anthropologischen Moment der menschlichen Existenz zu tun, auf deren ‚Grenze‘ wir uns zwar bewegen können, die wir aber nicht überschreiten können; schon gar nicht im Sinne eines technologisch induzierten Fortschritts in Richtung auf eine Verbesserung (enhancement) des Menschen. Alle gesellschaftlichen Maßnahmen bleiben darauf bezogen immer nur Stückwerk.

Übrigens bildet auch die Wissenschaft so eine gesellschaftliche Teilpraxis, die sich in einem besonderen Verhältnis zu allen anderen Praxisbereichen befindet. Legt sie dieses Verhältnis nicht technologisch aus und ordnet sie sich dabei auch nicht den ökonomischen Imperativen unter, sondern versteht sie es als ein Verantwortungs- und Reflexionsverhältnis, dann hätten wir es mit einer transdisziplinären Praxis zu tun. Und welche Disziplin könnte in dieser Hinsicht mehr Verantwortung haben als die Erziehungswissenschaft?

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik kommt bei Dammer nicht so gut weg. Bei der geisteswissenschaftlichen Pädagogik handelt es sich um eine theoretische Ausrichtung, die die erste Hälfte des 20. Jhdts. dominiert hatte. Ihre hermeneutische Herangehensweise an die Erziehungswirklichkeit entspricht eigentlich auch der Dammerschen Kritik am mathematischen Empirismus der traditionellen Theorie und des Positivismus. (Vgl. Dammer 2015, S.43f., 51, 84, 93)

Dennoch bescheinigt Dammer der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, daß sie ungeeignet gewesen sei, die in den 1960er Jahren stattfindenden Reformprozesse wissenschaftlich zu begleiten, weil sie das gegliederte Schulsystem verteidigte. (Vgl. Dammer 2015, S.84) Allerdings gibt es das gegliederte Schulsystem noch heute. Daran hat weder die von Heinrich Roth (1906-1983) in den 1960er Jahren propagierte realistische Wende noch bislang die von den PISA-Studien eingeleitete empirische Wende irgendwas geändert.

Auch Dammers Bemerkung, daß die Kritik, die geisteswissenschaftliche Pädagogik habe „‚Wesensbeschreibungen‘ den Vorrang gegenüber der Erforschung der Wirklichkeit gegeben“, berechtigt sei (vgl. Dammer 2015, S.87), unterschlägt den hohen Stellenwert, den führende Vertreter dieser Denkrichtung der pädagogischen Praxis einräumten. Viele von ihnen kamen direkt aus der sozialen und pädagogischen Praxis an die Universität, und ihre pädagogischen Erfahrungen prägten ihr wissenschaftliches Denken. Diese Nähe zur Praxis fehlt den heutigen Bildungsforschern.

Ohne daß ich jetzt die geisteswissenschaftliche Pädagogik in allen ihren Erscheinungsformen verteidigen möchte, glaube ich doch, daß wir auf das Beispiel ihres erfahrungsgesättigten Theoretisierens – gerade auch in den Umbruchzeiten der Jugendbewegung und zweier Weltkriege – nicht einfach verzichten sollten. Wir machen es sonst den heutigen Bildungsforschern mit ihrem Systemmonitoring zu leicht, ihre Empirie als einzig legitime Form wissenschaftlichen Denkens und Forschens zu behaupten. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist keine veraltete, empiriefreie und längst überwundene pädagogische Denkschule.

Dammer selbst bezieht einige seiner Argumente von Herwig Blankertz (1927-1983). Blankertz, Wolfgang Klafki (*1927) und Klaus Mollenhauer (1928-1998) haben die geisteswissenschaftliche Pädagogik zu einer Kritischen Erziehungswissenschaft weiterentwickelt und stehen bzw. standen der Kritischen Theorie nahe, der auch Dammer sich zugehörig fühlt.

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Dienstag, 15. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Dammer spricht nicht von ‚Geisteswissenschaften‘, sondern von Sozial- oder von Humanwissenschaften. (Vgl. Dammer 2015, S.3, 47, 52, 69, 79, 94, 133, 158) Als Beispiel für diesen Bereich verweist Dammer insbesondere auf die Geschichtswissenschaft und hebt daran die Unmöglichkeit von Prognosen hervor, die er auf die Unberechenbarkeit des menschlichen Handelns zurückführt. (Vgl. Dammer 2015, S.34) An dieser Stelle unterscheiden sich die Humanwissenschaften von den Naturwissenschaften, die nur diejenigen Erkenntnisse gelten lassen, die Naturprozesse verläßlich vorhersagen können.

Das Handeln des Menschen ist immer in spezifische Situationen eingebunden. Es ist wesentlich auf Kontexte bezogen. Das macht es zu einem singulären Phänomen. Im vorangegangenen Post hatte ich diese Kontextverwiesenheit des menschlichen Handelns mit der rekursiven Struktur der menschlichen Intentionalität begründet. Aus dieser Rekursivität ergibt sich, daß menschliches Handeln interpretiert werden muß. Diese Interpretation ist wiederum für das Handeln des Menschen nicht folgenlos. Sie verändert es, weil interpretiertes Handeln aufgrund der rekursiven Struktur unserer Intentionalität zu einer neuen, nunmehr modifizierten Situationswahrnehmung führt.

Dammer beschreibt in seinem Kapitel zu den „Propagandastrategien des Neoliberalismus“, wie sich der Neoliberalismus dieser Rekursivität, die er auf ideologischer Ebene leugnet, bedient. Durch eine entsprechende Praxis des Systemmonitorings à la PISA-Studie wird das Bildungsverständnis der Öffentlichkeit schleichend verändert. Die Öffentlichkeit wird „an das Messen gewöhnt“ (vgl. Dammer 2015, S.151), und schließlich werden in Form von Learning und Teaching to the Test die Tests selbst zum wesentlichen Unterrichtsinhalt. Man könnte also paradox formulieren: Demagogie funktioniert deshalb, weil die Menschen mitdenken. Letztlich kreieren Tests genau den Gegenstand, nämlich den Lern- und Bildungsprozeß, den sie durch diese Messungen zu bestimmen versuchen. Rekursivität hat deshalb auch etwas mit dem zu tun, was Geisteswissenschaftler als hermeneutischen Zirkel bezeichnen.

Die grundlegende Methode der Humanwissenschaften besteht also in der Hermeneutik. Dammer bezeichnet die Hermeneutik als ein ideographisches Verfahren, das sich vor allem für das Verstehen von Einzelfällen eignet. (Vgl. Dammer 2015, S.93) Von einem Erkenntnisfortschritt, vergleichbar mit dem in den Naturwissenschaften, kann man in den Humanwissenschaften schon deshalb nicht sprechen, weil „sie ihre Gegenstände unter sich verändernden historischen Bedingungen immer wieder neu interpretieren und dabei von unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkten zu unterschiedlichen, sich häufig eher ergänzenden oder relativierenden Erkenntnissen kommen.“ (Dammer 2015, S.158)

Die empirische Bildungsforschung suggeriert mit ihren regelmäßig vorgenommenen Systemmonitorings genau diesen Fortschritt: nämlich eine kontinuierliche Verbesserung der Qualität von Schule und Unterricht. Dabei ignoriert sie das Problem, daß dieses Systemmonitoring mit seinen Leistungsvergleichen an dem Dilemma jeder Statistik partizipiert. Um möglichst viele verschiedene Einzelfälle miteinander vergleichen zu können, müssen sie nach möglichst wenigen Variablen sortierbar gemacht werden. Mit der Reduzierung der Variablen sinkt aber auch die situative Relevanz der so gewonnenen Daten, die irgendwann über die Einzelfälle, aus derem Vergleich sie hervorgehen, nichts mehr aussagen: „In dem Maße, wie die Anzahl der untersuchten Variablen zunimmt, sinkt ihre jeweilige statistische Bedeutsamkeit für die Erklärung von Unterrichtserfolgen, so dass sich die Studien von ihrem erklärten Ziel ‚irgendeiner gehaltvollen Erklärung und Vorhersage von Schülerleistungen oder gar von der Produktion technologisch verwertbaren Wissens‘ entfernen ...“ (Dammer 2015, S.100)


Dammer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Spirale der Bedeutungslosigkeit“. (Vgl. Dammer 2015, S.130) Sie beginnt damit, daß die Reduktion der Variablen zu einer Reduktion des pädagogischen Gehalts eines am Einzelfall beobachtbaren, individuellen Lern- und Bildungsverhaltens führt. Dammer spricht von der „unzureichend bestimmte(n) Qualität“ des Untersuchungsgegenstands. (Vgl. ebenda) In einem weiteren Schritt werden die Ergebnisse der Untersuchung in Punkte umgewandelt. Die Qualität des individuellen Lern- und Bildungsverhaltens verwandelt sich in „Punkte-Qualität“ (ebenda), was zu einer weiteren Abstraktionsstufe führt: „Wir haben es“, so Dammer, „mit einer Abstraktion zu (tun), die – entgegen dem Selbstverständnis ‚evidenzbasierter‘ Steuerung – unempirischer nicht sein könnte: Die Daten sagen tendenziell nichts über die Realität, die sie zu objektivieren beanspruchen, aus ...“ (Vgl. Dammer 2015, S.151)

In einem dritten Schritt werden die so ermittelten Punktwerte zu Rankinglisten zusammengestellt, die bei den nicht so gut plazierten Bildungseinrichtungen und Staaten das Bedürfnis erzeugen, die eigene Schul- und Unterrichtspraxis nachzubessern oder zu reformieren. Das führt dann viertens zu Bildungsreformen, die, da sich die Bildungseinrichtungen auf die regelmäßig stattfindenden Tests einstellen und sich an ihnen orientieren, fünftens zu nachweisbaren ‚Verbesserungen‘ führen. Verbessert wird dabei aber nicht die tatsächliche Lern- und Bildungspraxis, sondern nur das auf die entsprechenden Variablen bezogene Testverhalten: „Was bei Lichte betrachtet von den PISA-Tests bleibt, ist die Messung der Fähigkeit, eben diese Art von Test unter den gegebenen Rahmenbedingungen mehr oder weniger erfolgreich zu bestehen ...“ (Dammer 2015, S.130)

Als ich versuchte, das von Dammer beschriebene Procedere in Form einer Graphik nachzuzeichnen, ergab sich daraus ein Gebilde, das an ein Schneckenhaus erinnert. Dieses Schneckenhaus könnte man als relativ optimistisches Sinnbild für diese Art von ‚Fortschritt‘ nehmen; ‚optimistisch‘ weil eine Schnecke sich immerhin, wenn auch langsam, von der Stelle bewegt, was man von diesen Bildungsreformen leider nicht sagen kann.

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Montag, 14. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Die Mathematisierung der Wirklichkeit ist für das neoliberale Projekt einer Umwandlung der menschlichen Gesellschaft in eine „‚wissenschaftliche Menschenwirtschaft“ (Dammer 2015, S.147) deshalb so nützlich, weil sie den „menschlichen Faktor“ (Dammer 2015, S.52) vergessen macht. Indem die wissenschaftliche Forschung ausschließlich an die Möglichkeit mathematischer Modellierung geknüpft wird, müssen auch die sozial- und humanwissenschaftlichen Forschungsbereiche ihren Gegenstand entsprechend präparieren und dessen Berechenbarkeit voraussetzen. Aber noch der Kritische Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) hatte um die Unberechenbarkeit des menschlichen Faktors gewußt: er, so zitiert Dammer Popper, „sei ‚das letztlich ungewisse und unberechenbare Element im gesellschaftlichen Leben‘, weswegen ‚jeder Versuch, es vollständig zu beherrschen, zur Tyrannei führen (muß)‘ ... .“ (Vgl. Dammer 2015, S.52)

Worin besteht diese Unberechenbarkeit? – Dammer verweist als Beispiel auf die Geschichtswissenschaft:
„Man wird zwar aus der Beobachtung der Geschichte unter bestimmten Bedingungen analoge Abläufe beobachten, ihnen aber nicht eine identische Kausalität unterstellen können. Der angestrebte Fortschritt kann nur auf Handeln von Menschen beruhen, es gibt aber kein a priori zu behauptendes kausales Kontinuum zwischen dem Handeln einzelner Individuen, ihrer Interaktion und dem gesamtgesellschaftlich postulierten Vernunftzweck, denn selbst vernünftige Handlungen einzelner können, abhängig vom Kontext, in dem sie stattfinden, irrationale Folgen haben, die nicht im Vorhinein kalkulierbar, sondern bestenfalls post festum aus ihrem jeweils spezifischen Zusammenhang heraus rekonstruierbar sind.“ (Dammer 2015, S.34)
Dammer verweist also auf die Unberechenbarkeit des menschlichen Handelns, das durch Interaktion gekennzeichnet und in Kontexte eingebunden ist. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang in meinem Blog immer von der Rekursivität des Menschen. Damit sind keine rekursiven Algorithmen gemeint, sondern die Wirkungsweise der menschlichen Intentionalität, wie sie Michael Tomasello beschreibt. Wir denken nicht einfach nur von uns selbst her, also reflexiv, sondern wir beziehen in unserem Denken und Handeln das Denken und Handeln unserer Mitmenschen mit ein. Wir handeln kommunikativ. Der ‚Kontext‘ des Menschen ist nicht die ‚Umwelt‘, sondern die gemeinsame Welt, die er mit den anderen Menschen teilt. Diese Welt beruht auf Kommunikation und diese wiederum, wie Tomasello gezeigt hat, auf gemeinsamer Intentionalität. Wir denken also immer mit und reagieren niemals reflexhaft oder auch nur monadisch auf die Signale unserer Umwelt.

Durch die Annahme, daß das Handeln des Menschen mathematisierbaren Gesetzen unterliegt – womit Gesetzmäßigkeiten genuin sozialer Art von vornherein ausgeblendet werden (vgl. Dammer 2015, S.69) –, wird suggeriert, dieses Handeln ließe sich prognostizieren und steuern, als hätten wir es mit einem physikalischen Objekt oder Prozeß zu tun. Das autonome, seinen eigenen Verstand gebrauchende Individuum wird zum Objekt technologischer Manipulation. Es ist genau dieser naturalistische Effekt des positivistischen Weltbildes, der dem Neoliberalismus in die Hände spielt. Durch den Neoliberalismus wird der Begriff der Freiheit auf das System, dem das Individuum angeblich funktional zugehört, also auf den Markt, verlagert:
„Unter dieser Voraussetzung wird die Freiheit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch pervertiert, denn die vermeintliche Freiheit des ökonomischen Systems lebt von der Unfreiheit der Individuen, die außer als homunculus oeconomicus – dem positivistischen Gesellschaftsmodell Comtes folgend – keine Entscheidungen mehr sollen treffen können, damit die vermeintliche Rationalität des Marktes nicht gestört wird.“ (Dammer 2015, S.67)
Die ‚Freiheit‘ der Individuen reduziert sich darauf, sich mit ihrem „Humankapital“ als Unternehmer ihrer selbst zu ‚verwirklichen‘ bzw. sich „optimal zu vermarkten“. (Dammer 2015, S.151) Dazu befähigt sie der „Rational-Choice-Theorie“ zufolge die Fähigkeit, immer „rational motiviert“ zu handeln und dabei „über sämtliche Informationen (zu) verfügen, die sie für eine rationale Entscheidung brauchen“. (Vgl. Dammer 2015, S.65) Diese vermeintliche Entscheidungsfreiheit fügt sich reibungslos und störungsfrei in das Markgeschehen, dessen Komplexität also als ein überschaubares, nach einfachen Gesetzen funktionierendes System imaginiert wird, das grundsätzlich für alle offen und einsichtig ist.

Dammer verweist in diesem Zusammenhang auf Wittgensteins gescheiterten Versuch, eine „vollkommen logifizierte() Sprache“ zu schaffen und dabei jedes Wort auf eine eindeutige Bedeutung festzulegen. (Vgl. Dammer 2015, S.43f.) In seinem posthum veröffentlichten Spätwerk hatte Wittgenstein stattdessen die Bedeutung eines Wortes mit seinem Gebrauch verbunden, und dieser besteht in dem Kontext, in dem die Worte verwendet werden. Mit den Kontexten ändert sich der Gebrauch und damit die Bedeutung eines Wortes. „(U)nter praktischen Gesichtspunkten“, so Dammer, ist aber „eine vollkommene Bestimmung aller denkbaren Kontexte unmöglich“. (Vgl. Dammer 2015, S.46) Und deshalb ist auch die Entwicklung eines Eindeutigkeit gewährleistenden, vollkommenen Begriffssystems unmöglich.

Genau davon geht aber die Rational-Choice-Theorie aus: alle Marktteilnehmer verfügen jederzeit über alle Informationen, um rationale unternehmerische Entscheidungen treffen zu können. Es wird so getan, als seien Informationen von der menschlichen Sprache und von Handlungskontexten losgelöste, unabhängige Wissensatome und der gut vernetzte Unternehmer könne jederzeit über sie verfügen.

Seit der ersten PISA-Studie ergänzt und bestätigt die empirische Bildungsforschung dieses Menschenbild, indem sie den klassischen, von der Unberechenbarkeit des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses ausgehenden Bildungsbegriff (vgl. Dammer 2015, S.68f.) durch den Kompetenzbegriff ersetzt. (Vgl. Dammer 2015, S.114f.) Die empirische Bildungsforschung trägt so dazu bei, das Individuum in eine zentrale „regulierende und zugleich regulierte Instanz“ der Marktgesellschaft zu verwandeln. (Vgl. Dammer 2015, S.14) Mit dem Kompetenzbegriff werden die von gesellschaftlichen Institutionen ausgehenden Steuerungsprozesse „so weit wie möglich in das Innere des Individuums verlegt, das sich mittels seiner Kompetenzen selbst steuern soll und durch Messung erfährt, wie weit es sich noch zu optimieren hat, um konkurrenzfähig zu bleiben“. (Vgl. Dammer 2015, S.124)

Das vor allem durch ökonomische Notwendigkeiten bestimmte „lebenslange Lernen“ beschreibt in diesem Zusammenhang nichts anderes als den kybernetisch-gouvernementalen Mechanismus der „‚Selbststeuerung‘ der Lernenden“, was, so Dammer, „entwicklungspsychologisch gesehen, auf eine lebenslange Infantilisierung hinausläuft“. (Vgl. Dammer 2015, S.15f.)

So sehr also das Individuum als Steuerungs- und Regelungsinstanz im Zentrum des Marktgeschehens steht, geht es doch dabei nie um dieses Individuum selbst. Dazu wären die Large-Scale-Studien der empirischen Bildungsforschung (vgl. Dammer 2015, S.100) auch gar nicht geeignet. Dammer spricht vom „Dilemma der Gouvernance-Strategie“, die zum Zweck der globalen Steuerung „eine überschaubare Zahl möglichst allgemeingültiger Parameter benötigt“, daß aber die so gewonnenen Daten „mit dem Grad ihrer Allgemeinheit auch an Informationsgehalt verlieren“. (Vgl. Dammer 2015, S.150)

Die Daten, so Dammer, sagen deshalb „tendenziell nichts über die Realität“ – nämlich über die realen Lern- und Bildungsprozesse der Individuen – „die sie zu objektivieren beanspruchen, aus“. (Vgl. Dammer 2015, S.151) Die empirische Bildungsforschung, die die pädagogisch wertlosen Daten für diesen leerlaufenden Regelkreis liefert, kann aus diesem Grund Dammer zufolge nicht als Wissenschaft bezeichnet werden. (Vgl. Dammer 2015, S.6)

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Sonntag, 13. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Ungeachtet der Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (vgl. meinen Post vom 20.12.2014) beinhalten die Naturwissenschaften selbst eine intellektualistische Komponente: die Mathematik. Im 17. Jhdt konkurrierte die Mathematik noch mit der sinnlichen Wahrnehmung um den Status der primären Erkenntnisquelle. Die Vertreter der sinnlichen Wahrnehmung nannte man ‚Empiristen‘ und die Vertreter der Mathematik ‚Rationalisten‘. So unterschiedlich ihre Positionen zu sein scheinen, kann Dammer doch zeigen, inwiefern beide Positionen letztlich die gleiche methodische Tendenz beinhalten, so daß sie sich schließlich vereinten, wenn auch letztlich auf Kosten der naiven Empirie. Denn als ‚empirisch‘ gilt bis heute nur, was sich mathematisch modellieren läßt.

Als Empirie und Rationalismus (Mathematik) noch nicht dasselbe waren, im 17. Jhdt., hatten die Rationalisten noch ein Problem: inwiefern entsprechen die mathematischen Sätze der Realität? – René Descartes (1596-1650) gab darauf eine metaphysische Antwort: Gott hatte die Welt so eingerichtet! Für Descartes war es „evident, dass wir die Vorstellung eines vollkommenen Wesens hätten, diese aber nicht aus uns selbst als unvollkommenen Wesen erwachsen könne, folglich also durch eben dieses vollkommene Wesen selbst erzeugt worden sein müsse, womit nicht nur dessen Existenz bewiesen, sondern zugleich der Empirismus widerlegt sei, der den Ursprung einer solchen Vorstellung eben nicht erklären könne“. (Vgl. Dammer 2015, S.23f.) – Folglich, so Descartes, müsse sich auch die empirische Realität aus den vollkommenen Formen der Geometrie logisch ableiten lassen: „Von der rationalen Struktur unserer Erkenntnis wird auf die rationale Beschaffenheit und damit auch Gestaltbarkeit ... der zu erkennenden Welt geschlossen, die sich jedoch nicht logisch zwingend, sondern nur über den Umweg einer metaphysischen Setzung ergibt.“ (Dammer 2015, S.24)

Dieses Problem, die sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnisquelle metaphysisch begründen zu müssen, hatten die Empiristen nicht. Aber am Beispiel von Francis Bacon (1561-1626) zeigt Dammer, daß sich ihr methodisches Vorgehen letztlich nicht von dem der Rationalisten unterschied. (Vgl. Dammer 2015, S.18ff.) Francis Bacon propagierte ein „instrumentelles Verhältnis zur Natur“, das objektive Erkenntnis nur über „methodisch kontrollierte Experiment(e)“ zuläßt:
„Das zu Erkennende muss auf einige gezielt gewählte Variablen reduziert werden, um zwischen diesen kausale Abhängigkeiten feststellen zu können, die sich dann in Form allgemeiner Gesetze symbolisch darstellen bzw. in den Zusammenhang bereits formulierter Gesetze symbolisch einordnen lassen. Induktion ist somit genaugenommen keine Methode der Erkenntnis von Phänomenen, sondern der Herstellung von wissenschaftlichen Artefakten zum Zweck rationaler Erkenntnis: ‚Das Phänomen wird zum Effekt. ...‘“ (Dammer 2015, S.20)
Schon Bacons ‚Empirie‘ zielte also auf eine Dekontextualisierung der Phänomene und bedeutete somit ihre Reduktion auf den Status von experimentellen Artefakten. Der empirische (phänomenale) Erkenntnisgegenstand, so Dammer, „verschwindet im Akt der analytischen Zerlegung“. (Vgl. Dammer 2015, S.28) An diesem Punkt der analytischen Zerlegung und Dekontextualisierung der Phänomene begegnen und vereinen sich Empirismus und Rationalismus. Das zeigte sich schon bei Bacon auch daran, daß er für die von ihm propagierte empiristische Erkenntnisform „universelle Gültigkeit“ beanspruchte, was impliziert, daß sie nicht nur auf Naturphänomene, sondern auch auf soziale und geistige Phänomene angewandt werden kann, ja sogar angewandt werden muß, da sie aufgrund ihrer Universalität auch einen Monopolanspruch beinhaltet. Dieser Monopolanspruch setzt sich fort bis zum Falsifikationismus Karl Poppers (1902-1994): „Systematisch gesprochen ist dies der Unterschied zwischen empirischer Wissenschaft und Hermeneutik, der Popper implizit den Charakter einer Theorie abspricht, da sie den von ihm formulierten Bedingungen für wissenschaftliche Wahrheitsfindung allein schon deswegen nicht genügt, weil Interpretationen nicht falsifizierbar sind ...“ (Dammer 2015, S.51)

Bacons Anspruch auf „universelle Gültigkeit“ für seine experimentelle Methode entspricht der rationalistischen Gleichsetzung von Mathematik mit einer „Universalsprache“. (Vgl. Dammer 2015, S.31) Descartes verstand die Mathematik „als Königsweg der Erkenntnis“. (Vgl. Dammer 2015, S.134) Ludwig Wittgenstein (1889-1951) versuchte diesen Anspruch mit seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) einzulösen. (Vgl. Dammer 2015, S.43) Er ist mit diesem „Versuch einer vollkommen logifizierten Sprache“ letztlich gescheitert. (Vgl. ebenda) Wittgenstein schuf Dammer zufolge ein „hermetisches Werk“, das nur von wenigen Experten gelesen und verstanden werden konnte, wie übrigens Wittgenstein in der Einleitung zu seinem Traktat selbst eingesteht: „... das Werk würde wohl nur von dem verstanden, der die darin ausgedrückten Gedanken selbst schon einmal gedacht habe“. (Vgl. Dammer 2015, S.44)

In dieser Hermetik bzw. Esoterik besteht der Urkeim jeder Expertokratie: die natürlichen, im Husserlschen Sinne sich selbst gebenden Phänomene werden so lange dekontextualisiert und mathematisiert, bis sie kein Mensch mehr verstehen kann, es sei denn nach einer entsprechenden jahrelangen Ausbildung. (Vgl. Dammer 2015, S.134) Dammers Urteil über diese Entwicklung ist vernichtend: „Von Objektivität kann nicht mehr die Rede sein, wenn diese nur noch auf der Ebene mathematischer Abstraktion als allgemeingültige Aussage ... zu haben ist und sich nicht mehr an dem Objekt orientiert, das es zu erkennen gilt.“ (Dammer 2015, S.185)

Die Verbindung von Empirismus und Rationalismus wurde also dadurch möglich, daß eine bestimmte Methode der Erkenntnis monopolisiert wurde. Indem jeder anderen Form der Erkenntnis die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde, wurde der Zweck der Forschung der Methode untergeordnet:
„So stand das von ihm (Bacon – DZ) erstmals in seinen Grundzügen formulierte Modell der neuzeitlichen Wissenschaft in letzter Konsequenz vor dem Dilemma, zu seiner Begründung entweder auf die von ihm zu überwindende Metaphysik zurückzugreifen oder eingestehen zu müssen, dass es sich in einem erkenntnistheoretischen Zirkel bewegt, in dem der Erkenntnisgegenstand menschlichen Interessen entsprechend so präpariert wird, dass er theoretisch und praktisch zu beherrschen ist, das Subjekt also im Objekt nur die Struktur erkennt, die es diesem vorab gab.“ (Dammer 2015, S.59)
Glaubte sich Descartes vor diesem Zirkel noch durch die metaphysische Setzung göttlicher Vollkommenheit retten zu können, wurde er letztlich doch zum Prinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaft.

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Samstag, 12. Dezember 2015

Karl-Heinz Dammer, Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Hohengehren 2015

(Schneider Verlag Hohengehren, 203 S., kt., 19.80 €)

1. Zusammenfassung
2. „Mathematisierung der Wirklichkeit“
3. Gouvernementalität und Kybernetik
4. „Spirale der Bedeutungslosigkeit“
5. Geisteswissenschaftliche Empirieverweigerung?
6. Gesellschaft und Vernunft

Karl-Heinz Dammers Buch „Vermessene Bildungsforschung“ (2015) bildet eine gleichermaßen gesellschaftskritische wie wissenschaftskritische Auseinandersetzung mit der empirischen Bildungsforschung, für die insbesondere die verschiedenen PISA-Studien seit dem Anfang dieses Jahrtausends stehen. Dammer wirft der Bildungsforschung und ihren schon in den 1990er Jahren einsetzenden Large-Scale-Studien vor (vgl. Dammer 2015, S.100), ein neoliberales Instrument zur gesellschaftlichen Umgestaltung in Richtung auf eine „wissenschaftliche Menschenwirtschaft“ zu sein, wie sie vom „Taylorismus“ zu Anfang des 20. Jhdts. entworfen wurde (vgl. Dammer 2015, S.147; zum Taylorismus vgl. auch meinen Post vom 08.02.2014).

Dammer, der sich selbst wissenschaftlich der „Frankfurter Schule“, also der Kritischen Theorie zuordnet (vgl. Dammer 2015, S.18), weist auf die enge historische und politische Verbindung des Neoliberalismus mit dem Positivismus von Comte, Popper und Brezinka hin: „Der Neoliberalismus, so die These, konnte sich nur mit Hilfe des Positivismus durchsetzen(,) und umgekehrt konsolidiert der totalitäre Herrschaftsanspruch des Neoliberalismus wiederum dieses Denkmodell, so dass eine Art Symbiose von wissenschaftlicher Theorie und gesellschaftlicher Praxis entstand.“ (Dammer 2015, S.59)

Um den langen, bis ins 17. Jhdt. zurückreichenden historischen Vorlauf des Positivismus kenntlich zu machen, spricht Dammer auch von der „traditionellen Theorie“, eine Begriffsprägung, die von Max Horkheimer (1895-1973) stammt. (Vgl. Dammer 2015, S.3) Dennoch betont Dammer jenseits des bloß Historischen die brisante Aktualität dieses Paradigmas, dem es „gelungen ist, sich nicht nur als im Wesentlichen bis heute gültiges Wissenschafts- und Weltverständnis der Moderne zu etablieren, sondern auch praktisch wirksam zu werden“. (Vgl. Dammer 2015, S.18)

Den Neoliberalismus bezeichnet Dammer als halbierten Liberalismus, der den Anspruch einer für die Autonomie des Individuums eintretenden Aufklärung aufgegeben hat. An die Stelle der individuellen Autonomie setzt der Neoliberalismus die Freiheitsrechte des Marktes:
„Der Neoliberalismus spaltet, sehr pointiert gesagt, den Doppelcharakter des traditionellen Liberalismus als ökonomischer und politischer Doktrin, indem er die ökonomische Seite verabsolutiert, d.h. deren Geltung auch für alle anderen gesellschaftlichen Sphären behauptet und dabei das politische Moment des Liberalismus zwar nicht vollkommen tilgt, es aber seines ursprünglich emanzipatorischen Charakters beraubt. Symptomatisch dafür ist die Margaret Thatcher zugeschriebene Formel ‚TINA‘ (‚There is no Alternative‘), als Ausdruck einer zutiefst illiberalen Haltung ...“ (Dammer 2015, S.1)
Der Positivismus unterstützt diese politische Agenda, indem er die Wirklichkeit ‚mathematisiert‘ (vgl. Dammer 2015, S.8) und so den „menschlichen Faktor“ () vergessen macht (vgl. Dammer 2015, S.52). Der den individuellen Verstand stärkende und auf die menschliche Sinnlichkeit gerichtete Anspruch auf Evidenz wird zu einem mathematischen Konstrukt, das nur noch Experten zugänglich ist:
„... ‚Evidenz‘ hat, wie gezeigt wurde, im Zusammenhang mit ‚evidenzbasierter Forschung‘ eine andere Bedeutung als im alltäglichen Sprachgebrauch, da sie nicht etwas dem Augenschein unmittelbar Einleuchtendes bezeichnet, sondern im Gegenteil das Ergebnis eines komplexen Abstraktionsprozesses; evident in diesem Sinne sind erst die von empirischer Forschung mit Objektivitätsanspruch produzierten Daten. Die Umdeutung des alltagssprachlichen Begriffs zu einem szientifischen Terminus technicus hat zur Folge, dass die wissenschaftlich vermittelte und für Laien kaum mehr nachvollziehbare Evidenz als das selbstverständlich Wahre, unmittelbar Einleuchtende erscheint und folglich nur noch die Forschung angebetet wird, die sich dieses Hochwert-Etiketts bedient ...“ (Dammer 2015, S.179)
Wissenschaftliche ‚Empirie‘ beruht also nicht mehr auf sinnlicher ‚Erfahrung‘. An die Stelle sinnlicher Phänomene treten mathematisch konstruierte und experimentell kontrollierte Effekte: „Induktion ist somit genaugenommen keine Methode der Erkenntnis von Phänomenen, sondern der Herstellung von wissenschaftlichen Artefakten zum Zweck rationaler Erkenntnis: ‚Das Phänomen wird zum Effekt. ...‘“ (Dammer 2015, S.20)

Dammers wichtigste These, auf die er im Verlauf seines Buches immer wieder zurückkommt, besteht darin, daß es sich bei der PISA-Studie wie überhaupt bei der empirischen Bildungsforschung, die sich dieser Mathematisierung ihres Gegenstands, also von Lernen und Bildung, bedient, „nur noch den Instrumenten, aber nicht mehr dem Zweck nach um Forschung handelt, da nicht die adäquate Erkenntnis des Gegenstands (Bildung) im Vordergrund steht, sondern dessen wissenschaftliche Formung für Herrschaftszwecke“. (Vgl. Dammer 2015, S.6)

Der Herrschaftscharakter der traditionellen Theorie ruht also auf zwei Säulen: der Entmündigung des Laien und seines Verstandes, der gehalten ist, sich den abstrakten Evidenzansprüchen einer Expertokratie zu unterwerfen, und auf dem damit einhergehenden Argumentationsverzicht der Politik, die ihre Entscheidungen nur noch „evidenzbasiert“ fällt (vgl. Dammer 2015, S.151), ohne sich dem Laien gegenüber dafür rechtfertigen zu müssen: „Eine an standardisierter Messung und Quantifizierung orientierte Wissenschaft ist einer dieser (Herrschaft sichernden – DZ) Faktoren, da ihre Prinzipien mit denen der Ökonomie kompatibel sind und damit nicht nur technologieförmige Lösungen gesellschaftlicher Probleme nahelegen, sondern auch die scheinbar objektive Rechtfertigung für eine daran sich orientierende Steuerung liefern, so dass sich eine politische Debatte erübrigt ...“ (Dammer 2015, S.5) – Ein aktuelles Paradebeispiel für eine solche Politik ist das Freihandelabkommen TTIP, das schwerwiegende Weichenstellungen für die wirtschaftliche Zukunft Europas beinhaltet und das unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausschließlich von ‚Experten‘ verhandelt wird.

An die Stelle einer öffentlichen Argumentation tritt die Propaganda. Dammer geht so weit, das Verhältnis von Medien, Wissenschaft und Politik mit dem Irakkrieg zu vergleichen:
„Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik lässt sich dabei mit dem ‚embedded journalism‘ vergleichen, jener Form der Berichterstattung, die erstmals im Irakkrieg 2003 angewandt wurde und staatlich bzw. militärisch kontrollierten Journalismus bezeichnet, der die Öffentlichkeit nur über das informiert, was der eigenen Seite genehm ist bzw. die Legitimität der militärischen Intervention nicht infrage stellt und damit die Medien als ‚Vierter Gewalt‘ in ihrer verfassungsmäßig zugestandenen Freiheit einschränkt. Ziel dieser Studie ist, nachzuweisen, dass und warum es sich mit der aktuell vornehmlich praktizierten Form der Bildungsforschung ähnlich verhält.“ (Dammer 2015, S.2)
Das wichtigste Instrument einer den Argumentationsverzicht kaschierenden wissenschaftspolitischen Propaganda besteht in der Umwandlung von Qualitäten in Zahlen bzw., wie bei den PISA-Studien, in „Punkte-Qualität“. (Vgl. Dammer 2015, S.2) Lernen und Bildung, die eine irreduzible Komplexität bilden, werden auf wenige Variablen zurückgeführt, die wiederum in Punkte übersetzt werden, die es ermöglichen, Rankinglisten zu erstellen. Das verleiht den Studienergebnissen die objektive „Aura der Mathematik“ und gibt den Medien zugleich die Möglichkeit, ein gesellschaftliches Drama im internationalen Konkurrenzkampf um die bestmögliche Ausnutzung des Humankapitals zu inszenieren:
„Die Zahlen lassen sich zu einer einfachen und vor allem – im Gegensatz zu kontroversen bildungspolitischen Debatten – eindeutigen Botschaft verdichten, die auf dem durch neoliberale Propaganda bereits präparierten Terrain auf fruchtbaren Boden fällt und etwa so zusammengefasst werden kann: Das deutsche Schulsystem kann im globalen Standortwettbewerb nicht mehr mithalten und produziert darüber hinaus eine normativ inakzeptable soziale Ungerechtigkeit, weswegen es dringend einer Reform bedarf.“ (Dammer 2015, S.167)
Inwieweit die evidenzbasierten Zahlen der Realität des individuellen Lernens und individueller Bildung tatsächlich entsprechen, wird nicht mehr diskutiert. An die Stelle des Arguments tritt die „Suggestionskraft des Rankings“. (Vgl. Dammer 2015, S.169)

So weit entspricht Dammers Darstellung der aktuellen Bildungsforschung und der aktuellen bildungspolitischen Debatten meinen eigenen Erfahrungen. Erhellend sind dabei Dammers wissenschaftshistorische Ausführungen zum Bündnis zwischen Positivismus und Neoliberalismus, auf die ich auch in den folgenden Posts noch detailliert eingehen werde. Überrascht hat mich aber eine Bemerkung Dammers über einen zunehmenden Widerstand gegenüber dieser Art der technologischen Instrumentalisierung von Wissenschaft, der sich Dammer zufolge „an allen Fronten sowohl bildungspolitisch als auch in Form theoretischer wie methodologischer Kritik an der neoliberalen Zielsetzungen verpflichteten Bildungsforschung und nicht zuletzt in der pädagogischen Praxis regt“. (Vgl. Dammer 2015, S.1)

Das klingt unerwartet hoffnungsvoll, denn mir selbst ist eine solche Kritik bislang entgangen. Das von mir in diesem Blog bereits besprochene Buch von Brügelmann und jetzt das von Dammer sind für mich die ersten, längst und sehnlichst erwarteten Anzeichen einer solchen Kritik. Ich habe eher den Eindruck, daß Dammers hoffnungsvoller Ausblick vor allem der kritischen Perspektive der Frankfurter Schule zu verdanken ist, in derem Rahmen eine solche Kritik am Herrschaftscharakter der traditionellen Theorie und des Neoliberalismus natürlich immer schon rege gewesen und entsprechend aktuell ist.

Vielleicht schränkt Dammer deshalb letztlich auch selbst seine wohl allzu optimistische Feststellung im weiteren Verlauf seines Buches wieder ein. So konstatiert er beispielsweise, „dass sich das Wissenschaftsverständnis der traditionellen Theorie normativ hat durchsetzen können() und nach wie vor wirksam ist – in der Erziehungswissenschaft wohl so wirksam wie nie zuvor“. (Vgl. Dammer 2015, S.18) An wieder anderer Stelle bescheinigt er der empirischen Bildungsforschung, daß sie sich „gegenwärtig auf einem historisch verbrieften Erfolgskurs“ befinde (vgl. Dammer 2015, S.103), deren Erfolg sich auch an „den bisher relativ wirkungslos erscheinenden Einwänden der Kritiker“ zeige (vgl. Dammer 2015, S.149). Nur gegen Ende seines Buches wagt Dammer noch einmal eine etwas optimistischere Prognose: „Erst in der Berichterstattung zu der 2013 erschienenen PISA-Studie sind erste kritische Stimmen von Journalisten zu vernehmen und ist die Bereitschaft zu erkennen, auch PISA-Kritikern aus der Wissenschaft ein Forum in den Zeitungen zu geben.()“ (Dammer 2015, S.170)

Allerdings schränkt Dammer auch diesen vorsichtig hoffnungsvollen Ausblick noch einmal ein: „Was daraus folgt, bleibt abzuwarten.“ (Ebenda)

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(Dammers Entgegnung auf meine Kommentare)

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Bildungs- und Kompetenzbegriff der ersten PISA-Studie

1. Basiskompetenzen versus vollständige Menschenbildung
2. Das Exemplarische und die Bildungsstandards
3. Gefühlte Kompetenz

In der PISA-Studie werden insgesamt fünf Basiskompetenzen aufgezählt, von denen zwei, die naturwissenschaftliche und die mathematische Grundbildung, auf einem kognitiven Kompetenzbegriff beruhen. Eine dritte bereichsübergreifende Kompetenz stellt die Lesekompetenz dar. Weitere zwei Basiskompetenzen, das selbstregulierte Lernen und die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, stellen komplexe Handlungskompetenzen dar, die nach den Autoren der PISA-Studie „auf dem Zusammenspiel kognitiver, motivationaler und emotionaler Komponenten“ beruhen und deshalb durch Tests „vergleichsweise schwierig“ zu erfassen sind. (Vgl. PISA 2000, S.22)

Diesen Basiskompetenzen entsprechen „Modi der Welterfahrung“ (PISA 2000, S.21), „Modi der Weltbegegnung“ bzw. „Modi des Weltzugangs“ (Expertise 2003, S.55), die zugleich die einzelnen Schulfächer bündelnde Wissensbereiche bzw. Domänen darstellen, nämlich kognitive, moralisch-evaluative, ästhetisch-expressive und religiös-konstitutive ‚Rationalitätsformen‘ (vgl. PISA 2000, S.21) bzw. kognitiv-instrumentelles, ästhetisch-expressives, normativ-evaluatives und konstitutives Orientierungswissen (vgl. Expertise 2003, S.55). Mit „Modi des Weltzugangs“ sind also komplexe, subjektive und intersubjektive Weisen des Selbst- und Weltverhältnisses gemeint. Wichtig ist vor allem der Hinweis, daß diese Kompetenzen hinsichtlich ihres Beitrags zum Lösen von Problemen als Aspekte einer allgemeinen Problemlösefähigkeit konzipiert wurden. (Vgl. PISA 2000, S.22)

Dies ist so zu verstehen, daß die einzelnen Kompetenzen die allgemeine Problemlösefähigkeit im Hinblick auf „bestimmte Arten von Problemen“ bzw. hinsichtlich „konkrete(r) Anforderungssituationen eines bestimmten Typs“ konkretisieren sollen. Ähnlich wie die verschiedenen Rationalitätsformen einzelne Fächer zu Lernbereichen bzw. Domänen zusammenfassen, fassen die Kompetenzen einzelne fachliche Leistungen zu „Leistungsspektren“ zusammen. Sie befinden sich demnach auf einer mittleren Lernzielebene zwischen den fachlichen Zielen und den allgemeinen Bildungszielen des konkreten Schulunterrichts, in den hinein sie übersetzt werden sollen. (Vgl. Expertise 2003, S.45-73) In den einzelnen Fächern werden dann fachspezifische „Anforderungsbereiche“ identifiziert, denen wiederum die verschiedenen Kompetenzstufen, die die Schüler faktisch erreichen, zugeordnet werden.

Wir haben es also mit einem neuerlichen Versuch der Hierarchisierung von Lehr-Lernzielen und ihrer Gleichsetzung mit den Lern- und Bildungszielen der Schüler zu tun (vgl. Rumpf 2004, S.199-203), was auch in der Outputorientierung der PISA-Studie zum Ausdruck kommt. Mit der Redeweise von den ‚Kompetenzen‘ geht deshalb keine Bedeutungsdifferenzierung zu den Lernzielhierarchien einher. In der PISA-Studie wird zwar trotz Outputorientierung noch deutlich zwischen kognitiven Kompetenzen und Handlungskompetenzen unterschieden, und es wird dort auch noch eigens auf die Bedeutung des  „reflexiven Zugangs“ zur Welt verwiesen (vgl. PISA 2000, S.21), was eine Unterscheidung der Aneignungsdimension auf Seiten des Lernenden von der Vermittlungsdimension von Lehr-Lernzielen beinhaltet. Dennoch trifft Lutz Kochs Kritik zu, daß das Selbstverhältnis des Schülers hier keine Rolle spielt, denn es fehlt die „Applikation“ weltlicher Zusammenhänge auf das eigene Selbst. (Vgl. Koch 2004, S.187) Auch Heinz-Elmar Tenorth bezeichnet die fehlende Reflexivität des von ihm vertretenen Grundbildungskonzepts als bislang ungelöste Problematik. (Vgl. Tenorth 2004, S.179)

Wenn der Kompetenzbegriff aber nicht einfach nur eine neue Redeweise darstellen soll, in der alte Inhalte auf eine neue Weise etikettiert werden, ohne daß damit  auch eine Bedeutungsdifferenzierung einhergeht, reicht es nicht, additiv verschiedene ‚Kompetenzen‘ zusammenzustellen, wie das in den diversen Kompetenzrastern der Bundesländer geschieht. Es reicht  auch nicht, ihre Funktionalität und Alltagstauglichkeit in den Vordergrund zu stellen. Zunächst muß vielmehr die Frage beantwortet werden, welches spezifische Bedeutungspotential dem Kompetenzbegriff innewohnt.

Zunächst können wir festhalten, daß eine etymologische Verwandtschaft mit dem Appetenzbegriff besteht, – einem Begriff aus der Verhaltensforschung (Biologie), der die aktive Suche von Tieren nach reizauslösenden Signalen beschreibt. Auf der Ebene des Menschen gibt es hierzu eine Analogie im Begriff des ‚Appetits‘. Wir haben es mit einem der menschlichen Intentionalität entsprechenden Verhalten auf der Instinktebene zu tun.

Auch bei den ‚zentripetalen Kräften‘ haben wir eine diesmal physikalische Analogie zur menschlichen Intentionalität vorliegen: zentripetale Kräfte ‚streben‘ immer zu einer Mitte, einem Zentrum hin. Das erinnert an die Zweckgerichtetheit menschlichen Handelns. Diese Zweckgerichtetheit wohnt auch dem Kompetenzbegriff inne, und er teilt mit dem Begriff der Appetenz den Bezug auf die Bedürfnisse eines Individuums. Zugleich verweist er auf eine kollektive Bedürfnisorganisation: ‚com-petere‘, im Sinne von gemeinsam etwas bedürfen bzw. gemeinsam nach etwas streben. Das entspricht der geteilten bzw. gemeinsamen Intentionalität bei Tomasello.

Die folgenden Ausführungen entsprechen in weiten Teilen einem Stichwortartikel zur „Kompetenz“ im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (1976).

Ursprünglich bezeichnete der Kompetenzbegriff im römischen Recht als beneficium competentiae die Grundbedürfnisse eines Schuldners, seinen notwendigen Lebensunterhalt, der nicht angetastet werden durfte. Als persönliches Attribut wiederum bezog sich der Kompetenzbegriff im römischen Recht auf die Person eines Beamten, auf seine Befugnisse und Zuständigkeiten im Rahmen einer staatlichen Organisation. In der Neuzeit wurde der Kompetenzbegriff  dann zunehmend in diesem Sinne der arbeitsteiligen Organisation eines modernen Staates verstanden.

In der Entwicklungsbiologie wird der Kompetenzbegriff vor allem im Sinne einer inneren Bereitschaft oder Fähigkeit eines embryonalen Organismusses verwendet, z.B. hinsichtlich der an ein enges Zeitfenster gebundenen Entwicklung von Geschlechtsorganen oder hinsichtlich der Fähigkeit der Außenhaut zur Linsenbildung. In der Linguistik verstehen die einen den Kompetenzbegriff als eine „mentale Disposition“, die zu generativen Prozessen des Sprechenlernens befähigt, im Sinne einer „regelgeleiteten Kreativität“, die intuitive und kognitive Aspekte des Sprachgebrauchs miteinander verbindet. Andere binden ihn als kommunikative Kompetenz mehr in einen situativen Kontext ein. (Vgl. Historisches Wörterbuch, Sp.920ff.)

Im Zusammenhang der Pisa-Studie ist vor allem der motivationspsychologische Aspekt des Kompetenzbegriffs interessant, weil  er hier offensichtlich vor allem als eine intrinsische Motivationsform verstanden werden kann, die man z.B. als „Funktionslust“ bzw. als „Wirksamkeitsgefühl“ beschreiben kann: „Die affektiven Begleiterscheinungen der Interaktion mit der Umwelt werden als Wirksamkeitsgefühl bezeichnet (feeling of efficacy). Das Wirksamkeitsgefühl begleitet bereits die Ausführung von Handlungen, während bei anderen Trieben, z.B. beim Hungertrieb die Befriedigung erst der letzteren Handlungsphase, der konsumatorischen Reaktion, folgt.“ (Vgl. Historisches Wörter buch, Sp.922) – Hinzu kommt als weiterer Aspekt der Kompetenzentwicklung, daß die „Ergebnisse der Entwicklung () zum großen Teil vom Individuum selbst besorgt (sind).“ (Vgl. ebenda)

Motivationspsychologisch gesehen verwirklichen sich Kompetenzen also im Prozeß des Handelns, – unabhängig vom Handlungserfolg. Und sie verwirklichen sich in der Selbstverantwortung des Individuums. Dem liegt ein „undifferenziertes Wirksamkeitsmotiv“ zugrunde, also ein inneres Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, deren konkreten Motive sich erst im Verlauf der Kompetenzentwicklung einstellen. (Vgl. Historisches Wörterbuch, Sp.922) – So weit die Ausführungen im Stichwortartikel zur „Kompetenz“ im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (1976).

Der Kompetenzbegriff geht also in zwei Richtungen: zum einen bezeichnet er ein bestimmtes intentionales Bedürfnis bzw. eine innere Bereitschaft des Menschen, sich angesichts von Schwierigkeiten bzw. Lernanlässen zu bewähren; zum anderen bezeichnet er die Funktion eines Menschen im Rahmen organisierter und – wie ich es hier formulieren möchte – ‚institutionalisierter Intentionalitätsstrukturen‘. Als ‚funktional‘ erweist sich der Mensch gleichermaßen hinsichtlich seiner Brauchbarkeit wie hinsichtlich seiner Zuständigkeit, d.h. im Sinne einer institutionell übertragenen Autorität bzw. Befugnis, z.B. in Form eines Amtes. Anders als Fertigkeiten und Fähigkeiten, die noch keine eigene Intentionalität beinhalten, ist der Kompetenzbegriff also schon als solcher intentional. Die funktional modifizierte, institutionell strukturierte Intentionalität bildet allerdings eine spezifische Form des Erwachsenenbewußtseins, die kindlichen und jugendlichen Bedürfnissen gleichermaßen fremd ist. Jan Masschelein und Maarten Simons (2012) weisen darauf hin. (Vgl. meinen Post vom 21.08.2013)

Wir können also zwischen einer subjektiven und einer objektiven Komponente des Kompetenzbegriffs unterscheiden. Hinsichtlich der subjektiven Kompetenz haben wir  es mit einer eigenständigen Lern- und Handlungsmotivation zu tun. Die Lernmotivation und damit das Interesse am Unterricht erfüllt sich intrinsisch in der durch den Unterricht erworbenen, subjektiv gefühlten Kompetenz.

Hinsichtlich der objektiven Kompetenz haben wir es mit dem Zusammentreffen von durch den Unterricht bestätigten (zertifizierten) Leistungen mit entsprechenden Angeboten auf dem Arbeitsmarkt zu tun. Erst  in diesem Zusammentreffen werden bloß individuelle Fertigkeiten und Fähigkeiten zu gesellschaftlich anerkannten, weil monetär honorierten Kompetenzen. Der Arbeitslose gilt nicht als kompetent, – übrigens auch nicht im prägnanten Sinne des PISA-Grundbildungskonzeptes! Aber nicht nur die Arbeitslosigkeit als solche, auch unbezahlte soziale Arbeit wird im Vergleich zu bezahlter Erwerbsarbeit abgewertet.

Kompetenzen unterscheiden sich also nur dann von Fertigkeiten und Fähigkeiten und den mit ihnen verbundenen Lernzielhierarchien, wenn sie in eine entsprechende Zuständigkeit münden, wenn also der jeweilige Absolvent mit einer entsprechenden beruflichen Karriere ‚belohnt‘ wird. Da aber der Schulunterricht und die konkreten Gelegenheiten zu gesellschaftlichen und beruflichen Karrieren verschiedenen Lebensaltern zugeordnet sind, haben wir es hier unausweichlich mit einem Motivationsproblem zu tun. Gelernt wird immer nur für die Zukunft und nicht, hier und jetzt, für die aktuellen Bedürfnisse eines Lernsubjekts.

Beziehen wir hingegen den Kompetenzbegriff intentional auf die subjektiven Bedürfnisse von Lernsubjekten, so lassen sich die verschiedenen Kompetenzen nicht einfach am Ende einer Unterrichtsreihe evaluieren. Wir haben es vielmehr mit einem Bildungsbegriff zu tun, der an die Persönlichkeit des Lernsubjekts gebunden ist. Motivation ist hier kein Problem, sondern ein durch aktuelle ‚Funktionslust‘ gekennzeichneter Lebens- und Bewußtseinsvollzug. Kompetenz ist hier gleichbedeutend mit Motiviert-Sein. Der Schulunterricht stellt mit Bezug auf dieses Kompetenzerlebnis ein Möglichkeitsfeld dar. Seine Qualität macht sich nicht an den bewertbaren Leistungen der Schüler fest, sondern an den Möglichkeiten, die er ihnen bietet, die eigene Wirksamkeit zu erleben und zu erproben.

Der Kompetenzbegriff ist also in intentionaler und in funktionaler Hinsicht gleichermaßen für auf das Lernsubjekt gerichtete Evaluationsmaßnahmen ungeeignet: in der ersten Hinsicht kann kein Test erfassen, welche Wirksamkeitserfahrungen das Lernsubjekt tatsächlich gemacht hat, und in der zweiten Hinsicht geht es vor allem um die gesellschaftliche Nachfrage, also um die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und nicht um die Schüler selbst. Soll im letzteren Sinne dennoch das Lernsubjekt hinsichtlich seiner gesellschaftlichen bzw. beruflichen Brauchbarkeit evaluiert werden, so kann auch hier wiederum nur von Leistungskriterien die Rede sein. In diesem Zusammenhang suggeriert der Begriff des Bildungsstandards eine Lösung des Motivationsproblems, das sich mit dem Begriff der Leistungskriterien allererst stellt. Mit anderen Worten: das (Lern-)Motivationsproblem stellt sich nur im Rahmen einer Konfrontation des Lernsubjekts mit Leistungsansprüchen, deren Sinn sich ihm in seiner aktuellen Lebensphase nicht ohne weiteres erschließt. Das ändert sich auch nicht dadurch, daß wir das Etikett wechseln und stattdessen von Bildungsstandards sprechen.
  • Literatur: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001
  • Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des„Wörterbuchs der Philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler“, Bd.4, hrsg.v.Joachim Ritter † und Karlfried Gründer, Basel/Darmstadt1976, Sp. 918-933
  • Eckhard Klieme/Hermann Avenarius/Werner Blum/PeterDöbrich/HansGruber/Manfred Prenzel/Kristina Reiss/Kurt Riquarts/Jürgen  Rost/Heinz-Elmar Tenorth/Helmut J. Vollmer, Zur Entwicklung nationalerBildungsstandards. Eine Expertise, hrsg.v. Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a.M. 2003
  • Lutz Koch, Allgemeinbildung und Grundbildung, Identität oder Alternative?,in: ZfE., Heft 2/2004, S.183-191
  • Horst Rumpf, Diesseits der Belehrungswut. Pädagogische Aufmerksamkeiten, Weinhem/München 2004
  • Heinz-Elmar Tenorth, Stichwort: „Grundbildung“ und„Basiskompetenzen“. Herkunft, Bedeutung und Probleme im Kontext allgemeiner Bildung, in: ZfE., Heft 2/2004a S.169-182
  • Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2002
  • Detlef Zöllner, Lernen und Leistung. Zur Intentionalitätsstruktur von Schule und Unterricht. Überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, Norderstedt/Leipzig 2006
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Mittwoch, 2. Dezember 2015

Bildungs- und Kompetenzbegriff der ersten PISA-Studie

1. Basiskompetenzen versus vollständige Menschenbildung
2. Das Exemplarische und die Bildungsstandards
3. Gefühlte Kompetenz

In der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde in den 1950er Jahren ebenfalls nach einer Methode gesucht, den Schulunterricht so zu gestalten, daß sich das individuelle Potential der einzelnen Schüler bestmöglich entfalten konnte. Die damalige Antwort auf diese Frage war das Exemplarische, das dem heutigen Begriff des Bildungsstandards entspricht, sich aber auf bezeichnende Weise von ihm unterscheidet. Das Exemplarische bildete den geisteswissenschaftlichen Versuch, die Erkenntnis- und Umgangsdimensionen des individuellen Weltverhältnisses in umfassender Weise zu erweitern.

Der Versuch, exemplarische Lerngegenstände zu bestimmen, die in besonderer Weise dazu geeignet erschienen, das Mensch-Weltverhältnis zu entfalten und zu erweitern, war mit einer Debatte zur Reduzierung der Stoffülle verbunden. In diesem Sinne haben wir es mit einer Input-Orientierung des Schulunterrichts zu tun, die das exemplarische Möglichkeitsfeld abstecken sollte, innerhalb dessen, wie man damals hoffte, die Schüler ihre Lern- und Bildungspotentiale entdecken und realisieren konnten.

Im Unterschied zu dieser Input-Orientierung ist die von der ersten PISA-Studie (2001) angestoßene Diskussion um die Bildungsstandards output-orientiert. Die Frage ist hier aber, wie zwischen ‚Input‘ und ‚Output‘ zu differenzieren ist. Im Grunde kann ‚Input‘ gleichermaßen die Ebene der Schulfächer und ihrer Inhalte meinen (Kerncurriculum) wie die Ebene der Lern- und Bildungsziele, die sich auf der Lehrplanebene in den verschiedenen Kompetenzmodellen niederschlagen. Im letzteren Sinne, als Kompetenzmodelle, sind sie in genau dem Sinne ‚Input‘, als sie den Schulunterricht von Beginn an darauf festlegen, was die Schüler am Ende gelernt haben sollen. Lehrer wie Schüler haben sich an diesen Vorgaben zu orientieren: insofern also ‚input-orientiert‘.

Da wir es hier aber eben auch mit einer Vorwegnahme von Bildungszielen zu tun haben, sind die Bildungsstandards natürlich auch als ‚output‘-orientiert zu verstehen, – also als outputorientierter Input. Dieser ‚Output‘ macht sich, trotz seiner gelegentlichen Abmilderung zum ‚Outcome‘, letztlich vor allem daran fest, was am Ende einer Unterrichtsreihe oder einer Schullaufbahn in Tests und Prüfungen bei den Schülern als deren ‚Leistung‘ gemessen wird. Bildungsstandards sollen also irgendwie beides ermöglichen: einerseits den ‚Input‘ eines Kerncurriculums samt Kompetenzmodellen definieren und andererseits zugleich die Lernergebnisse und den Bildungserfolg der Schüler (Output) meßbar machen, also gleichzeitig Standards für die Qualität des Schulunterrichts und Kriterien für die Leistungsbewertung liefern.

Es stellt sich die Frage, ob die Schülerleistungen für diese umfassende Funktionalisierung zu das gesamte Schulsystem abbildenden Meßobjekten überhaupt taugen und ob man hier nicht noch einmal zwischen Bildungsstandards und Kriterien der Leistungsbewertung unterscheiden müßte. Der Begriff der ‚Bildung‘ bezieht sich primär auf das, was der einzelne Schüler für sich von den Angeboten des Schulunterrichts realisiert, und dies bleibt prinzipiell unbeobachtbar. Deshalb läßt sich die ‚Qualität‘ des Schulunterrichts nicht linear an den Schülerleistungen ablesen. Kerncurriculum und Schulkultur schlagen sich nicht einfach in den Schülerleistungen nieder, um dann als Fallout (Output) mit den geeigneten Meßtechniken nachgewiesen werden zu können.

Wir haben es beim Curriculum einer Schule notwendigerweise mit einer Input-Orientierung, nämlich mit Angeboten der jeweiligen Schule zu tun, deren Qualität eigentlich an der Zufriedenheit der Kunden, also der Schüler gemessen werden müßte. Stattdessen werden diese ‚Kunden‘ nun aber selbst zu ‚Produkten‘, denen gegenüber jetzt die ‚Gesellschaft‘ als der eigentliche Kunde auftritt, der der Schule diese ‚Produkte‘ abnimmt und diese – z.B. mittels Qualitätstests am einzelnen Schüler – als mehr oder weniger brauchbar oder unbrauchbar für die Zwecke der gesellschaftlichen Reproduktion befindet. Wenn also von einer Output-Orientierung des Schulunterrichts die Rede ist – pädagogisch abgemildert als mehr den Prozeßaspekt hervorhebenden ‚outcome‘ –, so geht es nicht in erster Linie um den Output für den Schüler, sondern für die Gesellschaft.

Auch dieser Sachverhalt spricht dafür, statt von ‚Bildungsstandards‘ besser von ‚Leistungskriterien‘ zu sprechen: Leistungskriterien richten sich im ganz offen funktionalen Sinne auf die gesellschaftlichen und beruflichen Anschlußfähigkeiten der Schüler. Dieser Funktionalismus der Leistungskriterien kommt objektiv in den administrativen Strukturen des Schulunterrichts wie z.B. in Lehrplänen und Prüfungsordnungen zum Ausdruck. Er hat aber auch eine subjektive Dimension hinsichtlich der Verfügungsinteressen der Lernsubjekte. Die Lernsubjekte bewerten die Qualität des Schulunterrichts hinsichtlich ihrer ‚Anwendbarkeit‘ im Rahmen ihrer eigenen Lebenswelt und hinsichtlich ihrer persönlichen Karrierewünsche.

Beide Leistungserwartungen, objektive wie subjektive, können und müssen kommunikativ aufeinander bezogen und diskursiv miteinander vermittelt werden. Das ändert zwar nichts an ihrem funktionalen Charakter, eröffnet aber im Sinne Klafkis eine emanzipatorisch-kommunikative Perspektive gemeinsamer Bedürfnis- und Interessenkoordination und ihrer Kontrolle.

Quer zu diesem kontrollierten Anschluß- und Anwendungsfunktionalismus steht die Umgangsdimension des Schulunterrichts, in der sich die Bildungsperspektive einer gemeinsamen Zweck-Mittelbestimmung eröffnet, die sich an den Zwecken von Lehrern und Schülern begrenzt. Diese Dimension ist nicht noch einmal im Sinne einer funktionalen Leistungsbewertung einholbar. Nur das schulische und unterrichtliche Möglichkeitsfeld der Umgangsdimension läßt sich standardisieren, nicht aber ihre Realisierung durch die Schüler.

Wollen wir also weiterhin von Bildungsstandards reden, so müssen sie dem am fachlichen Gegenstand (Kerncurriculum) sich messenden individuellen Verstand und den im Umgang (Schulklasse und Schulgemeinschaft) sich entwickelnden sozialen Kompetenzen der Schüler eine Chance geben, und sie müssen zugleich den Schulunterricht in seiner Bewertungs- und Selektionsfunktion begrenzen. Bildungsstandards unterscheiden sich dann als paradoxe Struktur von Kriterien der Leistungsbewertung, weil sie als Standards zur Begrenzung der funktionalen Leistungsbewertung aufgefaßt würden. Salopp formuliert: Bildungsstandards wären dann Standards zur Begrenzung von Standards.

Der Bewertungsanspruch von so verstandenen Bildungsstandards richtet sich weder auf den Lehrer noch auf die Schüler in ihren wechselseitigen Erwartungshaltungen, sondern auf den Schulunterricht als Institution. In diesem Sinne bewerten sie seine Qualität als einen Erfahrungsraum, in dem die Schüler ihre individuellen Perspektiven auf Lerngegenstände und Mitschüler entwickeln, differenzieren und ausleben können. In dieser Funktion würden die Bildungsstandards dem Exemplarischen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entsprechen, ohne dabei auf einen materialen Kanon von Bildungsinhalten festgelegt zu sein. Da die exemplarische Wirkung in der Initiative des Lernsubjekts liegt, verbietet es sich, sie auf die Leistungen im jeweiligen Fachunterricht zu übertragen, als ginge es um ihre kontrollierte ‚Umsetzung‘ wie bei Leistungskriterien.

Wenn wir Bildungsstandards als paradoxe Struktur verstehen, als Standards zur Begrenzung von Standards, kann der Schulunterricht wieder seinem eigentlichen pädagogischen Auftrag gerecht werden und seinen Beitrag zur Entwicklung und Entfaltung des individuellen Potentials der Schüler leisten.

(Literatur: Detlef Zöllner, Lernen und Leistung. Zur Intentionalitätsstruktur von Schule und Unterricht. Überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, Norderstedt/Leipzig 2006)

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Dienstag, 1. Dezember 2015

Bildungs- und Kompetenzbegriff der ersten PISA-Studie

1. Basiskompetenzen versus vollständige Menschenbildung
2. Das Exemplarische und die Bildungsstandards
3. Gefühlte Kompetenz

Nach meiner Besprechung von Hans Brügelmanns Buch „Vermessene Schule – standardisierte Schüler“ (2015) möchte ich an dieser Stelle noch einmal grundsätzlich auf den Bildungsbegriff der ersten PISA-Studie (2001) eingehen. Zu diesem Zweck greife ich auf das Schlußkapitel meiner Habilschrift „Lernen und Leistung“ (2006) zurück. (Vgl. Zöllner 2006, S.365-385)

In der PISA-Studie wird ein Grundbildungskonzept vorgestellt, das sich vom bisherigen Bildungsverständnis abgrenzt. Diesem Bildungsverständnis wirft Heinz-Elmar Tenorth vor, mit seinem „pseudoanthropologisch(en)“ „Idealismus der menschlichen Natur und Bestimmung“ (Tenorth 2004, S.171) und mit seinem „Pathos der hohen Kultur“ (ebenda, S.179) vor allem eine „Reflexionsbarriere()“ für die Analyse der „Systemprobleme der deutschen Schule“ zu bilden (vgl. ebenda, S.169). An die Stelle dieses Bildungsverständnisses soll ein „realistische(r) Blick() auf das Bildungswesen“ (ebenda, S.177) bzw. die Orientierung an einer „für das Funktionieren von Gesellschaften notwendige(n) und unentbehrliche(n) Mindestqualifikation der Bevölkerung“ (ebenda, S.173) treten.

Interessanterweise wird dieser Vorwurf aber nur der (damals noch) aktuellen Bildungstheorie – insbesondere vertreten von Wolfgang Klafki und Dietrich Benner – gemacht, nicht aber den Klassikern des 18. und 19. Jhdts. (Vgl. Tenorth 2004, S.170f.) Die Klassiker der Bildungstheorie haben Tenorth zufolge die Allgemeinbildung „nüchterner, einfacher, weniger ambitiös“ (ebenda, S.170) verstanden, mehr im Sinn einer Grundbildung und nicht so sehr im Sinne eines Ideals. Tenorth versucht das insbesondere an Wilhelm von Humboldt zu demonstrieren. (Vgl. ebenda, S.171f.)

Tenorth glaubt, mit dem funktionalistischen Grundbildungskonzept der PISA-Studie an Humboldt anschließen zu können. Tenorth zufolge verstanden die Klassiker der Bildungstheorie die Grundbildung als ein steigerungsfähiges (graduierbares) Bildungsminimum, das die „verständige Teilhabe an Gesellschaften“ (Tenorth 2004, S.176) sicherstellen sollte. Auf diesem Bildungsminimum aufbauend konnten die Menschen dann ihre Bildung kontinuierlich erweitern, bis dann einige wenige die Universität erreichten und nun an einer „Eliten-Bildung“ teilhaben konnten, die der ‚Masse‘ versagt bleiben mußte. (Vgl. ebenda, S.171) Schon das klassische Grundbildungskonzept war also „‚standes‘- bzw. berufsspezifisch“ (ebenda).

Schon Wilhelm von Humboldt hatte Tenorth zufolge zwischen einer „Bildung für die Massen“ (Tenorth 2004, S.171), im Sinne einer Allgemeinbildung als Bildung für alle, und einer „Elitebildung“, im Sinne einer „erweiterte(n) Allgemeinbildung“ (vgl. ebenda, S.173) für wenige, unterschieden. Humboldts Begründung einer Grundbildung für die Masse ist Tenorth zufolge im PISA-Sinne auch heute noch funktional, die Begründung für die Elitebildung im Sinne der von ihm kritisierten ‚aktuellen‘ Bildungstheorie ist inzwischen hingegen „pseudoanthropologisch“ und „sozial entleert“. (Vgl. ebenda, S.171)

An die funktionale Bescheidenheit der Klassiker, an deren „Nüchternheit des Weltzugangs“ will Tenorth mit einem Konzept einer aus Basiskompetenzen zusammengesetzten Grundbildung anknüpfen, die „in ein Kontinuum von Steigerungsformen“ integriert sind, die nun aber kein „standesspezifisches Begrenzungsprogramm“ mehr darstellen sollen. (Vgl. Tenorth 2004, S.176) Allerdings bleibt Tenorth eine Differenzierung schuldig, inwiefern der pragmatische Funktionalismus der „Orientierung an Verwendungssituationen“ (ebenda, S.175) eben keine standesspezifischen – heute würde man eher sagen: schicht- und berufsspezifischen – Konsequenzen haben soll. Gerade eine der Sicherung der „Funktionserwartungen von Nation und Gesellschaft“ (ebenda, S.171) dienende „outputorientierte Kontrolle“ (ebenda, S.172f.) des Bildungsminimums reproduziert die standesspezifischen Strukturen, wie sie ja auch die PISA-Ergebnisse aufs Neue ans Licht gebracht haben.

Tenorths weitere institutionstheoretische Reflexionen zum eigentlichen Bildungsauftrag der Schule gehen im übrigen weniger in Richtung auf eine Output-Orientierung der Leistungskontrolle, als vielmehr auf die Input-Orientierung eines Bildungsangebots. So ist von einer „Bringeschuld“ (ebenda, S.177) der Schule den Schülern gegenüber die Rede – also im Sinne eines schulischen Angebots –, die einen Mindeststandard absichern soll. Und es ist davon die Rede, daß die Schule „einen ‚Lernanlass‘ neben anderen darstellt“. (Vgl. ebenda; ganz ähnlich die Expertise der Bundesregierung: Expertise 2003, S.56) Sowohl der Hinweis auf die „Bringeschuld“ wie auch die Rede von Lernanlässen verweisen auf die Inputseite, nicht auf die Outputseite der ‚Bildungsblackbox‘.

Was unterscheidet nun die Orientierung an der institutionellen Bringeschuld der Schule – im Sinne einer Sicherstellung von Lernanlässen – von an Schülerleistungen orientierten Output-Kontrollen? Das läßt sich am besten am Humboldtschen Allgemeinbildungsbegriff demonstrieren, den Tenorth in ganz und gar nicht zutreffender Weise für seinen neuen Bildungsbegriff in Anspruch nimmt. Humboldts Konzept der Allgemeinbildung war eben nicht gemeint als eine ‚erweiterbare‘ Grundbildung im Sinne einer Massen-Bildung. Ihm ging es im Gegenteil um „vollständige Menschenbildung“ von Anfang an, also schon vom Elementarunterricht an. (Vgl. Humboldt 3/1982, S.175) ‚Bescheiden‘ war Humboldt nur in der Hinsicht, als der Elementarunterricht „bloss in Stand setzen“ sollte, „Gedanken zu vernehmen, auszusagen, zu fixiren, fixirt zu entziffern ... Er ist noch nicht sowohl Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet, und ihn erst möglich macht. Er hat es also eigentlich nur mit Sprach-, Zahl- und Mass-Verhältnissen zu thun, und bleibt, da ihm die Art des Bezeichneten gleichgültig ist, bei der Muttersprache stehen.“ (Humboldt 3/1982, S.169)

Wir haben es hier ausdrücklich nicht mit einem anwendungsorientierten Funktionalismus zu tun: „Nur das Reine lasse man rein. Selbst bei den Zahlverhältnissen liebe ich nicht zu häufige Anwendungen auf Carolinen, Ducaten u.s.f.“ (Humboldt 3/1982, S.194)



Humboldt geht es also um eine den allgemeinen Verstand stärkende formale Bildung und nicht um eine funktionalistische Anwendungsorientierung. Vom formellen Charakter dieses Elementarunterrichts erhofft sich Humboldt einen moralischen Effekt auf den Charakter derjenigen Schüler, die den Schulunterricht nach Beendigung des Elementarunterrichts verlassen und frühzeitig einen Beruf ergreifen müssen: „Je tiefer der Mensch, der nicht höher gebildet werden kann, leider ins Leben eintauchen muss, desto sorgfältiger halte man ihn bei dem wenigen Formellen, was er rein zu fassen im Stande ist. Gerade dies hat auf Moralität durch die Strenge des Pflichtbegriffs, der, wo man gar keine andern reinen Begriffe kennt, nur als Zwang erscheint, und auf Religion durch das Abziehen vom sinnlichen Stoff sehr wesentlichen Einfluss.“ (Humboldt 3/1982, S.194)

Unabhängig davon, ob man Humboldts Position für plausibel halten mag oder nicht, ist doch klar, daß wir es hier nicht mit einem funktionalistischen Grundbildungskonzept zu tun haben. Vielmehr steht hier schon auf der Stufe des Elementarunterrichts die „Vollständigkeit“ der Menschenbildung im Vordergrund, zu der das ‚Leben‘ den Anwendungsbezug („Carolinen, Ducaten u.s.f.“) noch früh genug beitragen wird.

Für den weiteren Unterrichtsgang formulierte Humboldt einen Rahmen historischer, naturwissenschaftlicher, linguistischer und mathematischer Gegenstandsbereiche und bereichsübergreifender ‚Basiskompetenzen‘ wie Sammeln, Vergleichen, Ordnen und Prüfen (vgl. Humboldt 3/1982, S.170), als ein ein Maximum an individueller Differenzierung ermöglichendes schulisches Minimum. Was dieses ‚Maximum‘ betrifft, war Humboldt durchaus unbescheiden: „Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ (Ebenda, S.189)

Humboldts Allgemeinbildungskonzept als „vollständige Menschenbildung“ für alle – nicht etwa als Bildung für die Masse – beinhaltete also keinen Widerspruch zwischen Minimum und Maximum: das Minimum stellten der Elementar- und Schulunterricht zur Verfügung (Angebotsseite). Jeder Schüler macht dann für sich das Maximum daraus (Nachfrageseite). Damit verbunden war ein durchaus pragmatischer Funktionalismus hinsichtlich der nötigen Alltagskompetenzen, die der Elementarunterricht ebenfalls zu vermitteln hatte, wie z.B. Geographieunterricht. Denn die Schüler sollten den Schulbesuch jederzeit abbrechen können, ohne etwas gelernt zu haben, das sie nicht brauchen konnten: „Wenn man, und mit Recht, noch andern Unterricht geographischen, geschichtlichen, naturhistorischen hinzufügt, so geschieht es theils um die durch den Elementarunterricht entwickelten, und zu ihm selbst nöthigen Kräfte durch mannigfaltigere Anwendung mehr zu üben, theils weil man für diejenigen, welche aus diesen Schulen unmittelbar ins Leben übergehen, den blossen Elementar-Unterricht überschreiten muss.“ (Humboldt 3/1982, S.169)

Zu diesem pragmatischen Funktionalismus gesellte sich ein anthropologischer Realismus hinsichtlich der individuellen Bildung; d.h die Schulbildung sollte jederzeit vollständig sein: „Die Pflicht der Schulbehörde bei der Organisation des Schulwesens ist nun, zu verhüten, dass der Schüler einen Weg mache der ihm unnütz seyn würde, wenn er ihn nun nicht auch noch weiter verfolgte. Leider aber ist dies fast immer jetzt bei unsern Schulen der Fall, wenn einer in tertia oder secunda stecken bleibt.“ (Humboldt 3/1982, S.190) – Anthropologisch ist dieser Realismus deshalb, weil er auf ein Bedürfnis des Menschen antwortet, allen Dingen auf den Grund zu gehen, um sie sich so wirklich zueigen machen zu können.

Die Schulbildung ist nämlich genau dann nie sinnlos oder unnütz, wenn man „beim Unterricht nicht auf das Bedürfniss des Lebens, sondern rein auf ihn selbst, auf die Kenntniss, als Kenntniss, auf die Bildung des Gemüths und im Hintergrunde auf die Wissenschaft sieht. Denn im Gemüth und in der Wissenschaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object ist) steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.“ (Humboldt 3/1982, S.190) – Mit „eherne Mauern“ ist hier der den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldete Abbruch des Schulunterrichts gemeint, weil die Kinder oft frühzeitig einen Beitrag zur Existenz ihrer Familie leisten mußten.

Wir haben es hier also, anders als Tenorth meint, weder mit der „Nüchternheit“ von Weltzugängen zu tun, noch mit einem „pseudoanthropologischen“ „Pathos“, sondern mit einer pragmatischen, weil die Natur des Menschen berücksichtigenden Anthropologie.

Die Universität verstand Humboldt zwar tatsächlich als einen Ort der gesellschaftlichen Elite, aber nicht im Sinne einer Funktionselite, die der gesellschaftlichen Reproduktion dient, sondern als Avantgarde! Es ging Humboldt nicht um Elitebildung als solche, sondern um die Bildung der Nation, auf die die Universität als Bildungseinrichtung zurückwirken sollte. Dabei unterschied Humboldt genau zwischen Universität und Akademie. Denn nicht die Universität sollte eine Spezialbildungseinrichtung sein, wie Tenorth meint, sondern die Akademie, die sich nur der Forschung widmet, also nur der Wissenschaft, und nicht der Bildung. Die Universität sollte hingegen forschen und lehren! Sie war Teil des Humboldtschen Allgemeinbildungskonzepts, das sich vom Elementarunterricht über den Schulunterricht bis zum Universitätsunterricht erstreckte und durchaus im Tenorthschen Sinne als Konzept ständiger Steigerung, als Höherbildung gedacht gewesen ist:
„Die Wissenschaften sind gewiss ebenso sehr und in Deutschland mehr durch die Universitätslehrer, als durch die Akademiker erweitert worden, und diese Männer sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Musse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft. Der Gang der Wissenschaft ist offenbar auf einer Universität, wo sie immerfort in einer grossen Menge und zwar kräftiger, rüstiger und jugendlicher Köpfe herumgewälzt wird, rascher und lebendiger.“ (Humboldt 3/1982, S.262)
Der Grundgedanke dieser Höherbildung war gleichermaßen individuell wie gesellschaftlich, aber ganz und gar nicht standesspezifisch. Die Allgemeinbildung sollte zur individuellen, standesunabhängigen Differenzierung des Menschen beitragen und gleichzeitig über dessen individuelle Bildung auf den gesellschaftlichen Umgang der Menschen zurückwirken:
„Uebersieht man diese Laufbahn von den ersten Elementen bis zum Abgang von der Universität, so findet man, dass, von der intellectuellen Seite betrachtet, der höchste Grundsatz der Schulbehörde (den man aber selten aussprechen muss) der ist: die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervorzubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen Verschiedenheiten, auf den Weg bringt, der, weiter verfolgt, zu ihr führt, und zu dem Punkte, wo sie und ihre Resultate nach Verschiedenheit der Talente und Lagen, verschieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden können, und also den Einzelnen durch die Begeisterung, die durch reine Gesammtstimmung geweckt wird, zu Hülfe kommt.“ (Humboldt 3/1982, S.191f.)
So sollten sich beide ‚Pole‘ ständig gegenseitig ‚reformieren‘ bzw. aneinander ‚empor‘ bilden: das Individuum an der Gesellschaft und die Gesellschaft am Individuum. Dabei handelt es sich vom Elementarunterricht bis zum Universitätsunterricht um eine reine ‚Input‘-Orientierung der Allgemeinbildung, der auf der Seite der Aneignung eine entsprechende Motivation der Schüler und Studenten entspricht. Diese Motivation bzw. „Sehnsucht“, wie Humboldt sagt, „sich zur Wissenschaft zu erheben“, kennzeichnet den gelungenen Schulunterricht im Übergang zum Universitätsstudium. (Vgl. Humboldt 3/1982, S.260f.) Beides entzieht sich einer outputorientierten Kontrolle: „Daher hat der Universitätsunterricht keine Gränze nach seinem Endpunkt zu, und für die Studirenden ist, streng genommen, kein Kennzeichen der Reife zu bestimmen. Ob, wie lange, und in welcher Art derjenige, der einmal im Besitze tüchtiger Schulkenntnisse ist, noch mündlicher Anleitung bedarf? hängt allein vom Subject ab.“ (Humboldt 3/1982, S.170f.)

Was die vollständige Menschenbildung betrifft, ist damit eben keine graduierbare, also steigerbare Allgemeinbildung resp. Grundbildung gemeint, sondern eine am „Object“ orientierte, auf das Lernsubjekt zurückwirkende Vollständigkeit. Im „Gemüth“, so Humboldt, „steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden“. (Vgl. Humboldt 3/1982, S.190) – Es ist also die Vollständigkeit des Lerngegenstands, für das sich ein Lernsubjekt interessiert, auf die es ankommt. Der Lerngegenstand bildet ein Weltganzes, das mit allem in Verbindung steht und so den Horizont des Lernsubjekts auf die Welt hin erweitert. Mit jedem speziellen Interesse, das der Schulunterricht in den Schülern zu wecken vermag, ist diese Vollständigkeit (und der Übergang zur Universität) immer schon gegeben.

  • Literatur: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001
  • Eckhard Klieme/Hermann Avenarius/Werner Blum/Peter Döbrich/Hans Gruber/Manfred Prenzel/Kristina Reiss/Kurt Riquarts/Jürgen Rost/Heinz-Elmar Tenorth/Helmut J. Vollmer, Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hrsg.v. Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a.M. 2003
  • Wilhelm von Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (IX 1809), in: Werke in fünf Bänden, Bd. IV, 3/1982, S.168-195
  • Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Werke in fünf Bänden, Bd. IV, 3/1982, S.255-266
  • Heinz-Elmar Tenorth, Stichwort: „Grundbildung" und „Basiskompetenzen". Herkunft, Bedeutung und Probleme im Kontext allgemeiner Bildung, in: ZfE., Heft 2/2004, S.169-182
  • Detlef Zöllner, Lernen und Leistung. Zur Intentionalitätsstruktur von Schule und Unterricht. Überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Habilitationsschrift, Norderstedt/Leipzig 2006)

Samstag, 14. November 2015

Hans Brügelmann, Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA & Co., Weinheim/Basel 2015

(Einladung und Vorspiel (S.7-15); Wozu Evaluation? Inszenierte Kontroverse in verteilten Rollen (S.17-29); Über das Spiel mit Zahlen hinaus – Grundprobleme einer ‚Evidenzbasierung‘ (S.31-64); Hattie und der Zauber der großen Zahlen (S.65-76); PISA & CO.: Nutzen und Grenzen von Leistungsvergleichen auf Systemebene (S.77-94); Evaluation von Schule und Unterricht (S.95-115); Die Not mit den Noten (S.117-127); Zehn Thesen zur Diskussion (S.129-130))

1. Methode I: Evidenzbasierung
2. Methode II: Kasuistik
3. Methode III: Begriffe
4. Leistungsstandards als Bildungsstandards
5. PISA & Co.
6. „Blick über den Zaun“
7. Prüfungskompetenz als Persönlichkeitsmerkmal

Hans Brügelmann setzt den Evaluationsbegriff nicht erst auf der institutionellen und administrativen Ebene an, im Sinne einer externen Prüfung, Planung und Steuerung von Schule und Unterricht. Evaluation gehört seiner Ansicht nach vielmehr zur alltäglichen Praxis von uns allen: „Evaluation ist ein Alltagsphänomen. Sie dient der Vorbereitung von Entscheidungen durch die Sammlung, Beschreibung, Analyse und Bewertung von Informationen – etwas, das jeder von uns tagtäglich und in vielfältigen Situationen tut.“ (Brügelmann 2015, S.11)

Als berufsmäßige Evaluatoren zählt Brügelmann Warentester, Kunstkritiker, Richter und Ärzte auf. (Vgl. Brügelmann 2015, S.11 und S.33ff.) Außerdem verweist Brügelmann auf Robert Pirsigs „Zen und die Kunst des Motorradwartens“ (1978/1974) und bezeichnet es als ein Grundlagenwerk zum Evaluationsbegriff. (Vgl. Brügelmann 2015, S.14f.) Das Hauptanliegen seines Buches richtet sich nach Brügelmanns eigener Aussage an all jene, „die von Bildungsforschung, Evaluation und ihren Ergebnissen im pädagogischen Alltag betroffen sind“. (Vgl. Brügelmann 2015, S.7) Es soll sie dazu ermutigen, „sich gegenüber unberechtigten Geltungsansprüchen von ‚evidenzbasierten Urteilen“ zu behaupten (vgl. Brügelmann 2015, S.7) und sie in ihrer „Kapazität und Kompetenz zur (Selbst-)Evaluation“ (Brügelmann 2015, S.63) bestärken. Wie sehr wir alle vom Gedanken einer externen, technologisch geprägten Evaluation durchdrungen sind, zeigt sich auch daran, wie bereitwillig wir Geräte mit uns herumtragen, die unser tägliches soziales, gesundheitliches und kommerzielles Verhalten messen und bewerten.

Brügelmanns Hinweise auf ein alltägliches, umfassendes Evaluationsbewußtsein ermutigen mich am Schluß dieser Besprechung dazu, auf mein eigenes Konzept einer Selbstprüfungskompetenz als Persönlichkeitsmerkmal, also als ein die gesamte Person umfassendes Konzept einzugehen, das ich in meiner Habilitationsschrift „Lernen und Leistung“ (2005) entwickelt habe. Ich gehe davon aus, daß die Menschen immer schon im Rahmen ihrer Identitätsbildung ein tiefverwurzeltes Bedürfnis danach haben, sich selbst zu beurteilen und beurteilt zu werden. Brügelmanns Hinweis auf Robert Pirsig deutet hier schon ein besonderes Lehrer-Schülerverhältnis an, das prägnanter als das Verhältnis von Schülerschaft und Meisterschaft beschrieben werden kann.

Einer meiner Kollegen legt immer großen Wert darauf, daß auch der Schulunterricht die Erlangung von individueller Meisterschaft nicht aus dem Blick verlieren darf. Der Schulunterricht sollte zumindestens versuchen, den Schülern eine Ahnung von und vielleicht auch eine Sehnsucht nach solcher Meisterschaft zu vermitteln. Für dieses pädagogische Anliegen sind aber Leistungs- und Vergleichstests, mit denen auch noch schulische und berufliche Karrieren verknüpft sind, geradezu Gift. Sie führen dazu, um mit Andreas Gruschka zu sprechen, daß Lern- und Prüfungsgegenstand miteinander ununterscheidbar verschmolzen werden. (Vgl. Gruschka: „Das Kreuz mit der Vermittlung“ (2002)) Mit anderen Worten: Die Schüler merken gar nicht mehr, daß es beim Lernen um noch etwas anderes gehen könnte als darum, eine Prüfung zu bestehen.

Schon Johann Friedrich Herbart (1776-1841) hatte darauf hingewiesen, daß es das Hauptgeschäft des Lehrers sei, beim Schüler Interesse am Gegenstand zu wecken. Ist das Interesse erst einmal geweckt, kann sich der Lehrer eigentlich schon vom Unterricht zurückziehen, weil der Schüler jetzt die Hauptarbeit des Lernens selbst übernimmt. Deshalb habe ich in meiner Habilschrift das Hauptaugenmerk nicht auf das Ende des Unterrichts, also auf die Prüfungen gerichtet, sondern auf den Anfang, auf den Unterrichtseinstieg. Ein Meister des Unterrichtseinstiegs, des Anfangens im Husserlschen Sinne, war Martin Wagenschein (1896-1988). Seine Unterrichtseinstiege sind wahre Meisterwerke der Präsentation von Phänomenen, der Anbahnung von Begegnungen, – kurz: des Weckens von Interesse.

Mit dem Wecken von Interesse wird mehr auf den Weg gebracht als nur die Zuwendung zu einem Gegenstand. Wirkliches Interesse wirkt immer auch bildend auf das Lernsubjekt zurück. Diese reflexive Wendung bezeichne ich mit dem Begriff des Gewissens, wie ich ihn von Franz Fischer übernommen habe. (Vgl. Fischer: „Die Erziehung des Gewissens“ (1955)) In diesem Gewissen haben wir die  Selbstprüfungsinstanz, die die Bildung der ganzen Persönlichkeit umfaßt. In ‚Gewissen‘ steckt ‚Wissen‘ und ‚Gewißheit‘. Beides zusammen stärkt den individuellen Verstand und seinen Gebrauch im Sinne des Kantischen „sapere aude“. Wer so zu lernen gelernt hat, braucht keinen Lehrer mehr. Er hat das Ziel des Schulunterrichts im Wilhelm von Humboldtschen Sinne erreicht: der Lehrer ist überflüssig geworden. Weitere Prüfungen sind Humboldt zufolge nicht nötig.

Brügelmann deutet mit seiner Kritik am autoritären Charakter von Leistungstests an, worauf es im Sinne der Anbahnung einer solchen, die Persönlichkeit umfassenden Prüfungskompetenz ankommt: „Ohne kognitive und emotionale Empathie können Leistungen weder erklärt noch angemessen gewürdigt werden. Wie Prüflinge eine Aufgabe gedeutet und wie sie ihre Antworten gemeint haben, ist durch die bewusste Ausblendung persönlicher Interaktionen nicht mehr verhandelbar. Damit wird nicht Objektivität gesichert, sondern die Subjektivität der Test-Entwickler und -Auswerter über die der beurteilten Personen gestellt.“ (Brügelmann 2015, S.121)

Standardisierte Leistungs- und Vergleichstests unterbinden also den rekursiven Charakter der am Gegenstand orientierten, wechselseitigen Aushandelbarkeit von richtigen und falschen Antworten. Der ‚Verstand‘ der prüfenden Instanz wird dem Verstand der zu prüfenden Schüler übergeordnet. Damit werden die Schüler in ihren tatsächlichen Möglichkeiten verkannt und unterfordert. Dennoch bilden Leistungs- und Vergleichstests eine Realität, mit der die Schüler umgehen lernen müssen. Das bedeutet aber auch wieder etwas Positives: es kann hier etwas gelernt werden.

Dabei kommt es darauf an, die Wechselseitigkeit von Selbst- und Fremdprüfung so lange wie möglich in die Vorbereitung auf mündliche und schriftliche Prüfungen hinein durchzuhalten. So lange Leistungs- und Vergleichstests ihren karrierefestlegenden Charakter behalten, müssen Schüler von ihren Lehrern pragmatisch an diese sachfremde Konstruktion richtiger und falscher Antwortmöglichkeiten herangeführt werden. Durch die Übung von Prüfungssituationen müssen die Schüler in die Lage versetzt werden, ihr Verhalten im Rahmen einer mündlichen Prüfungssituation auf die Intentionen der Prüfer hin und ihre schriftlichen Reflexionen im Rahmen schriftlicher Prüfungsfragen – so gut es geht – auf die Intentionen der Gutachter hin zu orientieren, sich also im paradoxen Sinne ‚kritisch anzupassen‘, ohne dabei sich selbst betrügen zu müssen.

Die Schüler müssen also im Sinne einer kritischen Anpassung lernen, den eigenen, in der Auseinandersetzung mit einer Sache erworbenen Gewissensanspruch angesichts eines fremden, autoritären Prüfungsanspruchs zu suspendieren, und den damit verbundenen Identitätskonflikt auszuhalten. Mit einer solchen Vorbereitung wären auch Lerneffekte in Richtung auf ein individuelles Ausbalancieren von Mitbestimmung und Fremdbestimmung auf gesellschaftlich-institutioneller Ebene verbunden. Die pragmatische Anbahnung einer solchen Prüfungskompetenz könnte also verbunden werden mit der diskursiven Klärung von heterogenen Geltungsansprüchen.

Für solche die Persönlichkeit umfassenden Lernprozesse ist aber ein Lehrer und Schüler umfassendes Vertrauensverhältnis unabdingbar. Das ist in der Schule nicht anders als in den anderen Lebensbereichen, wobei der Schulunterricht sich dadurch auszeichnet, daß dieses Vertrauenverhältnis über eine gemeinsame Sache vermittelt wird. Jan Masschelein bezeichnet dieses Vertrauensverhältnis als „Kommunion“, als das „zur Erscheinung“ Kommen von etwas Drittem, das eine Gemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden zu stiften vermag. (Vgl. meinen Post vom 20.09.2015)

Oder noch einmal etwas schlichter mit Herbart: es geht um das Wecken von Interesse.

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