„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 20. Dezember 2014

Geistes- und Naturwissenschaften

Ein Resümee meines Blogs

In der Diskussion zu einem Blogartikel vom Nesselsetzer stellte mir der Nesselsetzer zwei Fragen. Die Beantwortung dieser Fragen geriet mir unter der Hand zu einer Zwischenbilanz meines Blogs zur Erkenntnisethik. Das paßt zum Jahresende, und ich denke, das Thema ist wichtig genug, um meine Antworten aus dem Kommentarbereich eines anderen Blogs herauszunehmen und an prominenterer Stelle als eigenen Postbeitrag zu präsentieren.
„1) Wie sollte eine einheitliche ‚lebensweltliche Basis‘ deklariert werden, so dass sie als gesichert gilt und von jedermann objektiv nachvollzogen werden kann?“
Diese Frage geht davon aus, daß eine einheitliche lebensweltliche Basis „deklariert“ werden kann. Das von Edmund Husserl stammende Konzept der Lebenswelt basiert aber gerade darauf, daß die Lebenswelt prinzipiell nicht deklariert werden kann. Sie ‚fungiert‘, wie die Phänomenologen sagen, immer im Hintergrund bzw. im Rücken der menschlichen Akteure und koordiniert auf unbewußte Weise deren kollektives Verhalten. Die „Lebenswelt“ war Husserls Antwort auf die Frage, wie Intersubjektivität funktioniert. Individuen bzw. ‚Subjekte‘ können mit anderen Subjekten kommunizieren, weil sie die gleiche Lebenswelt miteinander teilen. Über die Lebenswelt aber können sie nicht miteinander kommunizieren; jedenfalls nicht konkret und im Detail. Die Lebenswelt bildet einen blinden Fleck im Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Sobald wir bestimmte lebensweltliche Momente zu thematisieren versuchen, verlieren sie ihre Verbindlichkeit. Sie können unsere Kommunikation nicht mehr stützen, weil wir sie durch die Thematisierung befragbar machen. Eine in Frage gestellte Lebenswelt ist keine Lebenswelt mehr. Der Zweifel bildet keine lebensweltliche Option.

Es gibt, wenn wir einmal von den „Strukturen der Lebenswelt“ (1982) von Thomas Luckmann und Alfred Schütz  absehen, drei Nachfolger des Husserlschen Lebensweltkonzepts: Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Hans Blumenberg, die alle drei den Lebensweltbegriff spezifisch modifiziert haben. Luhman hat die Lebenswelt als ‚System‘ aufgefaßt. Seine Systemtheorie basiert auf dem Konzept der „Erwartungserwartungen“, das bei ihm zur Grundlage einer kybernetischen Maschinerie wird. ‚Subjekte‘ bilden innerhalb des Systems der Erwartungserwartungen voneinander unabhängige Subsysteme, die füreinander Umwelten bilden. Diese Systeme interagieren miteinander, indem sie die Erwartungen der anderen Systeme bezüglich ihres Handelns weniger antizipieren, als vielmehr berechnen. Gleichzeitig sind sie blind für das tatsächliche Innenleben der anderen Systeme. Diese Systeme sind in sich zentriert. Es befindet sich kein exzentrisch positioniertes Subjekt auf ihrer Grenze zur ‚Umwelt‘ der anderen Systeme. Da Subjektivität aber für Husserls Phänomenologie unhintergehbar ist, hat Luhmann Husserl also gleichzeitig beerbt und seine Phänomenologie abgeschafft. Luhmann gehört in die Reihe der Geisteswissenschaftler a la Kittler, die kräftig daran beteiligt gewesen waren, den Geist aus den Geisteswissenschaften zu vertreiben.

Jürgen Habermas und Hans Blumenberg unterscheiden sich gegenseitig in einer spezifischen Weise darin, wie sie Husserls Lebensweltkonzept beerbt haben: Habermas geht von einer nach wie vor ‚intakten‘ Lebenswelt aus und Blumenberg von einer unwiederbringlich zerstörten Lebenswelt. Die Vorstellung einer intakten Lebenswelt, die alle Menschen miteinander teilen, entspricht Blumenberg zufolge der Vorstellung eines verlorengegangenen Paradieses. In einem solchen ‚paradiesischen‘ Zustand befand sich die Menschheit im größten Teil ihrer Geschichte, als sie noch keine Schrift kannte. Diese Phase der Menschheitsgeschichte setzt Blumenberg mit dem ‚Mythos‘ gleich, d.h. mit einer Form der Weltbewältigung, deren Hauptaufgabe darin bestand, Vertrauen in eine keineswegs paradiesische, sondern vielmehr lebensfeindliche Welt zu gewinnen. Ähnlich wie die Husserlsche Lebenswelt bildet der Mythos eine Bewußtseinsform, in der der Mensch keine Fragen stellt, weil die Mythen, die an den nächtlichen Lagerfeuern erzählt wurden, alle Fragen, noch bevor sie gestellt werden konnten, immer schon beantwortet hatten.

Die Schriftlichkeit hat dazu geführt, daß diese Mythen aufgeschrieben wurden, und auf diese Weise wurden sie befragbar gemacht. An die Stelle der Arbeit des Mythos trat nun die Arbeit am Mythos. Der Mythos bleibt weiterhin eine Orientierungshilfe im Leben des Menschen. Aber er hat nicht mehr die Kraft, den Zweifel und den Skeptizismus des Menschen zu unterdrücken.

Habermas hingegen geht, wie schon erwähnt, von einer intakten Lebenswelt aus, obwohl er paradoxerweise vor der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ warnt. Mit Kolonialisierung meint er das Eindringen der ökonomischen und bürokratischen Systemimperative in den Lebensalltag der Menschen bis in die intimsten Privatbereiche hinein. Alles unterliegt einem ökonomistischen Verwertungszwang. Dennoch ist die Lebenswelt immer noch der Bereich bzw. der ‚Raum‘ der Gründe. Immer wenn Menschen zur Rechenschaft gezogen werden – und das werden sie ständig: „Warum hast Du das getan?“ – „Warum hast Du das gesagt?“ –, entnehmen sie ihre Gründe der Lebenswelt: „Weil man das so tut!“ – „Weil man das schon immer so gemacht hat!“.

Und je länger die Befragung dauert, je mehr sich jemand rechtfertigen muß, umso tiefer und weiter greift er aus, um sich seine Gründe aus der Lebenswelt zusammenzusuchen und sie zu explizieren. Die Lebenswelt ist also durchaus explizierbar. Sie steht für Deklarationen zur Verfügung. Habermas unterscheidet sich also von Husserl dadurch, daß die Lebenswelt bei ihm zwar auch zunächst unbewußt fungiert, aber trotzdem bewußt gemacht werden kann, wenn es nötig ist. Der Raum der Gründe, den die Lebenswelt umfaßt, ist aber immer unauslotbar. Wir können uns auf sie berufen, aber wir können sie niemals vollständig erfassen.

Dabei sollte man sich aber auch bewußt machen, daß ‚Gründe‘ bzw. ‚Argumente‘ nicht vorweg als solche definiert sind. Habermas erweckt den Eindruck, als lägen die Gründe fertig ausformuliert im lebensweltlichen Raum bereit und bräuchten dort nur gefunden und aufgegriffen zu werden. Aber Gründe sind keine fertigen, auf Falsifizierbarkeit und Reproduzierbarkeit ‚geeichten‘ Formeln. Als ‚Gründe‘ und ‚Argumente‘ erweisen sich die verschiedenen Behauptungen in einem Gespräch immer ad hoc, d.h. bezogen auf die Situation und ob die Kontrahenten bereit sind, sich auf die vorgetragenen ‚Argumente‘ einzulassen.

Ich sehe übrigens zwischen der Husserlschen ‚Lebenswelt‘ und dem, was Helmuth Plessner die ‚Seele‘ nennt, Parallelen. Beide bilden Formen des noli-me-tangere. Die Lebenswelt im Husserlschen Sinne ist genauso wenig ‚berührbar‘ wie die menschliche Seele. Die ‚Seele‘ ist gewissermaßen jener Aspekt der Lebenswelt, der sich immer schon auf der Grenze zwischen innen und außen befindet. Sie bildet die Grenze der individuellen Expressivität. In gewisser Weise ist die Seele die sich im Individuum verbesondernde Lebenswelt. Das Individuum erweist sich als beseelt, wenn es dem kollektiven Zwang der Lebenswelt zu entkommen versucht. Indem es sich seinen Ausdruck sucht und expressiv wird, gelingt es ihm beinahe auch. Doch Plessner hebt insbesondere den individualisierenden Effekt des Scheiterns hervor. Erst wo wir scheitern, fallen wir aus der Lebenswelt heraus und werden uns unserer selbst bewußt.

Deshalb besteht das ‚Innere‘ des Körpers auch nicht einfach aus Chemie und Physik, im Sinne eines weiteren Außen diesseits der Haut, als könnten wir sie umstülpen wie einen Handschuh. Das Innere bildet vielmehr einen Aspekt des Menschen, der nach Ausdruck sucht, also ein Moment seines Selbst- und Weltverhältnisses.
„2) Wie könnten die Geisteswissenschaften in Bezug auf die Themen der Naturwissenschaften zu den notwendig gesicherten und für jedermann überprüfbaren Erkenntnissen gelangen?“
Der Fokus der Frage richtet sich auf den Beitrag der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften. Ließe ich mich auf diesen Fokus ein, würde ich den Geisteswissenschaften einen Bärendienst erweisen. Ich hätte mit dieser Frage akzeptiert, daß die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften untergeordnet wären und nur als Hilfswissenschaft in Betracht gezogen werden können. Ich gehe aber davon aus, daß die Geisteswissenschaften einen eigenständigen Beitrag zur Wissenschaft insgesamt leisten und daß dieser Beitrag weniger interdisziplinär als vielmehr transdisziplinär begründet ist. Mit ‚transdisziplinär‘ meine ich, daß weder die Geisteswissenschaften noch die Naturwissenschaften ihren Sinn in sich selbst haben, im Sinne eines absoluten Wahrheitsanspruchs, sondern in Bezug auf den Menschen bzw. auf die menschliche Gesellschaft. Dieser transdisziplinäre Anspruch gilt für alle einzelwissenschaftlichen Disziplinen und beschränkt sich nicht auf die Geisteswissenschaften.

Bevor ich mich dieser Frage zuwende, will ich aber noch den Begriff der Geisteswissenschaft klären. Der Begriff des Geistes ist dabei ambivalent. ‚Geist‘ wird gerne mal mit ‚Ratio‘, mal mit ‚Kultur‘ gleichgesetzt. Als ‚Ratio‘ verstanden, droht dem Begriff des ‚Geistes‘ die Verengung auf eine spezifische ‚Rationalität‘, die wir im Zeitalter der Computerisierung gerne mit Berechenbarkeit gleichsetzen. Viele ‚Geisteswissenschaftler‘ versuchen deshalb, naturwissenschaftliche Methoden auch in die Geisteswissenschaften einzuführen und so, mit Friedrich Kittler gesprochen, den Geist aus den Geisteswissenschaften ‚auszutreiben‘. Der Begriff der ‚Ratio‘ ersetzt also den Begriff des Geistes.

Wird der Begriff des Geistes hingegen mit ‚Kultur‘ gleichgesetzt, droht eine Strukturalisierung des Geistbegriffs, in der das individuelle Moment des Geistes auf die Funktion von Knoten in Netzwerken reduziert wird. Auf diese Weise wird der geisteswissenschaftliche Forschungsbereich auf Kybernetik reduziert.

Auf die verschiedenen Inhalte, die der Geistbegriff zuvor im 18. und 19. Jhdt. speziell in Deutschland gehabt hatte, will ich hier nicht näher eingehen. Habermas zufolge ist dieser historische Dualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften veraltet. So behauptet er es zumindestens in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985). In den beiden Bänden dieses Buches wird der Begriff der Geisteswissenschaft deshalb auch nicht mehr verwendet. Habermas spricht konsequent nur noch von den Sozialwissenschaften, die er den Naturwissenschaften methodisch gegenüberstellt. In seinem bislang letzten Buch, „Nachmetaphysisches Denken II“ (2012), spricht Habermas aber dann doch wieder von den Geisteswissenschaften. Dabei unterteilt er die Gegenstandsbereiche von Naturwissenschaften auf der einen Seite und von Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite dahingehend, daß die Naturwissenschaft die Welt als einen äußeren, objektiven Gegenstand auffaßt, während die Geistes- und Sozialwissenschaften die Welt als einen inneren, intersubjektiven Gegenstand auffassen. (Vgl. meinen Post vom 16.02.2013)

Abgesehen davon, daß diese Aufteilung hinsichtlich der Objektivität und der Intersubjektivität so nicht durchzuhalten ist, weil auch die Naturwissenschaft die Gültigkeit ihrer Forschungsergebnisse an der intersubjektiven Anerkennung durch die Forschergemeinschaft festmacht, verweist Habermas hier doch auf einen wichtigen Aspekt: auf die Differenz von Innen und Außen. Der Geistes- und Sozialwissenschaftler muß seinen Gegenstand subjektiv angeeignet haben, um ihn ‚objektiv‘, d.h. eben intersubjektiv plausibel beschreiben zu können. Diese Verbindung innerer Geisteszustände mit äußeren geistigen ‚Objekten‘, für die der Textbegriff steht – in den Geisteswissenschaften haben wir es immer mit ‚Texten‘ zu tun –, bedeutet, daß die Geisteswissenschaften wesentlich expressiv sind. Die ‚Gegenstände‘ der Geisteswissenschaften sind keine physischen Objekte der äußeren Welt, sondern in einem spezifischen Sinne ‚Ausdruck‘ unserer Menschlichkeit. Die Forscherpersönlichkeit ist deshalb ein unhintergehbarer Teil des Forschungsprozesses. Forschung bedeutet hier immer auch ‚Bildung‘.

Das ist der Grund, warum ich persönlich lieber von ‚Seele‘ als von ‚Geist‘ spreche. Helmuth Plessner verortet die Seele auf der Grenze zwischen innen und außen und bezeichnet sie als ein noli-me-tangere. Die ‚Seele‘ will sich einerseits ausdrücken und darstellen, andererseits aber schreckt sie vor der Sichtbarkeit, die sie auf eine bestimmte Identität festzulegen versucht, zurück. So viel zum Thema ‚gesicherte Erkenntnis‘ in den Geisteswissenschaften.

Die zentrale Methode der Geisteswissenschaften ist die Hermeneutik, also wiederum die ‚Textauslegung‘. Im geisteswissenschaftlichen Sinne ist alles ein ‚Text‘. Alles menschliche Handeln ist eine Form der Selbstdarstellung (siehe ‚Seele‘), also ein ‚Text‘. Auch das scheinbar bloß instrumentelle Handeln des Menschen ist eine Form der Selbstbestätigung. Sonst hätten unsere Vorfahren nicht seit vielen hunderttausend Jahren ihre Gerätschaften geschmückt und verziert. Alle geisteswissenschaftlichen Gegenstände bilden also Texte, und diese Texte tragen entsprechend der Innen/Außen-Differenz die Differenz zwischen meinen und sagen in sich. Wer Texte ‚lesen‘ will, muß sich in diese Texte hineinversetzen und ein Gespräch, einen Dialog mit ihnen führen wie mit einem realen Gesprächspartner. Der Hermeneutiker bezeichnet das als „hermeneutischen Zirkel“. In der Systemtheorie begegnen wir diesem hermeneutischen Zirkel als „Erwartungserwartung“. Gadamer spricht schlicht vom „Vorurteil“. Gleichviel ob mit realen menschlichen Gesprächspartnern oder ob mit kulturellen Objekten und ‚Texten‘ müssen wir uns von unseren eigenen Verstehensbedingungen her auf die vermuteten Absichten und Meinungen unserer ‚Gesprächspartner‘ einlassen, um uns auf diese Weise ein gemeinsames Verständnis von uns und der Welt zu erarbeiten. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang nicht von einem hermeneutischen Zirkel, sondern mit Michael Tomasello von „Rekursivität“. Beides läuft aber auf dasselbe hinaus

Zurück zu Deiner Frage: der Beitrag der Geisteswissenschaften zu den Themen der Naturwissenschaften ist der gleiche wie bei allen wissenschaftlichen Disziplinen. Ich folge Habermas in seiner Auffassung, daß beide Wissenschaftsbereiche der Alltagswelt des Menschen entspringen. Und die Menschen haben schon immer ein inneres und ein äußeres Verhältnis zu ihrer Welt. Diese beiden Sichtweisen haben sich in den Wissenschaften zu den Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und zu den Naturwissenschaften andererseits ausdifferenziert. Ihr gemeinsamer Zweck liegt im Bedürfnis des Menschen, sein eigenes Selbst- und Weltverhältnis besser zu verstehen und zu bewältigen. Deshalb liegt der gemeinsame Zweck der Wissenschaften nicht in sich selbst, sondern in diesem Bedürfnis des Menschen.

Mit Franz Fischer (1975) verstehe ich deshalb die Wissenschaft in ihren verschiedenen Disziplinen als einen sich wechselseitig ergänzenden Fragezusammenhang. Franz Fischer bezeichnet diesen Fragezusammenhang als Sinn von Sinn. In diesem transdisziplinären Rahmen verbindet jede Disziplin mit ihrem jeweiligen Gegenstand ganz spezifische Erkanntnisansprüche und kommt bei ihren Versuchen, diesen Gegenstand zu erfassen, an Grenzen. An diesen Grenzen stehen wiederum andere Disziplinen bereit, um die offen gebliebenen Fragen zu übernehmen und auf einer anderen Ebene mit anderen Methoden weiterzuführen. Wir haben es mit einem Prozeß des Meinens und Sagens zu tun. Das Gemeinte, das die eine Disziplin nur sagen kann, wird von einer anderen Disziplin übernommen und in eine neue Form des Sagens überführt. Ich habe diesen transdisziplinären Prozeß in einem Post zu Thomas Nagel detaillierter beschrieben. (Vgl. meinen Post vom 21.12.2013)

Ich habe die Fischersche Systematik des Sinns von Sinn in das Konzept eines dreifachen Entwicklungsprozesses aus biologischer und kultureller Evolution und individueller Entwicklung übersetzt, das ich meinem Blog zur Erkenntnisethik zugrundegelegt habe. Dabei beziehe ich inzwischen auch einen vierten Aspekt in diesen gestuften Entwicklungsprozeß mit ein: den der Geologie des Planeten, die man auch pauschal als Terraforming bezeichnen könnte und die die Voraussetzung für die biologische Evolution bildet. Im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses leisten dann die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ihren je begrenzten Beitrag zur Erklärung des Ganzen.

Von „notwendig gesicherten und für jedermann überprüfbaren Erkenntnissen“ kann hier nirgendwo die Rede sein. Denn der Endpunkt des Forschungs- und Wissensprozesses besteht nicht im kontinuierlichen Anhäufen von gesicherten Daten und auch nicht in ihrer immer problematisch bleibenden Interpretation, sondern in der Nützlichkeit der Wissenschaft für den Menschen. Dabei geht es nicht in erster Linie um Anwendung, sondern um Sinnerfüllung. Angesichts des gegenwärtigen Zustands der Wissenschaft bin ich allerdings schon der Meinung, daß den Geisteswissenschaften in Bezug auf die Naturwissenschaft noch ein zusätzlicher Auftrag zukommt: die ständige Erinnerung an die Begrenztheit der Aussagekraft naturwissenschaftlicher Forschung, als notwendiges Korrektiv zu ihrem scheinbar unbegrenzten technologischen Potential.

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Donnerstag, 11. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Der Neurophysiologe Stanislav Dehaene geht in seinem Buch über das Lesen (2009/2010) von einer so begrenzten Plastizität des Gehirns aus, daß er sogar die Hypothese aufstellt, daß bestimmte neurologische Netzwerke, deren bisherigen Funktionen nicht mehr gebraucht werden, beim Erlernen neuer Fähigkeiten ‚recycelt‘ werden müssen. (Vgl. meine Posts vom 05.03., 06.03. und 09.03.2011) So funktionierte das ‚Gehirn‘ – wie die meisten Neurophysiologen setzt Dehaene das Gehirn als Handlungssubjekt – seine ‚Schaltkreise‘, die bislang für das Spurenlesen zuständig gewesen waren, für das Buchstabenlesen um. Wer also einmal lesen und schreiben gelernt hat, kann nicht mehr spurenlesen lernen; jedenfalls nicht mehr so gut.

Allerdings sind die verschiedenen Belege, die Dehaene für seine Hypothese liefert, mehrdeutig. Ich jedenfalls hatte den Eindruck, daß sie eher das Gegenteil belegen: nämlich die enorme Plastizität des Gehirns, dessen ‚Begrenztheit‘ bei der Anpassung an kulturelle Kontexte noch lange nicht ausgemacht ist. Beim Lesen von Evans’ Buch über die ‚Artenvielfalt‘ der Sprachen gewann ich außerdem den Eindruck, daß die ‚Sprache‘ – analog zum ‚Gehirn‘ – ein ähnlich plastisches kulturelles ‚Organ‘ bildet. Es gibt keine strukturellen oder semantischen Universalien, die dem Erlernen einer Sprache und dem sprachschöpferischen Hervorbringen neuer Strukturen und Wörter Grenzen ziehen würden. Erst das Erlernen der Sprache führt zu einer Art des ‚Priming‘, wie es auch der individuellen Entwicklung des Gehirns entspricht. Beides läßt sich unter dem Stichwort der ‚Ontogenese‘ fassen: die kulturelle Phylogenese der Sprache und die biologische Phylogenese des Gehirns brechen sich in der individuellen Ontogenese des Menschen. (Zum Verhältnis von Phylogenese und Ontogenese vgl. meinen Post vom 08.12.2014)

Das legt die Vermutung nahe, daß das, was die Neurophysiologen so gerne bewußt schwammig und ideologisch mißbrauchbar ‚Korrelation‘ nennen, keine 1:1-Korrelation von bestimmten Fähigkeiten und Bewußtseinsmomenten mit lokalisierbaren neuronalen Mustern meint. Wir haben es vielmehr mit einer funktionellen Korrelation zwischen ‚Sprache‘ und ‚Gehirn‘ zu tun. Der funktionellen Plastizität des Gehirns auf biologischer Ebene entspricht die funktionelle Plastizität der Sprache auf kultureller Ebene. In gewisser Weise könnte man sagen, daß die ‚Sprache‘ so etwas wie der kulturelle Schatten des Gehirns ist. Allerdings bildet sie kein Epiphänomen. Sie funktioniert parallel zum Gehirn, ist aber nicht von einzelnen neurophysiologischen Mustern oder gar Neuronen ‚abhängig‘.

Die ‚Sprache‘ ist auch nicht vom Fox P2-Gen abhängig. Auch wenn wir ohne dieses Gen nicht sprechen könnten, bestimmt dieses Gen doch noch lange nicht, wie wir sprechen. Es bestimmt nicht unser Selbst- und Weltverhältnis. Es gäbe keine 6000 Sprachen auf der Welt, wenn das Fox P2-Gen auf unser Selbst- und Weltverhältnis irgendeinen Einfluß hätte. Und dasselbe gilt vom Gehirn.

Von all den Korrelationen, die die Neurophysiologen also gefunden haben und noch zu finden glauben, bleibt letztlich doch nur die Einsicht in und das Erstaunen über die Plastizität von Sprache und Gehirn.

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Mittwoch, 10. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Wie ich schon in meinem Post vom 05.12.2012 festgestellt habe, bildet die Rekursivität ein wesentliches Moment der Expressivität. Die Verbindung von Expressivität und Rekursivität scheint mir sogar fundamentaler zu sein, als die von Tomasello und Evans hervorgehobene Verbindung der Rekursivität mit der sprachlichen Funktion der Informationsübermittlung. So beschreibt Evans z.B. die Rekursivität als ein Mittel, sicherzustellen, inwieweit eine Information auch beim Gesprächspartner angekommen ist. Das setze „Fertigkeiten“ im Bereich „‚Gedankenlesen‘ oder ‚Absichtszuerkennung‘“ voraus. (Vgl. Evans 2014, S.240)

Ich verstehe Rekursivität immer als einen ‚Umlauf‘ zwischen dem, was ‚ego‘ denkt, und was ‚alter‘ denkt, wobei ‚alter‘ sowohl ein ‚Du‘, also ein anderes ‚Ich‘, wie auch ein ‚Wir‘, also eine soziale Identität meinen kann. Evans’ formelhafte Definition der Rekusivität als die Gleichheit von „Eingabestruktur“ und „Ausgabestruktur“ einer Regel lenkt von diesem fundamentalen Sachverhalt nur unnötig ab und reduziert die komplexe Bewußtseinsleistung auf die Speicherkapazität einer „zur Erzeugung solcher (rekursiven – DZ) Sätze nötige(n) Rechenleistung“. (Vgl. Evans 2014, S.340) Das expressive Moment der Rekursivität geht durch solche Definitionen völlig verloren.

Allerdings ist die Grenze zwischen bloßer Informationsübermittlung und Expressivität nicht wirklich trennscharf. Denn um sicherzustellen, daß „unsere Wörter sicher an Land kommen“, wie Evans einen Sprecher des Kuikuró (Brasilien) zitiert, sind „Klarheit und Ausdruck“ nötig (vgl. Evans 2014, S.21), und im Bemühen um diese Klarheit und Ausdruck geht es nicht einfach nur um die Konstruktion einer möglichst logischen, mögliche Mißverständnisse vermeidenden Struktur, sondern allererst um die Differenzierung zwischen bloßen subjektiven Befindlichkeiten und objektiven Sachverhalten, also um das Herausarbeiten dessen, was die Linguisten den propositionalen Gehalt nennen.

Dabei spielen die subjektiven Befindlichkeiten aber keineswegs nur die zweite Geige, so als würde man vom guten ‚Fleisch‘ der Sachverhalte die schlechten, allenfalls noch zum Verwursten tauglichen Sehnenstücke abschneiden. In der „Wortkunst“ bilden diese Befindlichkeiten vielmehr das eigentliche Thema und schärfen mit dem Ausdrucksvermögen auch das Urteilsvermögen der Menschen, weil sie uns darin übt, beliebige Vordergründe aus den gegebenen Hintergründen herauszulösen und zu fokussieren, wie es Evans sehr schön an einer Zeigegeste veranschaulicht. Wenn jemand auf ein Fenster zeigt, könnte das, wie Evans schreibt, vielerlei bedeuten: „‚Könnten Sie bitte das Fenster öffnen?‘, ‚ist das nicht ein schönes Fenster?‘, ‚was ist, wenn wir durch das Fenster fliehen?‘, ‚oh nein, was passiert, wenn sie durch das Fenster kommen?‘, ‚sehen Sie, sie haben tatsächlich das hässliche Fenster eingesetzt, von dem sie gesprochen haben‘ oder ‚schauen Sie, es schneit draußen.‘“ (Evans 2014, S.119)

Vor dem Hintergrund ein und desselben Fensters lassen sich also quasi beliebig viele verschiedene Vordergründe fokussieren. Und es ist Sache des rekursiven Denkens, also der Anteilnahme von Gesprächsteilnehmern an einem gemeinsamen Kontext, der sie dazu befähigt – zumindestens relativ oft –, die richtigen Rückschlüsse auf das, was der Sprecher gerade meint, zu ziehen. In dieses Wechselspiel der Implikationen, die der Sprachphilosoph Paul Grice (1913-1988) auch als „Implikaturen“ bezeichnet hat, übt uns die „Wortkunst“ ein: „Genauso wie beim Zeigen auf ein Fenster können wir uns auch bei Wörtern darauf verlassen, dass der Gesprächspartner das, was wir tatsächlich gesagt haben, mit zusätzlicher Interpretation ergänzt. Diese stützt sich auf eine begründete Schlussfolgerung über das, was wir seiner Ansicht nach ausdrücken wollen. Diese Fertigkeit spielt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von immer ausdrucksstärkeren Sprachen in der Geschichte des Menschen, und zwar durch die Erschaffung neuer Zeichen, womit gemeint ist, dass wir immer neue Wörter schaffen, die mehr ausdrücken können, als zuvor möglich war.“ (Evans 2014, S.119)

Mehr ausdrücken zu können – wie es im letzten Satz des Zitats heißt –, als wir es vor dem Erfinden neuer Wörter gekonnt hatten, meint nichts anderes als die geschärfte Sensibilität für bzw. Aufmerksamkeit auf bislang unbemerkte Details von Hintergründen, die jetzt fokussierbar werden.

So gehen also Expressivität und Informationsübermittlung Hand in Hand. Aber es ist nicht die gelungene Informationsübermittlung, die unser Selbst- und Weltverhältnis erweitert und empfänglich macht für neue Offenheiten und Weiten. Der ‚Weg‘ der Informationsübermittlung bildet nur einen geschlossenen Regelkreis, in dem der Strom durch vorverlegte Leitungen fließt. Bei der Expressivität haben wir es eher mit einer Induktionsspannung zu tun, die sich in magnetischer Resonanz mit einem Kontext befindet. Denn erst im singulären Kontext einer konkreten Situation öffnet sich das ‚Fenster‘ des Verstehens.

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Dienstag, 9. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Eine wichtige Differenzierung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit besteht darin, daß viele Kultur- und Sprachwissenschaftler davon ausgehen, daß zur Ausarbeitung stilistisch ausgefeilter, komplex strukturierter Texte ein hoher Grad an Bewußtheit und technischem Können gehört. Um eine solche Höhe der „Wortkunst“ zu erreichen, bedarf es, so das Argument, des geschriebenen Textes, den ein einzelner Autor in aller Ruhe so lange bearbeiten und immer wieder korrigieren und nachbessern kann, bis er seine perfekte Gestalt gefunden hat, etwa so wie ein Bildhauer aus einem Felsklumpen eine vorgegebene Gestalt herausmeißelt, indem er die überflüssigen Teile entfernt.

Im Unterschied zum geschriebenen Wort ist das gesprochene Wort aber so flüchtig, daß der Rhapsode keine Zeit hat, es zu längeren, kompliziert gegliederten Sätzen und Kapiteln zusammenzufügen: „Die Rede dagegen ist völlig vergänglich; sie existiert nur so lange, wie die Schwingungen in der Luft sie übermitteln. Das macht die Sprache zum Kurzlebigsten, was es auf diesem Planeten gibt.“ (Evans 2014, S.48) – Das Gedächtnis des Rhapsoden würde, so die Vorstellung dieser Kulturwissenschaftler, ohne Hilfestellung durch die Schrift einfach nicht ausreichen, um lange Versepen wie die Odyssee zu konzipieren und vorzutragen.

Hans Blumenberg hat das in „Arbeit am Mythos“ (1979) anders gesehen. (Vgl. meine Posts vom 12.08. bis zum 14.08.2014) Seiner Auffassung nach ist die Vollkommenheit der Homerischen Versepen tatsächlich dem evolutionären Potential von über Jahrzehntausende der Mündlichkeit an den Lagerfeuern verbrachten dunklen Nächten zu verdanken, in denen sich die Rhapsoden der unmittelbaren Reaktion ihrer Zuhörer ausgesetzt sahen und sich aus Zustimmung und Ablehnung allmählich der die Bedürfnisse der Menschen perfekt zum Ausdruck bringende und befriedigende mythische Gehalt herausbildete. Homers Versepen fixieren lediglich zu Beginn der Schriftlichkeit diese Perfektion und beenden damit zugleich die mündliche Arbeit des Mythos und ersetzen diese durch die schriftliche Arbeit am Mythos.

Evans argumentiert ganz ähnlich. Auch er spricht davon, daß die „Meister“ des mündlichen Vortrags ihre Texte „durch wiederholtes Erzählen verfeinert und in immer geschliffenere Formen gebracht“ haben. (Vgl. Evans 2014, S.282) – Auch er ist davon überzeugt, daß mündliche Wortkunst in nichts der schriftlichen Wortkunst nachsteht, und er steht gerade deshalb dem Begriff „mündliche Literatur“ skeptisch gegenüber: „‚Mündliche Literatur‘ ist eine Bezeichnung für kreative Schöpfungen in Sprachgemeinschaften mit mündlicher Überlieferungstradition, die am ehesten unserem Begriff von Literatur entsprechen, also Lieder, gesungene Epen und Volksgeschichten.“ (Evans 2014, S.284) – Evans zufolge läuft diese Bezeichnung Gefahr, „die Bedeutung der interessanten Frage herunterzuspielen, was für einen Unterschied es hinsichtlich der Ästhetik und des formalen Aufbaus macht, wenn eine mündliche Überlieferungsgeschichte zur Schrift übergeht.“ (Vgl. ebenda)

Ganz ähnlich wie Blumenberg geht Evans also davon aus, daß sich mit der Schriftlichkeit in der menschlichen Textproduktion und im menschlichen Textverstehen etwas Grundlegendes ändert. Anders aber als Blumenberg macht Evans die Differenz nicht an der Arbeit am Mythos fest, sondern ähnlich wie jene eingangs erwähnten Kulturwissenschaftler an den menschlichen Gedächtnisleistungen: die Schrift nimmt dem menschlichen Gedächtnis tatsächlich Arbeit ab. Aber – und das ist der gravierende Unterschied zu jenen Kulturwissenschaftlern – das menschliche Gedächtnis war vor der Schrift keineswegs zu begrenzt, um größere Textsammlungen zu speichern und zu reproduzieren! Tatsächlich hat die Schrift als externer Gedächtnisspeicher erst dazu geführt, daß das menschliche Gedächtnis der heutigen Menschen nicht mehr dazu in der Lage ist:
„Die skeptische Einschätzung der Forschung (hinsichtlich der menschlichen Gedächtnisleistungen – DZ) scheint aus heutiger Sicht in einer grundlegenden Neukonfiguration der menschlichen Fähigkeiten begründet gewesen zu sein, die mit Beginn der Schriftlichkeit einsetzt. Bücher eröffnen uns zwar den Geist eines anderen Menschen und einer anderen Welt, die Tatsache, dass wir nun dauerhaft Information bewahren und darauf zugreifen können, bedeutet aber auch, dass wir uns weniger merken müssen. In einer vorschriftlichen Gesellschaft ist das Gedächtnis das einzige Archiv – was man vergisst, ist für immer verloren. Genau wie die menschliche Erfindung der Kultur den Genen die schwere Bürde der Informationsweitergabe abnahm, nahm uns – jedem Einzelnen und einer Kultur, deren Handlungen dem Inhalt der einzelnen Gedächtnisse Leben einhauchen, ihn ordnen, umdrehen und verstärken – die Erfindung der Schrift die Pflicht des Merkens ab.“ (Evans 2014, S.289)
Noch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jhdts. gab es in Europa Menschen, die Gesänge homerischen Ausmaßes reproduzieren und vortragen konnten. Auf dem Balkan hatte es zu dieser Zeit noch eine lebendige mündliche Kultur wandernder Sänger gegeben, deren Ende aber auch schon absehbar gewesen war. (Vgl. Evans 2014, S.288ff.) Eine Gruppe von Anthropologen unter der Leitung des Amerikaners Milman Parry stöberte in Montenegro einen Barden auf, dessen Vortragskunst mit der von Homer vergleichbar war: „Avdo Međedovićs Vorführungen, die von der Länge her mit Homers Epen vergleichbar waren, waren schließlich der Beweis dafür, dass talentierte Barden zweifellos zu solch erstaunlichen Gedächtnisleistungen in der Lage waren.“ (Evans 2014, S.288f.)

Damit war also das Argument, daß das menschliche Gedächtnis für größere Werke der „Wortkunst“ zu begrenzt sei, widerlegt. Aber auch das andere Argument, daß es einer größeren bewußten Aufmerksamkeit des Autors auf seinen Text bedarf, den er vor seinen Augen haben muß, um ihm in mühevoller Detailarbeit eine kompliziertere Struktur verleihen zu können, gilt so noch nicht einmal für schriftliche Texte. Offensichtlich schreiben Autoren komplizierte, wunderbar ausbalancierte Texte, die zudem noch von den Lesern als ‚schön‘ wahrgenommen und genossen werden, ohne daß die Autoren wirklich wissen, wie sie das gemacht haben und ohne daß die Leser erklären können, warum sie diese Texte als schön empfinden. Evans bringt als Beispiel ein Gedicht – „Das Heupferd“ (1908) – des russischen Dichters Welimir Chlebnikov (1885-1922): „Im Russischen strahlt dieses Gedicht eine betörende, traumhafte Vollkommenheit aus, die auch aus der geradezu unglaublichen Symmetrie seiner lautlichen Zusammenstellung herrührt.“ (Evans 2014, S.294)

Erst im Verlauf einer längeren Rezeptionsgeschichte stellten sich nach und nach die verschiedenen Symmetrien heraus, die der Autor nach eigenem Bekunden ohne sein Wissen in dieses Gedicht eingearbeitet hatte und die auch die verschiedenen Literaturwissenschaftler erst nach und nach erfaßten. Diese Symmetrien basieren auf der Zahl Fünf: dem fünffachen Vorkommen der Laute k, r, l und u, die allesamt im Anfangswort des Gedichtes enthalten sind, dem fünffachen Vorkommen der Zischlaute š und ž, und auf den in Fünfer-Gruppen zusammengefaßten sämtlichen Vokalen in diesem Gedicht. (Vgl. Evans 2014, S.295)

Evans schließt aus diesem „Beispielsfall“, daß „sogar ein Dichter, der lesen und schreiben kann und metasprachlich auf der Höhe ist, eine miteinander verbundene Gruppe von alliterativen Beschränkungen konstruieren kann, ohne sich dessen bewusst zu sein“. (Vgl. Evans 2014, S.295)

Michael Ende behauptete übrigens ebenfalls, er habe den Jim Knopf einfach so in einem Zuge hingeschrieben, ohne ein Konzept zu haben, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. Ich habe das immer für eine Art Scherz gehalten, denn dieses ‚Kinderbuch‘ ist vom ersten Satz an so durchgeformt, so einwandfrei auf verschiedenen strukturellen Ebenen harmonisch aufeinander abgestimmt, daß ich ihm das einfach nicht glauben wollte. Das Strukturprinzip dieses Buches bildet das Zahlenpaar gerade/ungerade (12/13), und es findet sich in jedem Abenteuer, das Jim Knopf und Lukas erleben, in Form polarer Entgegensetzungen wieder: Feuer/Wasser, Unwissen/Weisheit, Analphabetismus/Alphabetismus, Mut/Angst, Umweltverschmutzung/saubere Energien, gute Technologie/schlechte Technologie usw.usf. Am Ende versöhnt die ‚wahre‘ 13, Jim Knopf, alle Gegensätze, so wie der Knopf das Loch in seiner Hose zusammenhält, und läßt das sagenhafte Jimballah (von ‚symballein‘: zusammenfügen) wiedererstehen.

Ich habe den Jim Knopf viele, viele Male gelesen, und zuvor als kleines Kind habe ich die Augsburger Puppenkiste gesehen, bis es mir eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel, was in diesem Buch neben dem offensichtlichen Geschehen auf einer anderen, weniger offensichtlichen Ebene noch alles erzählt wird. Und dann kommt dieser Michael Ende und behauptet, er habe es einfach nur so hingeschrieben. – Ich glaubte es nicht.

Evans beglaubigt aber genau diese Selbstaussage vieler Autoren über ihre Arbeit. Und deren ‚Unbewußtheit‘ scheint etwas mit der Grenze zwischen Meinen und Sagen und damit mit Expressivität zu tun zu haben: „Die Bemühungen des Sprachkünstlers in Bezug auf Form, semantische Subtilität und die Macht eines komplizierten literarischen Aufbaus mögen bewusst, unbewusst oder halb bewusst, halb unbewusst sein, doch geht es immer darum, mehr zu sagen, als mit normalen Worten möglich ist.“ (Evans 2014, S.282)

Mehr zu sagen, als mit normalen Worten möglich ist, bedeutet, daß sich der Sprachkünstler auf der Grenze zwischen Sagen und Meinen bewegt und genau deshalb nicht genau weiß, was er sagt bzw. schreibt. Zumindestens nicht, bevor er es gesagt und geschrieben hat. Es liegt kein inneres fertiges Konzept vor, das nur noch mechanisch umgesetzt werden muß. Und am Ende, wenn der Autor etwas gesagt und geschrieben hat, wird er mehr gesagt und geschrieben haben, als er ursprünglich beabsichtigt hatte.

Genau dieses Hervorgehen des Gedankens aus dem Sprech- bzw. Schreibakt ist übrigens auch das Thema in Heinrich von Kleists Schrift „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805/6).

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Montag, 8. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Mit an Fritz Mauthner (2/1906; vgl. meine Posts vom 13.10. und vom 15.10.2013) erinnernder Radikalität führt Evans die Sprache auf das gesprochene Wort zurück: „Die Rede dagegen ist völlig vergänglich; sie existiert nur so lange, wie die Schwingungen in der Luft sie übermitteln. Das macht die Sprache zum Kurzlebigsten, was es auf diesem Planeten gibt.“ (Evans 2014, S.48) – Es ist aber gerade diese an das individuelle Sprechen des Menschen gebundene Kurzlebigkeit der Sprache, auf die übrigens auch schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen hatte, weshalb Evans’ lediglich auf zwei Entwicklungslinien basierendes Modell der Koevolution (vgl. Evans 2014, S.237f., 240f.) unzureichend ist.

Von diesen beiden Entwicklungslinien ist es überhaupt nur die biologische Phylogenese, die weiter zurückreicht, als die individuelle Ontogenese. Die kulturelle ‚Phylogenese‘ ist stammesgeschichtlich gebrochen. Sie bildet keine Kontinuität, weil die individuelle Ontogenese immer mit einer kulturellen Nullage beginnt. (Vgl. Dux 2000/2005, S.62; vgl auch meinen Post vom 03.12.2014) Auch wenn der Einfluß der individuellen Ontogenese, wie Evans betont, auf die kulturelle Phylogenese nur minimal sein mag, so summiert sich dieser Einfluß aufs Ganze der auf die individuelle Kommunikation angewiesenen Kulturentwicklung doch beträchtlich. (Vgl. Evans 2014, S.143)

Der Einfluß einzelner Sprecher ist dabei natürlich in kleineren Sprachgemeinschaften, wie sie die Menschheitsgeschichte insgesamt dominiert haben, besonders groß. Es bedurfte oftmals lediglich der Entscheidung einer einzelnen einflußreichen Persönlichkeit, um eine Sprache zu verändern. Dabei braucht man noch nicht mal an Rhapsoden oder Sänger zu denken, die das Denken und Sprechen ihrer Mitmenschen lediglich indirekt beeinflußten. (Vgl. meinen Post vom 05.12.2014) Der sprachverändernde Einfluß konnte durchaus auch schon mal durch einen direkten administrativen Akt ausgeübt werden: „Verglichen mit den anderen Varietäten des Buin (ca. 17.500 Sprecher) hat der Uisai-Dialekt auf Bougainville Island (1500 Sprecher) alle Genuszuordnungen komplett umgekehrt.() Alles was maskulin war, ist also nun feminin, und alles, was feminin war, ist jetzt maskulin. Weil aber nun kein bekannter Mechanismus des normalen Sprachwandels solch einen Effekt hervorrufen könnte, nimmt Don Laycock an, dass ‚ein einflussreicher Sprecher des Uisai absichtlich eine Änderung eingeführt hat, um seine Gruppe vom Rest des Buin-Volkes abzugrenzen‘. Dies ist ein weiteres Beispiel für den großen Einfluss von Einzelnen in einer kleinen Sprechergemeinschaft.“ (Evans 2014, S.33)

Solche einsamen administrativen Akte wurden durch die gruppendynamische Neigung zur „Esoterogenisierung“, also durch „das Hervorbringen von Unterschieden und sprachlicher Unklarheit“ unterstützt. (Vgl. Evans 2014, S.34) Die zu einer gemeinsamen Sprachfamilie gehörenden Gruppen versuchten durch sprachliche Distinktion die eigene kulturelle Identität gegenüber der der anderen Gruppen zu stärken. In gewisser Weise funktioniert die Literatur noch heute auf diese Weise. ‚Literatur‘ – insbesondere die ‚gehobene‘ Literatur, aber nicht selten auch die kulturellen Elaborate der sogenannten Subkulturen – erscheint vor diesem Hintergrund als ein Verfahren, sich von anderen Gesellschaftsschichten abzusetzen. Nur wer eine gewisse ‚Bildung‘ genossen hat, gehört zu den Eingeweihten, die diese Literatur verstehen können.

Ein anderes Beispiel steht für die Abkehr regionaler Sprachgemeinschaften von der Globalisierung. Bu Mangrikaan, ein Sprecher des Sa (Pfingstinsel), war im Zweiten Weltkrieg amerikanischer Soldat. Er lehnte nach dem Krieg das Angebot, us-amerikanischer Bürger zu werden, ab: „Was er ... von der Außenwelt gesehen hatte, hatte ihn dermaßen enttäuscht, dass er lieber in sein Heimatdorf zurückkehrte. Nach dem Abbau der Kirche riet er zu einer Rückkehr zu duan apay – dem traditionellen kastom (Brauchtum, Kultur).“ (Evans 2014, S.324) – Die anderen Bewohner seines Heimatdorfes ließen sich von ihm überzeugen und setzten ihr „traditionelles Leben mit einer Selbstversorgungswirtschaft auf der Grundlage von Jamswurzeln“ fort. (Vgl. ebenda)

Die Sprachgemeinschaft existiert bis heute, genießt die staatliche Anerkennung durch die Regierung und hat die „vollständige Besitzgewalt über ihre Lebensgrundlagen“. (Vgl. Evans 2014, S.325)

‚Diversität‘ ist also ein weiteres Stichwort, das eng mit der individuellen Ontogenese, also dem Einfluß einzelner Personen auf eine Gemeinschaft verknüpft ist. Auf die entsprechende Parallele zwischen der biologischen und der kulturellen Phylogenese bin ich schon zu sprechen gekommen. (Vgl. meine Posts vom 01.12. und vom 03.12.2014) Die der biologischen Artenvielfalt entsprechende kulturelle ‚Artenvielfalt‘ ist aber anders als die biologische nicht über die Gene abgesichert, sondern hängt am mit jeder neuen Generation verbundenen, nicht ganz ‚fehlerfreien‘ Erlernen der Sprache einer Sprechergemeinschaft. Dieses Sprechenlernen ist genetisch nicht abgesichert. Es gibt keine sich immer wieder naturgesetzlich durchsetzenden Universalien, die die Einheitlichkeit aller Sprachen oder auch nur den kulturellen Bestand einer bestimmten Sprache sicherstellen würden.

Deshalb haben wir es hier mit keiner wirklichen Koevolution von biologischer und kultureller Phylogenese zu tun. Die kulturelle Phylogenese beginnt mit jeder Geburt aufs Neue. Nur die biologische Phylogenese setzt sich – trotz aller Mutationen – ungebrochen fort, so wie es auch schon Darwins Konzept von der „Entstehung der Arten“ postuliert. Darwin zufolge entstehen neue Arten nicht in erster Linie durch Mutationen, sondern aufgrund des Aussterbens von Zwischengliedern, die Lücken hinterlassen, so daß die überlebenden Lebensgemeinschaften allererst über diese Lücken als Arten sichtbar werden. Auch Frans de Waal weist ausdrücklich darauf hin, daß es in der biologischen Evolution keine Anomalien gibt, sondern die Kontinuität dominiert. (Vgl. meinen Post vom 15.05.2011) Nur die kulturelle Evolution ist nicht immun gegenüber Monsterbildungen, wie man aus Peter Sloterdijks „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (2014) lernen kann. (Vgl. meine Posts vom 22.08. bis zum 08.09.2014) Nur so wird auch verständlich, warum derzeit aus allen Ländern der Welt junge Menschen den kulturellen Traditionen ihrer Eltern und Großeltern den Rücken kehren und freiwillig nach Syrien in den Krieg ziehen, um den IS-Terror zu unterstützen.

Evans’ ‚Koevolution‘ ist über die individuelle Ontogenese vermittelt. Deshalb haben wir es tatsächlich nicht mit lediglich zwei, sondern vielmehr mit drei verschiedenen Entwicklungsprozessen und ihren unterschiedlichen Logiken zu tun. Denn trotz allen Beharrens einer bestimmten kulturellen Entwicklungstendenz – wie etwa auf der Osterinsel, wo kein Mensch auf die Idee gekommen war, daß das Abholzen der Bäume das menschliche Leben auf der Insel künftig unmöglich machen würde – bietet die individuelle Ontogenese mit ihren kreativen Sprüngen immerhin auch die Chance, den sich in diesem Fall katastrophal auswirkenden Wagenhebereffekt außer Kraft zu setzen und aus einer verhängnisvollen Entwicklung wieder auszusteigen. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011)

So gesehen führte die Sprachlichkeit des Menschen nicht etwa zu einer dem Wagenhebereffekt verdankten beschleunigten kulturellen Akkumulation und, wie manche meinen, zur Globalisierung. Dieser Effekt wäre vor allem auf die vor 5000 Jahren beginnende Entwicklung der Schrift zurückzuführen. Die Sprachlichkeit führte vielmehr über lange, hunderttausende von Jahren umfassende Zeiträume hinweg zu einer Beschleunigung und Vergrößerung von Diversität.

PS vom 14.12.2014:
In der letzten Woche hat eine demagogische Stellungnahme der CSU zur deutschen Sprache als einem wichtigen Integrationsmittel für Zuwanderer noch einmal deutlich gemacht, auf was für einem ideologisch verminten Gelände ich mich hier bewege, wenn ich auf die Gefahren einer die kulturelle Diversität bedrohenden Globalisierung hinweise. Die Vorstellung des CSU-Papiers, das Sprechen der Menschen bis in ihre intimste Privatsphäre hinein kontrollieren zu wollen, ist gleichermaßen heuchlerisch wie dumm und bewegt sich auf unterstem Stammtischniveau. Prompt wurden in zeitlicher und räumlicher Nähe zum CSU-Parteitag drei Ausländerheime angezündet.
Heuchlerisch ist die CSU-Stellungnahme, weil es auch in Bayern, namentlich in München, Universitäten gibt, auf die Seehofer und Konsorten so gerne stolz sein wollen, die aber, wie überall in Deutschland, seit den berüchtigten Bologna-Beschlüssen alles dafür tun, das Deutsche als Wissenschaftssprache durch Englisch zu ersetzen. Das ist natürlich kein Problem für die Stammtischstrategen der CSU.
Dumm ist die CSU-Stellungnahme, weil Mehrsprachigkeit als ein Lernvorteil gilt. Sogar im innerdeutschen Kulturbereich haben Kinder, die neben Hochdeutsch auch einen Dialekt beherrschen, mit ihrem größeren Wortschatz einen meßbaren Lernvorteil gegenüber den Kindern, die nur Hochdeutsch können. Aber vielleicht gilt das ja nicht für das Bayrische. Hier scheint es sich eher um einen den intellektuellen Horizont beschränkenden Dialekt zu handeln.
Schon Wilhelm von Humboldt hatte von den Vorteilen der gesellschaftlichen Vielfalt gewußt. Diese Vielfalt war Teil seines Bildungskonzepts. Er stufte das Bildungsniveau einer Gesellschaft als umso höher ein, je mehr innere Vielfalt sie zulassen konnte, ohne auseinanderzubrechen. Diversität ist ein Bildungsgut. Der größte Feind von Bildung ist Uniformität.

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Sonntag, 7. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Zur Plessnerschen Definition des Körperleibs gehört dessen exzentrische Positionalität. Über unseren Körper sind wir Teil der äußeren, räumlich dimensionierten Welt, und zugleich befinden wir uns außerhalb dieser Welt – wie Plessner es ausdrückt: an ihrer Peripherie –, nämlich im Inneren unseres Körpers als Leib. Zur Exzentrik unseres Körperleibs gehört also die Gleichzeitigkeit bzw. mit Plessner: die Doppelaspektivität von Peripherie und Mitte. Als ‚Körper‘ befindet sich unser Körperleib insofern in der Mitte der äußeren Welt, als er das Koordinatensystem bildet, mit dessen Hilfe wir uns in der Welt orientieren: rechterhand, linkerhand, vorne, hinten, oben und unten. Daran orientiert sich auch unser Zeitempfinden: die Zukunft liegt vor uns, die Vergangenheit hinter uns. (Vgl. Evans 2014, S.250)

Man könnte nun versucht sein, diese räumliche Orientierungsstruktur für universell zu halten und als ein Grundmuster zu verstehen, das für alle Sprachen gilt. Aber tatsächlich gehen andere Sprachgemeinschaften – einige Indianervölker in Südamerika und die Aborigines in Australien – anders vor. Deren Exzentrik ist im Vergleich zur Plessnerschen Bestimmung des Körperleibs ‚verschoben‘. Dennoch schimmert hier der Körperleib immer noch durch.

Bei den Aborigines ist es so, daß der eigene Körper nicht zur Welt gehört. Nicht nur das Innere des Körperleibs befindet sich außerhalb der Welt, sondern auch der äußere physische Körper. Vorne und hinten, rechts und links sind für sie keine Orientierungskategorien. Wird Evans von einem Kayardild-Sprecher aufgefordert, ein Buch woanders hinzulegen, heißt es nicht nach rechts oder links, sondern beispielsweise ‚nach Süden‘. Evans kommentiert trocken: „Wenn man Kayardild sprechen will, muss man also auch lernen, dass die Umgebung wichtiger ist als man selbst.“ (Evans 2014, S.251)

Wir haben es hier mit einer besonderen Ausprägung der exzentrischen Positionalität zu tun, in der die Sprecher insgesamt mehr in Richtung Peripherie ‚verrückt‘ sind. Ansonsten kommt hier aber wieder eine Innen-Außen-Differenzierung zur Geltung, in der der Körper selbst sich zwar nicht auf der Grenze befindet, sondern noch im Bereich des Inneren. Aber in allen Fällen, wo es um subjektive Befindlichkeiten geht, setzt sich dann doch wieder die Orientierung am Körperleib durch: „Es gibt durchaus Wörter für ‚rechte Hand‘ (junku) und ‚linke Hand‘ (thaku). Doch diese werden hauptsächlich zur Ortsbestimmung etwa von Schmerzen auf der linken Körperseite verwendet, also in Fällen, in denen eine Orientierung am Kompass nicht konstant bliebe.“ (Evans 2014, S.251) – Wir haben es also nicht mit einer Peripherie/Mitte-Exzentrik, sondern mit einer Mobilität/Konstanz-Exzentrik zu tun. Hier ist der Körperleib nicht die strukturierende Mitte der Raumwahrnehmung, sondern er bewegt sich ‚quer‘ zu den Himmelsrichtungen, als wäre er kein Teil des konstant bleibenden äußeren Raums.

Ein anderes Beispiel für die verschobene Exzentrik führt zu meinen Schlußbemerkungen in meinem Post vom 04.12.2014 zurück, in dem ich auf die Verwirrungen beim Gebrauch der Wörter ‚später‘ und ‚älter‘ eingegangen bin. Bei unserem eigenen Zeitempfinden haben wir immer wieder Schwierigkeiten, spät und früh, jung und alt, den entsprechenden Vorgängen, um die es geht, chronologisch richtig zuzuordnen.

Es gibt nun Indianervölker, wie etwa die Sprecher des Aymara in Südamerika, die ganz anders vorgehen als wir und die sich dabei ausschließlich an ihren sinnlichen Gewißheiten orientieren: „Evidentialität“ hat Vorrang, auch beim Zeitempfinden. (Vgl. Evans 2014, S.259ff.) Nun ist es aber so, daß in der Zeit alles, was in der Zukunft liegt, ungewiß ist und alles, was in der Vergangenheit liegt, gewiß ist. Die Sprecher des Aymara sind gute Kantianer, denn schon Kant bevorzugte die regressive Synthesis, also die empirisch absicherbare Zurückverfolgung von wirklichen Ereignissen in die Vergangenheit, gegenüber der progressiven Synthesis, also die spekulative Verfolgung von möglichen Ereignissen in die Zukunft.

Verbunden mit unserem Körperleib bedeutet das für die Sprecher des Aymara, daß vor uns, also vor unseren Augen, wo alles gewiß ist, die Vergangenheit liegt, und hinter uns, wo wir keine Augen haben und deshalb alles ungewiß ist, die Zukunft liegt. Wir haben hier also wiederum eine über den Körperleib und seine Sinnesgewißheiten vermittelte Verbindung von Raum und Zeit, in der die Sprecher des Aymara mit ihren Händen nach vorne zeigen, wenn sie von der Vergangenheit sprechen, und nach hinten über die Schulter zurückdeuten, wenn sie von der Zukunft sprechen. (Vgl. Evans 2014, S.261)

Auch die Sprecher des Aymara sind also über ihren Körperleib exzentrisch positioniert. Allerdings dominieren die sinnlichen Gewißheiten ihr Zeitempfinden derart, daß ihr Zeitpfeil in die zu unserem eigenen Zeitempfinden entgegengesetzte Richtung zeigt.

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Samstag, 6. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

In meinem Post vom 03.12.2014 bin ich auf die hierarchischen Infrastrukturen von Computerprogrammen bei der Codierung von Informationen eingegangen, was von den Ingenieuren auch irreführend als ‚Semantik‘ bezeichnet wird. (Vgl. meinen Post vom 01.08.2014) Diese in Wenn-Dann-Strukturen eingebundenen 1:1-Zuordnungen von ‚Bedeutungen‘, etwa von Ziffernfolgen von ASCII zur Tastatur eines Keyboards, abstrahieren von variablen Kontexten, wie sie die Gestaltwahrnehmung kennzeichnen. Mit solchen variablen Kontexten haben es aber, wie Evans schreibt, gerade Kinder zu tun, die es aufgrund der zufallsbedingten Umstände ihrer Geburt mit unvorhersagbaren gruppenspezifischen Kulturen und Sprachen zu tun bekommen und deshalb einen entsprechenden „Arbeitsraum“ benötigen, das ihnen ein „kulturbedingtes Regulierungsverhalten“ ermöglicht. (Vgl. Evans 2014, S.239f.)

Es scheint, daß Evans (oder vielleicht der Übersetzer?) beim Wort „Arbeitsraum“ an den „Arbeitsspeicher“ eines Computers gedacht hat, womit wir wieder beim Computerprogramm gelandet wären. Tatsächlich geht es hier aber um einen Spielraum des Bewußtseins, der nicht 1:1 auf die Signalwege von bedingten oder unbedingten Reflexbögen festgelegt ist. Einen solchen Gestaltungsspielraum bzw. mit Evans: eine solche „Entwicklungsformbarkeit“ (Evans 2014, S.240) bietet aber nur die Gestaltwahrnehmung, die ich an dieser Stelle als die Fähigkeit definieren möchte, zwischen Vordergründen und Hintergründen (Husserls ‚Horizonte‘) zu differenzieren. Nichts anderes leistet übrigens die Aufmerksamkeitssteuerung der Sprache (vgl. Evans 2014, S.245), deren Erlernung Evans auch als „Prozess des ‚Einschießens‘ auf sprachspezifische Bedeutungskategorien“ beschreibt (vgl. Evans 2014, S.274). Dieses sich-Einschießen auf das Fokussieren von spezifischen Vordergründen wird durch das Erlernen einer Sprache gewohnheitsmäßig. (Vgl. Evans 2014, S.275) Phänomenologen bezeichnen das auch als Lebenswelt.

Das Sprechenlernen kleiner Kinder besteht also keineswegs in der Übernahme von festgelegten Bedeutungshierarchien, sondern in einer allmählich zunehmenden Kompetenz bei der Überlagerung von Vordergründen und Hintergründen, die trotz aller Gewohnheitsbildung niemals in eine starre Fixierung von 1:1-Bedeutungszuweisungen mündet. Auf den Punkt gebracht: sprachliches Sinnverstehen bildet einen Aspekt unserer Gestaltwahrnehmung.

Weshalb in Bezug auf das Sprechenlernen die Gestaltwahrnehmung fundamentaler und auch plausibler ist als die ‚Statistik‘, mit deren Hilfe einigen Entwicklungspsychologen zufolge Kinder durch zufälliges Erraten auf die richtigen Bedeutungen kommen (vgl. meine Posts vom 24.07.2011 und vom 06.06.2012), verdeutlicht „Quines Problem“ (Willard Van Orman Quine, us-amerikanischer Philosoph, 1908-2000). Evans bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
„Nehmen wir an, wir sehen ein weißes Kaninchen und hören das Wort Gavagai, das einer uns unbekannten Sprache entstammt. Woher wissen wir, ob es ‚(Schau, ein) Kaninchen!‘, ‚Kaninchen‘, ‚Tier‘ oder ‚weiß‘ bedeutet – oder gar ‚Stufen oder zeitliche Abschnitte von Kaninchen‘? Oder um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, das eher dem entspricht, womit es ein sprechenlernendes Kind zu tun hat: Nehmen wir an, das Kind hört das Wort plick() jedes Mal, wenn seine Mutter es trägt. Woher weiß das Kind, ob sich dieses Wort auf das Tragen generell bezieht (wie etwa tragen auf Deutsch) oder auf das Tragen in einer speziellen Vorrichtung für Kinder oder auf das Tragen in beiden Armen, wie z.B. das Verb pet im Tzeltal ... Es ist offensichtlich, dass das Kind seine über eine Reihe ziemlich unterschiedlicher Kontexte verteilten Erinnerungen zusammen betrachten muss, um zu sehen, welche Elemente konstant bleiben.“ (Evans 2014, S.266)
Am Schluß dieses Zitats bringt Evans sehr schön das Überlagerungsverfahren von Vordergründen und Hintergründen als „über eine Reihe ziemlich unterschiedlicher Kontexte verteilte() Erinnerungen“, die das Kind „zusammen betrachten“ muß, zum Ausdruck. An anderer Stelle war in diesem Blog auch schon von aufeinander transparenten Folien die Rede gewesen, die den Blick auf einen bestimmten Fokus hinlenken. (Vgl. meinen Post vom 30.10.2014) Genauso funktionieren Metaphern. Und genauso funktioniert überhaupt das Sinnverstehen.

Wie wenig eine durch Algorithmen gelenkte Statistik hinsichtlich der Treffererfolge beim Erraten von Bedeutungen dem Kind beim Sprechenlernen helfen würde, zeigt das dreifache Abbildungsproblem, das Quines Problem noch einmal zusätzlich enorm verkompliziert. (Vgl. Evans 2014, S.85-114) Die Zuordnung von Bedeutungen verteilt sich auf drei Ebenen: auf die der Laute (Silben, Phoneme), auf die der Wörter (Kategorienbildungen) und auf die der Grammatik. Dabei meinte man bisher, nach dem Vorbild der generativen Transformationsgrammatik von Chomsky, daß es so etwas wie sprachliche Universalien gibt, die jeder Sprache zugrundeliegen und die dem Kind bei seiner ‚Statistik‘ helfen, die richtigen Laute mit den richtigen Bedeutungen zu generieren:
„Kindern, die aus dem Schwall von Lauten, die sie hören, schlau werden wollen, stellt sich die Aufgabe, herauszufinden, wie diese Folge von Lauten in Silben eingeteilt werden muss. Wenn man etwa als Baby die Lautfolge amadaba hört, wie soll man da vorgehen? Lange Zeit glaubte man in der Sprachwissenschaft, dass es dafür eine universelle Regel gebe, die eine Einteilung bevorzugt, bei der die Konsonanten am Anfang der Silbe konzentriert werde, das sogenannte Kopfmaximierungsprinzip (Maximus Onset Principle). Das bedeutet, dass Einteilungen, die CV-(Konsonant-Vokal)-Silben ergeben, wie ma. im Allgemeinen gegenüber VC-Silben wie am bevorzugt sind. Im Falle von amadaba ergäbe das a-ma-da-ba, egal, welche Sprache das Kind lernt. Wäre diese Regel tatsächlich universell gültig, würde das dem Kind die Aufgabe, seine Sprache zu lernen, erheblich erleichtern, denn unabhängig von anderen möglichen Schwierigkeiten im Lautsystem könnte es zumindest Lautfolgen mit einer hohen Erfolgsquote in Silben einteilen.“ (Evans 2014, S.91)
Tatsächlich wurde dann aber eine Sprache entdeckt, die „genau das Umgekehrte, nämlich VC-Silben, bevorzugt“. (Vgl. Evans 2014, S.92) Evans hält nüchtern fest: „Wenn zum genetischen Rüstzeug der Kinder wirklich das Prinzip, CV-Silben zu bilden, gehören sollte, dann sollte es für sie unmöglich sein, Arrernte zu lernen.“ (Ebenda) – Was aber offensichtlich nicht der Fall ist; denn könnten Kinder diese Sprache nicht lernen, dann würde es auch diese Sprache nicht geben. Das ist ein weiterer Beleg dafür, daß das Sprechenlernen bei Kindern mit einer kulturellen Nullage beginnt. (Vgl. meine Post vom 10.09.2012 und vom 03.12.2014)

Das Problem setzt sich auf der Ebene der Wörter fort. Aufgrund welcher Kategorien werden Wörter Gegenständen und Vorgängen zugeordnet? Evans spricht hier vom Etikettierungsproblem. Anders als in einem Museum mit seinen Ausstellungsstücken verweisen mehrsprachige ‚Etiketten‘ nicht einfach auf denselben Gegenstand. In diesem Fall hätten wir es mit einer 1:1-Entsprechung zu tun und man könnte die Etiketten der einen Sprache einfach durch die Etiketten einer anderen Sprache austauschen. Aber tatsächlich sind sich verschiedene Sprachen oft noch nicht mal darüber einig, was sie als ‚Gegenstand‘ und was sie als ‚Vorgang‘ bezeichnen wollen. Australische Sprachen identifizieren z.B. Kängurus nicht nach ihrer gegenständlichen Erscheinungsform, sondern nach ihrer Fortbewegungsart: „Das Kunwinjku ... kennt unterschiedliche Verben zur Beschreibung des Hüpfens von Kängurus. So bezeichnet kamawudme das Hüpfen des männlichen Antilopenkängurus, kadjahwahme das Hüpfen des weiblichen Pendants, knajedjme das Hüpfen des Bergkängurus, kamurlbardme das Hüpfen des schwarzen Bergkängurus und kalurlblurlme das Hüpfen des Flinkwallabys.“ (Evans 2014, S.96f.)

Evans Fazit: „Unterschiedliche Sprachen nehmen nicht einfach dieselben Einheiten als ihre Ausstellungsstücke und verpassen ihnen dann Etiketten, sondern Etiketten in Umlauf zu bringen kann ziemlich verschiedenartige Ausstellungsstücke hervorbringen.“ (Evans 2014, S.97)

Was die Ebene der Grammatik betrifft, bringt Evans das Navajo als Beispiel. Diese Indianersprache wurde während des Zweiten Weltkriegs als Geheimcode verwendet und ist vom gegnerischen Geheimdienst nicht geknackt worden. Einer der Gründe dafür ist die Verbindung zwischen Grammatik und Kosmologie. An welcher Position im Satz ein Wort steht, hängt davon ab, welche Position der jeweils durch das Wort bezeichnete Gegenstand in der Kosmologie der Navajos einnimmt: „Steht ein Tier auf der ‚Stufenleiter der Natur‘ höher, so muss es im Satz zuerst stehen, und die verschiedenen Präfixe yi- und hi- zeigen an, wer wem etwas tut. Um selbst einfache Sätze wie diese sagen oder verstehen zu können, muss man also wissen, wo ein Tier oder ein anderes Lebewesen jeweils auf der vielsprossigen Stufenleiter der Natur steht, was die Grammatik des Navajo eng an die Kosmologie der Navajos bindet.“ (Evans 2014, S.111f.)

Alle diese Abbildungsebenen müssen Kinder also in den Griff bekommen, wenn sie eine Sprache lernen. Und auf keiner dieser Ebenen gibt es allgemeingültige Universalien, die ihnen das Zuordnen von Bedeutungen erleichtern. Statistische Verfahren – etwa Sprachspiele und Abzählreime etc. (vgl. Evans 2014, S.297) – können ihnen beim versuchsweisen Drauflossprechen durchaus helfen. Aber fundamentaler als die Statistik ist allemal die Gestaltwahrnehmung, also das ständige Abgleichen von Vorder- und Hintergründen.

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Freitag, 5. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Trotz des dominierenden Konzepts von der Sprache als einem System der Informationsvermittlung schimmert in Evans Buch an verschiedenen Stellen immer wieder durch, daß es da noch etwas anderes gibt. So heißt es etwa in Evans’ Ausführungen zu Borges’ Bibliothek von Babel, daß sich die verschiedenen Sprecher einer Sprache um „Klarheit und Ausdruck“ bemühen und bei diesem Versuch „neue Grammatiken und Wörter erschaffen“. (Vgl. Evans 2014, S.21) „Glücklicherweise“, so Evans, haben sich diese Sprecher – mit Blick auf das spätere Kapitel zur „Wortkunst“ (vgl. Evans 2014, S.278-310) kann man hier getrost hinzufügen: die Sänger und Rhapsoden – nicht an „Ludwig Wittgensteins berühmte(m) Rat“ (Evans 2013, S.21) gehalten und stattdessen geschwiegen.

Wo vom Streben nach ‚Klarheit‘ und ‚Ausdruck‘ die Rede ist, da ist etwas noch im Unklaren, in der Schwebe, das der Klärung und Formung bedarf. Wie aber formt man etwas noch Ungeformtes? Ist es überhaupt ungeformt? Oder liegt es vielleicht nur in einer anderen, nicht-sprachlichen Form vor und muß nun, zum Zweck der Mitteilung, in eine sprachliche Gestalt umgeformt werden? Und geht es hier wirklich nur um Mit-Teilung für andere? Geht es in der Mitteilung für und im Austausch mit anderen vielleicht nicht immer auch darum, sich selbst besser zu verstehen bzw. sich selbst überhaupt zu verstehen?

Evans ist durchaus sensibel für solche Fragen. Aber als Vergleichender Sprachwissenschaftler bewegt er sich dabei auf einer anderen Ebene. Es gehe in der Sprachwissenschaft darum, so Evans, „sich der Wirklichkeit durch die behutsame und gleichzeitig umfassende Untersuchung der verschiedenen Standpunkte, die uns jede Sprache zur Verfügung stellt, anzunähern, und dies unter Einbeziehung des Vermächtnisses, das Menschen über Jahrtausende in ihrem Versuch, die Wirklichkeit zu erfassen, durch die Ausprägung einer eigenen Sichtweise geschaffen haben.“ (Vgl. Evans 2014, S.67f.)

Evans verortet also die Innen-Außen-Differenz nicht in der Beziehung zwichen Sprecher und Sprache, sondern zwischen Sprache und Sprache. Jede Sprache nimmt im Verhältnis zu einer anderen Sprache eine Innen-Außen-Perspektive ein, wie Evans mit Verweis auf die Doktorarbeit (2006) von Felix Ameka, einem Sprecher der ghanaischen Sprache Ewe, festhält: „Er schließt mit der Beobachtung, dass jede Sichtweise essenziell, aber für sich genommen unzureichend ist, und zitiert dabei Mary Haas, die zu so vielen nordamerikanischen Sprachen gearbeitet hat: ‚Wir erhalten Einblick, indem wir von außen hineinsehen, aber auch, indem wir von innen hinaussehen.‘()“ (Evans 2014, S.336)

Daß wir mit dieser Perspektive, von Sprache zu Sprache, immer noch nicht beim einzelnen Sprecher und seiner inneren Beziehung zur Sprache angekommen sind, deutet sich in einer Bemerkung an, die Evans zu Beginn seines Kapitels zur sozialen Kognition in der Grammatik macht: „Dieses Kapitel beleuchtet die Unterschiedlichkeit der Sprachen aus einer anderen Perspektive und zeigt, warum es sich so anders anfühlt, ‚im Innern‘ einer anderen Sprache zu sein, und man tatsächlich mit jeder Sprache, die man lernt, ein neuer Mensch wird.“ (Evans 2014, S.115) – Hier verweist Evans tatsächlich direkt auf die subjektive Befindlichkeit des sprechenden Menschen, der dadurch, daß er eine neue Sprache lernt, auch ein neuer Mensch wird. Genau das ist der Kern dessen, was ich in diesem Blog immer als Expressivität bezeichne.

An einer anderen Stelle in Evans’ Buch wird deutlich, warum Evans dennoch die enorme Bedeutung der Expressivität für die Entwicklung der Sprache nicht zur Kenntnis nimmt. Die Dominanz des Informationsvermittlungskonzeptes lenkt seine Aufmerksamkeit in eine Richtung, in der die inneren Befindlichkeiten der sprechenden Menschen auf ‚Denken‘ reduziert werden. Aus der Perspektive des Informationsbegriffs ist es gleichgültig, ob jemand etwas wünscht, genießt, fürchtet oder haßt. Die Vielfalt der inneren Zustände sind allesamt nur Informationen, und diese Informationen haben keinen Bezug auf ihren fiktionalen oder sachhaltigen Charakter. Kurz: sie haben keine Innen-Außen-Differenz. Letztlich sind alle unsere inneren Vorgänge nur ‚Denken‘. Entsprechend versucht Evans vor allem das Verhältnis von Denken und Sprechen zu klären und übernimmt dabei eine interessante Formulierung des Psycholinguisten Dan Slobin; wir denken, um zu sprechen: „Egal, wie wir auch denken mögen – und wir können auf vielerlei Weise ohne Worte denken –, am Ende müssen wir es doch in Worte fassen, wenn wir es irgendjemandem mitteilen wollen.“ (Evans 2014, S.252)

In diesem Zitat wird noch einmal die expressive Tendenz im Verhältnis zwischen Sprecher und Sprache deutlich: wir denken nicht einfach nur so für uns vor uns hin, sondern wir sind existentiell darauf angewiesen, unser Denken in Worte zu fassen. Erst im Umweg über den anderen Menschen kommt unser Denken in uns ans Ziel. Deshalb ist Sprache rekursiv! Rekursivität ist ein unverzichtbares Moment von Expressivität.

Zugleich haben wir in diesem Zitat die Grenze zwischen Innen und Außen: es gibt ein inneres Denken, schon bevor wir sprechen! Es bewegt sich zwar immer an der Grenze zur äußeren Sprache entlang, aber es ist noch nicht sprachlich ausgeformt; es ist noch weitgehend intuitiv. Bevor wir in Worten sprechen, denken wir in Bildern.

Diese Grenze ist fundamental und wird durch unser Sprechen nicht aufgehoben. Wir bewegen uns auch, wenn wir sprechen, noch immer auf dieser Grenze zwischen Worten und Bildern, zwischen Außen und Innen. Deshalb greift hier das Informationsvermittlungskonzept nicht. Es werden nicht einfach Informationen in Worte und in Sprache verpackt und komprimiert. (Vgl. Evans 2014, S.53f.) Unser Sprechen wird immer auf spezifische Weise ungenau und unvollständig sein. Es wird deshalb immer in der Poesie und in der Literatur besser aufgehoben sein als in Formeln und in der Mathematik.

Statt also von einer Differenz zwischen Denken und Sprechen zu sprechen, sollten wir lieber von einer Differenz zwischen Meinen und Sagen sprechen. Das Wort ‚Meinen‘ umfaßt alle die inneren Vorgänge und Zustände, die mit dem Wort ‚Denken‘ auf einen einzigen Zustand nivelliert werden. Letztlich vertritt Evans sogar die Auffassung, daß man diesem ‚Denken‘ mit den „experimentellen Methoden der Psychologie“ auf die Spur kommen und es meßbar machen könne. (Vgl. Evans 2014, S.249f.) Damit aber wird dem ‚Denken‘ jeder expressive Drang ausgetrieben, und unsere inneren Zustände werden endgültig auf bloße Informationsvermittlung reduziert.

Alles das, wovon das Informationsvermittlungskonzept der Sprache abstrahiert, kommt aber trotzdem nochmal ausführlich in dem Kapitel zur „Wortkunst“ zu seinem Recht. (Vgl. Evans 2014, S.278-310) Hier geht es um genau die Sänger und Rhapsoden, die durch ihre individuelle Sprachfertigkeit die Sprache einer Gemeinschaft und eines Volkes weiterentwickeln, so wie Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung die deutsche Sprache beeinflußt hat: „Koevolution beschränkt sich jedoch nicht auf das Wechselspiel zwischen Kultur und Genen. Im größeren Zusammenhang der Kultur gibt es auch verbundhafte Entwicklungen zwischen Sprache (gemeint ist hier nicht die ‚Sprache‘ als solche, sondern die individuelle Sprachkunst von Sängern, Rhapsoden und Dichtern – DZ) und dem Rest der Kultur ... Zum einen wird dabei das Verhältnis zwischen Sprache und gewohnheitsmäßig eingeschliffenen Denkmustern beleuchtet ..., zum anderen das zwischen gewöhnlicher ‚unbewusster Sprache‘ und bewahrtem ‚poetischem‘ Gebrauch von Sprache, durch den die am meisten geschätzten und bewegendsten Schöpfungen einzelner Kulturen hervorgebracht werden ...“ (Evans 2014, S.241)

Mit „Koevolution“ meint Evans sonst immer das wechselseitige Bedingungsverhältnis von kultureller und biologischer Phylogenese, also von „Kultur und Genen“. (Vgl. auch Evans 2014, S.237f., 240f.) In dieser Verhältnisbestimmung kommt die individuelle Ontogenese nicht vor. In dem Kapitel zur Wortkunst wird aber genau dieser individuelle Einfluß, also die Ontogenese, auf die Sprache thematisiert. Jetzt ist auch von „verbundhafte(n) Entwicklungen“ zwischen ‚Sprache‘ „und dem Rest der Kultur“ die Rede. Mit ‚Sprache‘ ist die Wortkunst gemeint und über die Wortkunst der Einfluß einzelner herausragender Persönlichkeiten auf eine Sprachgemeinschaft.

Mit diesen ‚Persönlichkeiten‘ thematisiert Evans auch wieder die inneren Befindlichkeiten: Es „müssen psychologische Indizien miteinbezogen werden, die uns Hinweise darauf geben, wie Menschen denken, wie Babys lernen und wofür sie sich interessieren, und auch Belege aus Dichtkunst und Musikwissenschaft, um zu verstehen, wie herausragende, schöpferische Persönlichkeiten etwas erschaffen und wie diese Schöpfungen dann in das System der Alltagssprache zurückgelangen.“ (Vgl. Evans 2014, S.241)

Aber damit beschränkt und fokussiert Evans trotz seiner Frage danach, „wie Menschen denken“ und „wie Babys lernen und wofür sie sich interessieren“, das Thema auf die Genies der Wortkunst. So entgeht ihm das, was Tomasello in seinem Buch zur „kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens“ (1999/2002) als „kreative Sprünge“ bezeichnet, die es schon kleinen Kindern ab dem fünften Lebensjahr ermöglichen, zwischen individuellem und kulturellem Denken hin und her zu springen. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011) Das damit gegebene innovative Potential gerade auch für die Weiterentwicklung von Sprache ist enorm und ist deshalb keineswegs auf gereifte und herausragende Persönlichkeiten der Dichtkunst beschränkt. Es ist wiederum Evans selbst, der auf dieses Faktum verweist, ohne es allerdings in seinem Konzept zur biologischen und kulturellen Koevolution zu berücksichtigen. Er vergleicht sprechenlernende Kinder mit „unachtsamen Schreibern“, die beim Abschreiben eines Textes Fehler machen: „Sie bilden die Sprache ihrer Eltern weniger exakt nach, und wenn sie dann einmal selbst Eltern sind, dann dient ihre Sprache als Muster für eine wiederum nicht originalgetreue Wiedergabe durch die nächste Generation.“ (Evans 2014, S.141)

Diese ‚Fehler‘ sind zwar in jeder Generation nur minimal, „aber sie summieren sich irgendwann, und zu manchen Zeiten erfolgt dann ein Umschlag (in eine neue Sprache – DZ).“ (Vgl. Evans 2014, S.143) – Auch hier ist es wieder bezeichnend, daß Evans das Sprechenlernen von kleinen Kindern als ‚fehlerhaft‘ beschreibt. Das entspricht dem Informationsvermittlungskonzept. Aus einer anderen Perspektive, um die es im folgenden Post zur Gestaltwahrnehmung gehen soll, haben wir es nicht mit ‚Fehlern‘ zu tun, sondern mit Kreativität, im Sinne von Tomasellos kreativen Sprüngen.

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Donnerstag, 4. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Es gibt zwar ein umfangreiches Kapitel zur „Wortkunst“ (vgl. Evans 2014, S.278-310), das inhaltlich in die Richtung der entsprechenden Ausführungen von Fritz Mauthner in seinen „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ (1906) geht (vgl. meinen Post vom 20.10.2013); es gibt auch sonst einige Stellen, auf die ich im nächsten Post noch eingehen werde, die die Differenz von Außen und Innen, von Sagen und Meinen thematisieren. Aber insgesamt übernimmt Evans unkritisch das übliche Informationsmodell von Sprache und abstrahiert damit von ihrer Ausdrucksfunktion. So feiert er den Beginn der Sprachlichkeit in der Evolution des Menschen als ein Beschleunigungsmoment im Prozeß der „Informationsweitergabe“:
„Als unsere frühen menschenartigen Vorfahren nach und nach von der Steuerung durch Instinkte befreit wurden, entfaltete sich eine zweite Art der Informationsübertragung von einer Generation zur nächsten. Neben dem Hauptweg der genetischen Übertragung, die wir mit allen anderen Spezies gemeinsam haben, tauchte ein neuer Weg auf, die Kultur, und diese wurde immer mehr durch Sprache vermittelt. Neue Techniken und Beobachtungen über die Welt konnten nun schnell zum gemeinsamen Repertoire einer Gruppe von Menschen hinzugefügt werden, ohne auf den langsamen Prozess der genetischen Selektion warten zu müssen. So erhöhten sich die Geschwindigkeit und Menge der Informationsweitergabe von einer Generation an die nächste, indem die genetischen und kulturellen Übertragungswege sich addierten.“ (Evans 2014, S.238)
Dazu fällt Evans ein gleichermaßen untaugliches wie bezeichnendes Beispiel ein: „Wenn man sich auf die genetische Weitergabe verlässt, dann müssen Einzelwesen essen und sterben, bevor man sagen kann, dass die Spezies ‚gelernt‘ hat, dass man diese bestimmte Nahrungsquelle besser meidet, nämlich wenn ein entsprechender ererbter Instinkt entstanden ist. Aber sobald die Kultur da ist und vor allem wenn die Sprache dazukommt, reicht ein einziger Todesfall, damit sich etwas ändert.“ (Evans 2014, S.239) – Es dürfte inzwischen eigentlich hinlänglich bekannt sein, daß die Effektivität, mit der sprachunfähige Ratten voneinander lernen, daß bestimmte Speisen vergiftet sind, in nichts der Effektivität des menschlichen Mitteilungsvermögens nachsteht. Lassen wir einmal den von Tomasello beschriebenen Wagenhebereffekt beiseite: Ginge es tatsächlich nur um Informationsübermittlung, hätte es – zumindestens was dieses Beispiel betrifft – keiner menschlichen Sprache bedurft.

Bezeichnend ist dieses von Evans gewählte Beispiel deshalb, weil es den Kern des dominanten Informationsverarbeitungskonzepts offenlegt: A übermittelt an B die Information C. Die inneren Zustände bzw. die Befindlichkeiten von A und B spielen dabei keine Rolle. Evans kommt übrigens dann doch noch auf Tomasellos Wagenhebereffekt zu sprechen, indem er die menschliche Sprache als eine „riesige Erinnerungsdatenbank“ bezeichnet: „Jede Verbesserung von einer Generation an die nächste erhöht schrittweise den Entwicklungsstand der menschlichen Kultur ...“ (Vgl. Evans 2014, S.239) – Auch hier ist mit Erhöhung des Entwicklungsstandes lediglich die Addition von Informationen gemeint.

Das Informationsverarbeitungskonzept reduziert die menschliche Kommunikation auf die Möglichkeiten einer Maschinensprache. Dazu paßt die Graphik, mit der Evans die grammatischen Strukturen der sozialen Kognition veranschaulicht. (Vgl. Evans 2014, S.127) Sie ähnelt dem Schaltplan eines Stromkreislaufes in einer Maschine. Im Zentrum dieses Schaltplans – ähnlich einer Batterie; es fehlen nur noch die blinkenden Lämpchen – befindet sich der „Sprechakt“: „Schließlich steht im Zentrum des Modells der Sprechakt, denn Sprechakte ermöglichen es, dass wir Informationen über Ereignisse zuverlässig aktualisieren und übertragen können.“ (Evans 2014, S.127)

Das Maschinenähnliche dieses Verschaltungsmodells, das Evans vorschlägt, besteht in der Hierarchisierung der Funktionen des Sinnverstehens. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Bedingungen und Voraussetzungen für Sinnverstehen in Sprache gipfeln zu lassen: hierarchisch im Sinne einer Infrastruktur, d.h. die verschiedenen Ebenen sind in Form eines starren Schaltplans miteinander verschaltet und ihre verschiedenen, lexikalisch festgelegten Datensätze werden nacheinander aktualisiert (ähnlich dem schrittweisen Aufleuchten von Lämpchen in einer Lichterkette); und metaphorisch im Sinne einer Überlagerung von aufeinander transparenten ‚Folien‘, in denen Vordergründe und Hintergründe zueinander variabel sind und so die ‚Datensätze‘ im Überlagerungsprozeß allererst erzeugen.

Die hierarchischen Funktionen des Sinnverstehens, als Informationsübertragung, können algorithmisch fixiert werden. Vordergründe können hingegen beliebig fokussiert werden, und die verschiedenen ‚Hintergründe‘ bzw. die Situationen, in denen wir kommunizieren, bieten nahezu unendlich viele Möglichkeiten, etwas zu fokussieren. Diese Verwiesenheit von Sprache auf Kontexte und ihre allmähliche Prägung auf bestimmte Kontexte in Form von ‚Landessprachen‘, die sich nicht einfach in andere Länder und Regionen ‚verpflanzen‘ lassen (vgl. meinen Post vom 01.12.2014) –, verweist auf einen ökologischen „Wissenstyp“, der sich von dem funktionellen, universalisierbaren Informationsbegriff unterscheidet: „Der Wissenstyp und der zugehörige Wortschatz ... gehören normalerweise zu den ersten Dingen, die verloren gehen, wenn Sprecher einer Sprache aus ihrer angestammten Umgebung in ein Reservat in Oklahoma, auf eine Gummiplantage in Malaysia, in ein Ghetto in Ibadan umgesiedelt werden oder einen sesshaften Lebensstil annehmen müssen, bei dem sie ihr traditionelles ökologisches Wissen nicht mehr anwenden können.“ (Evans 2014, S.44)

Diese von Evans angesprochene ökologische Wissensform läßt sich also nicht einfach informationstechnologisch komprimieren und algorithmisch transformieren, anders als Evans es am Beispiel der über 2500 Jahre alten Grammatik von Panini beschreibt, der als der Urvater der modernen Computersprachen gilt. (Vgl. Evans 2014, S.53f.) Der Punkt, um den es mir geht, läßt sich sehr schön an einem Beispiel verdeutlichen, das Evans selbst unwillentlich in der von Robert Mailhammer stammenden deutschen Übersetzung seines Buches liefert. Dabei handelt es sich um einen Denkfehler, der trotzdem für den Leser des Textes einen sinnvollen Satz ergibt, der aber für ein Computerprogramm prinzipiell nicht entschlüsselbar ist.

Evans erklärt in dieser Textstelle, wie der „Wörter-und-Sachen“-Ansatz in der Vergleichenden Sprachwissenschaft funktioniert. (Vgl. Evans 2014, S.228) Wörter einer neuen, unbekannten Sprache, die bestimmte archäologische Fundstücke bezeichnen, können über diese archäologischen Fundstücke datiert werden. Die Verbindung von Wörtern und Sachen hilft den Sprachwissenschaftlern dabei, herauszufinden, wann bestimmte Wörter im Gebrauch waren. Das ermöglicht es ihnen wiederum, zu ermitteln, wann diese Wörter aus anderen, älteren Sprachen als Lehnwörter übernommen wurden. Evans (bzw. Mailhammer) schreibt:
„Dabei (also beim Wörter-und-Sachen-Ansatz – DZ) geht es darum, herauszufinden, in welchen Sprachen es rekonstruierbare Wörter für den Bestand an archäologisch belegten Gegenständen gibt und in welchen Sprachen diese späteren Entlehnungen aus einer jüngeren prestigeträchtigen Kultur stammen.“ (Evans 2014, S.228 (Hervorhebungen – DZ))
Evans/Mailhammer stolpern in diesem Satz über das Wort ‚später‘, im Sinne von ‚nachfolgend‘, dessen Gegenstück ‚früher‘ wäre. In ‚spät‘ steckt aber auch ‚Verspätung‘, etwas, das den Wartenden hinhält und die Zeit sich quälend lang hinziehen läßt, bis es schließlich ‚zu spät‘ ist. Es steckt etwas vom Altwerden in diesem Wort. ‚Spät‘ und ‚alt‘ verwandeln sich in Synonyme: je später das Jahr, um so länger hat es sich hingezogen und um so älter ist es auch.


Es ist möglich, daß sich Mailhammer von diesem Gefühl hat verleiten lassen, weshalb er glaubte, den „späteren Entlehnungen“ im Satz ein ‚jünger‘ folgen lassen zu müssen, was den eigentlichen Sinn des Satzes verdreht. Denn mit den „späteren Entlehnungen“ von Wörtern sind keine ‚älteren‘ Entlehnungen gemeint, sondern Lehnwörter aus einer älteren Kultur, die später von einer jüngeren Sprach- und Kulturgemeinschaft übernommen wurden.Trotzdem versteht man natürlich, wie gesagt, als kompetenter Leser, was Evans/Mailhammer meinen. Erst recht, wenn so ein Leser, wie eben auch der Rezensent, sich selbst schon oft – und je ‚später‘ der Tag, um so öfter – beim Gebrauch dieses Wortes vertan hatte.

Das Beispiel ist insofern lehrreich, als ein verständiger Leser kein Problem damit hat, den eigentlichen Sinn des Satzes zu rekonstruieren. Ein Computerprogramm wäre dazu nicht in der Lage. Darüberhinaus sind aber auch die Nebenbedeutungen von ‚später‘, wie Spätkömmling, Verspätung oder eben auch ‚zu spät‘ interessant. In einem Wort kann vieles mitschwingen. Ein und dieselbe ‚Information‘, wie eben das Wort ‚später‘, kann viele Bedeutungen haben. Und damit wäre nun wirklich jede Informationsverarbeitungsmaschine überfordert. Es sei denn, man bezeichnet so ein Wort als Q-Bit (Quantenbit), das verschiedene Zustände gleichzeitig einnehmen kann. Allerdings nur zwei. Und dabei geht es auch nicht um Semantik, sondern um Speicher- und Rechenkapazitäten.

PS (5. Dezember 2020):
Das Problem, mit dem ich mich hier abquäle, besteht in der ‚Reihe‘, die in unserer Schriftlichkeit immer von links nach rechts verläuft, was in einer chronologischen Reihe dem Zeitpfeil entspricht: links ist das ‚Frühere‘ und rechts das ‚Spätere‘. Die Richtung nach rechts verweist also auf die Zukunft, und die Richtung nach links auf die Vergangenheit.
In der Paläologie und Paläontologie haben wir es nun dummerweise immer mit zwei Zeitpfeilen zu tun, die wir miteinander koordinieren müssen: die chronologisch korrekte Entwicklungsrichtung von der Vergangenheit bis heute, und unser eigener Blick auf die Vergangenheit, also von heute in die Vergangenheit. Bei der Benennung der verschiedenen Epochen hat das dazu geführt, daß wir sie nach unserer Blickrichtung benennen. Das ‚Jung‘-Paläolithkum (ab 40.000 Jahren vor heute) liegt unserer Gegenwart näher als das ‚Alt‘- und ‚Mittel‘-Palälolithikum (ab 2,6 Millionen und ab 130.000 Jahren vor heute). Tatsächlich aber, von der Entwicklungsrichtung dieser Epochen aus gesehen, ist das ‚Alt‘-Paläolithikum jung, und das ‚Jung‘-Paläolithkum ist alt.
Daher kommen also meine Probleme mit der sprachlichen Verwendung von ‚spät‘, ‚früh‘, ‚alt‘ und ‚jung‘.

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Mittwoch, 3. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Der Synchronismus hat in der Sprachwissenschaft eine lange Tradition, die mit de Saussures Strukturalismus begonnen hat. Ferdinand de Saussure (1857-1913) hat die Diachronie, also die Entwicklungsgeschichte einer Sprache, von ihrer Synchronie, d.h. ihrer aktuellen Bedeutung für eine Sprechergemeinschaft, abgetrennt: „Er verglich die Sprache mit einem Schachspiel. Ein synchroner Ansatz ist wie ein Schachproblem: Alles was zählt, ist die aktuelle Stellung auf dem Brett, egal durch welche Züge es dazu gekommen ist.“ (Evans 2014, S.152)

Dieser Synchronismus hat sich wahrscheinlich auch deshalb bis in unsere Gegenwart durchgehalten, weil ihm ein entwicklungspsychologisches Faktum entspricht: Jedes Kind, das sprechen lernt, beginnt bei Null. Günter Dux spricht hier von der „kulturellen Nullage“ der individuellen Ontogenese. (Vgl. Dux 2000/2005, S.62; vgl auch meinen Post vom 10.09.2012) Dem sprechenlernenden Kind stehen also nur synchrone ‚Daten‘ zur Verfügung, mit deren Hilfe es sich seinen individuellen Sprachgebrauch rekonstruieren kann: „Ein Kind, das seine Sprache lernt, hat nur Zugang zu dem, was die Menschen jetzt sprechen, und kann seine Grammatik demnach nur aus dem ableiten, was es hört. Es hat keinerlei Zugang zu der Sprache seiner bereits verstummten Vorfahren.()“ (Evans 2014, S.153)

Das gilt zumindestens für einsprachig aufwachsende Kinder. Inwiefern mehrsprachig aufwachsende Kinder eventuell wie vergleichende Sprachwissenschaftler vorgehen, muß ich hier offen lassen. Aber auch dann gäbe es nur synchrone Vergleichsoptionen. Die Diachronie einer Sprache bleibt sprechenlernenden Kindern prinzipiell verschlossen.

Das ist übrigens ein wesentliches Moment, in dem sich die kulturelle Evolution von der biologischen Evolution unterscheidet. Aus biologischer Perspektive ist das Kind schon qua ‚Geburt‘, sprich durch die Gene, diachronisch bestimmt. Erst auf dieser genetischen Grundlage kann es sich auf der synchronen Zeitlinie seiner individuellen Entwicklung seine persönlichen Freiheiten erbilden. Kulturell beginnt das Kind aber bei einem Nullpunkt. Es muß sich seine kulturelle Grammatik, also seine ‚Sprache‘, in einen strukturell völlig offenen Raum hinein zusammenmontieren. Weder Phonetik noch Semantik noch Grammatik können genetisch-diachron vererbt werden.

Diese offensichtliche Verwiesenheit des sprechenlernenden Kindes auf Synchronie war immer schon ein starkes Argument für das synchrone Primat in der Sprachwissenschaft. Zusammen mit dem Universalismus der Wissenschaft mit den Monopolen des Englischen und der Mathematik als Wissenschaftssprachen (Vgl. Evans 2014, S.67) und der Globalisierung mit ihren ‚Verkehrssprachen‘ Englisch, Spanisch, Mandarin und Hindi (vgl. Evans 2014, S.21) trägt dieser Synchronismus zum fortschreitenden Sprachensterben bei. Hinzu kommt, daß Wissenschaftler das Sprechenlernen inzwischen sogar auf eine implizite Statistik reduzieren – ähnlich einem biologischen Selektionsmechanismus –, mit deren Hilfe das Kind beim versuchsweisen Drauflossprechen Trefferquoten ermittelt, die dann fortan als Bedeutungsträger im künftigen Sprechen fortexistieren dürfen, während die Fehlversuche ausgemerzt werden. (Vgl. meine Posts vom 24.07.2011 und vom 06.06.2012) Die kreativen Leistungen des sprechenlernenden Kindes im Rahmen seines Sinnverstehens und seiner Gestaltwahrnehmung fallen hierbei völlig unter den Tisch. Darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch zu sprechen kommen.

Evans will jedenfalls die „Abtrennung der Geschichte“ von der Sprachwissenschaft rückgängig machen, denn „die sprachliche Rekonstruktion durch die Vergleichende Methode läuft Gefahr, ohne Verbindung zur wirklichen Welt und ihren Orten, Zeiten und Gegenständen dahinzutreiben, wenn sie nicht in Vergangenheitsmodellen anderer Disziplinen, insbesondere der Archäologie und der Genetik, verankert ist.“ (Evans 2014, S.166)

Überhaupt kann nur eine gleichermaßen vergleichende wie historische Sprachwissenschaft jene Sprachenvielfalt erfassen, die sich dem synchronen Ansatz prinzipiell verschließt. Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Sprachen (vgl. Evans 2014, S.133ff.) und die kulturellen Schicksale wandernder Gemeinschaften wie die der Sinti und Roma (vgl. Evans 2014, S.197-202) lassen sich nur mittels diachroner Ansätze ermitteln. Die Synchronisierung durch Englisch und die globalen Medien führt hingegen zur Vernichtung regionaler Genealogien und Diversitäten: „Es ist wahrscheinlich, dass technische Entwicklungen, die global operierende Medien und große Weltsprachen in die entlegensten Winkel dieser Welt bringen, und die immer schneller fortschreitende Zerstörung des traditionellen Lebensraums vieler kleiner Völker den Prozess des Sprachwandels noch weiter beschleunigen werden.“ (Evans 2014, S.321)

Das führt mich zu einer neuen Definition von Synchronismus, Diachronismus und Anachronismus. Der Synchronismus steht im Zeichen einer uniformen Globalisierung. Der Diachronismus steht für ein ungebrochenes Generationenverhältnis wechselseitiger Verantwortung, und der Anachronismus bezeichnet die Diversität von zeitlich wie kulturell heterogenen regionalen Gemeinschaften. Viele Muttersprachler, die als letzte ihres ‚Stammes‘ zurückgeblieben sind und enttäuscht sind von den großen, von Menschen verursachten Katastrophen des 20. Jhdts. und von der fortschreitenden Globalisierung „nehmen lieber ihre verschmähte Sprache mit ins Grab, weil sie das, was mit ihrer Welt passiert ist, so erschüttert hat, dass sie niemanden für würdig erachten, einen solchen Schatz zu erhalten.“ (Evans 2014, S.327)

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Dienstag, 2. Dezember 2014

Nicholas Evans, Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren, München 2014 (2010)

(Verlag C.H. Beck, 416 S., 29,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Methoden
3. Synchronismus und Diachronismus in der Sprachwissenschaft
4. Sprache als Weitergabe von Information
5. Sprache als Expressivität
6. Gestaltwahrnehmung
7. Verschobene Exzentrik
8. Phylogenese und Ontogenese
9. Wortkunst
10. Rekursivität
11. Plastizität

Der deutschstämmige, us-amerikanische Ethnologe Franz Boas (1858-1942) entwickelte für die Vergleichende Sprachwissenschaft schon früh ein interdisziplinäres Konzept, das als „Vier-Felder-Konzept“ bekannt wurde. (Vgl. Evans 2014, S.68) Zu diesen vier ‚Feldern‘ gehören neben der Sprachwissenschaft eine Kulturanthropologie, eine naturwissenschaftlich orientierte ‚physische‘ Anthropologie und die Archäologie. Dabei beinhaltet schon allein die Kulturanthropologie ein weites Spektrum an traditionellerweise eher den Geisteswissenschaften zuzuordnenden Disziplinen. Nimmt man noch Evans’ Bemerkungen zu einer „Koevolution“ zwischen biologischen und kulturellen Entwicklungsprozessen hinzu (vgl. Evans 2014, S.237f., 240f.), erinnert diese interdisziplinär verfaßte Sprachwissenschaft an Plessners „Ästhesiologie“, deren „Untersuchungsfeld“, so Plessner, sich „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit“ erstreckt. (Vgl. „Die Einheit der Sinne“ (1923/1980), S.295; vgl. auch meinen Post vom 14.07.2010)

Vergleichende Sprachwissenschaftler müssen vielfältig interessiert sein und sie sind auf die fachliche Expertise aus den verschiedensten Bereichen des Wissenschaftsspektrums angewiesen, allein schon aus dem einfachen Grund, daß sich die Muttersprachler nur solchen Forschern wirklich öffnen, die sich aufgrund ihres Fachwissens mit ihnen auf Augenhöhe befinden. Ein Feldforscher beklagte sich, daß Kalam-Sprecher (Papua-Neuguinea) ihm nichts über die Bezeichnungen verschiedener Felsarten berichtet hätten, einem Kollegen, von Beruf Geologe, hingegen schon. Ein Kalam-Sprecher entgegnete ihm: „Als du nach Vögeln und Pflanzen gefragt hast, da haben wir gemerkt, dass du davon eine Menge Ahnung hast und dass du unsere Erklärungen verstehst. Als du uns nach Felsen gefragt hast, war offensichtlich, dass du davon keine Ahnung hast. Warum sollten wir unsere Zeit damit verschwenden, dir etwas zu erzählen, was du ohnehin nicht verstehst?“ (Zitiert nach Evans 2014, S.177)

Wenn so ein Feldforscher also dem Anspruch von Franz Boas genügen will und eine aus drei Säulen (die sogenannte Boassche Trilogie: eine Grammatik, ein möglichst umfassendes Wörterbuch und eine Textsammlung) bestehende Dokumentation einer neuen, bislang unbekannten Sprache zusammenstellen will, kann er selbst gar nicht so vielfältig ausgebildet sein, wie es nötig wäre, um allen Lebensbereichen und ihren sprachlichen Ausdrucksweisen eines ihm fremden Volkes gerecht werden zu können. Er bedarf der Unterstützung durch Experten aus anderen Disziplinen, unter denen Evans an verschiedenen Stellen die Archäologie, die Genetik, die Vergleichende Ethnographie, die Anthropologie und die Psychologie, die Ethnobotanik und die Geologie aufzählt. (Vgl. Evans 2014, S.45, 168, 177, 188, 259f. 275f.)

Evans plädiert sogar für eine Hinzuziehung und entsprechende Ausbildung der Muttersprachler selbst, die als Mitforscher den feldforschenden Sprachwissenschaftlern gleichgestellt werden sollten. (Vgl. Evans 2014, S.313) Es sei nicht einzusehen, so Evans, daß die Universitäten zwar jederzeit bereit seien, Doktoranden aufzunehmen, die keinerlei Ahnung von der neuen, unbekannten Sprache haben, die sie zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit machen, aber Muttersprachler, die über eine hervorragende Expertise in ihrer Sprache verfügen, nicht als Wissenschaftler anerkannt werden. Dabei gebe es, so Evans, in den kleinsten Sprachgemeinschaften herausragende Persönlichkeiten, die zur Erfassung ihrer Sprache maßgeblich beigetragen haben, wie z.B. Anna Nelson Harry, die letzte Sprecherin des Eyak (Alaska), die eine Textsammlung ihrer Sprache zusammengestellt hat und deren sprachliche Kompetenz mit der von Shakespeare verglichen wurde. (Vgl. Evans 2014, S.151)

Evans plädiert also für eine Interdisziplinarität neuer Art, die sich nicht nur auf die ‚Experten‘ beschränkt, sondern auch die Laien mit einbezieht. Damit stößt Evans in eine Region vor, die vom Begriff der Interdisziplinarität nicht mehr abgedeckt wird. Interdisziplinarität bezieht sich auf die Notwendigkeit wechselseitiger Ergänzung von verschiedenen Experten bei einem spezifischen Forschungsprojekt. Durch die Hinzuziehung von Laien öffnet sich aber dieser immer noch beschränkte Wissenschaftshorizont für die Lebenswelt der Menschen, an derem Rande sich die Wissenschaftler normalerweise aufhalten und von der sie sich abzugrenzen versuchen.

Indem die Feldforscher mit Mutterprachlern zusammenarbeiten, anstatt sie einfach nur gleichermaßen ‚objektiv‘ und distanziert zu beforschen, entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, in dem es nicht mehr nur um das Sammeln und die Auswertung von Daten geht: „Die erfolgreiche Dokumentation einer Sprache stützt sich auf die Arbeit eines breiten Spektrums von Menschen und befruchtet ihrerseits diese Arbeit. Sie erzielt die besten Ergebnisse, wenn sie aus den unterschiedlichen Fähigkeiten und Antrieben Kapital schlägt, die die Beteiligten miteinbringen. Besonders befriedigend an der sprachwissenschaftlichen Feldforschung ist für alle Beteiligten, dass dadurch eine tiefe und sich weiterentwickelnde lebenslange Verbindung zwischen Menschen aus sehr unterschiedlichen Welten entsteht.“ (Evans 2014, S.329)

Wenn Sprachwissenschaftler sonst eher ein eigenwilliges Völkchen bilden, das sich, wie Evans selbstironisch festhält, mehr für die verworrenen Wege des Lautwandels eines unscheinbaren Konsonanten interessiert, öffnet sich im Kontakt mit den Muttersprachlern ihr Horizont für das, „was ihre Wissenschaft vielleicht für das Verständnis des menschlichen Verhaltens im Allgemeinen“ beiträgt. (Vgl. Evans 2014, S.69) – An dieser Stelle wird die vielbeschworene Interdisziplinarität zu etwas, was man vielleicht besser als ‚Transdisziplinarität‘ bezeichnen könnte. Transdisziplinarität beschränkt sich nicht auf einzelne, konkrete Forschungsprojekte, sondern bezieht sich auf den Sinn und Zweck von Wissenschaft überhaupt.

Zum Schluß möchte ich noch auf zwei Probleme zu sprechen kommen, die der Vergleichenden Sprachwissenschaft inhärent sind. So ist die Erklärungskraft der Vergleichenden Sprachwissenschaft nur sehr gering; ein Problem, das sie übrigens mit der Evolutionstheorie gemeinsam hat. Schon Darwins Konzept von der „Entstehung der Arten“ galt am Anfang als wissenschaftlich fragwürdig, weil aus seiner Evolutionstheorie keine Prognosen abgeleitet werden konnten. Sie konnte nur erklären, wie es zur gegebenen Artenvielfalt gekommen ist, aber nicht voraussagen, wie diese Artenvielfalt sich weiterentwickeln würde. Auch die Sprachwissenschaft hat bislang keine einzige neu entdeckte Sprache mit ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik vorhersagen können, weil es einfach keine sprachlichen Universalien gibt, die solche Vorhersagen ermöglichen würden. Das steht im krassen Gegensatz zu den Naturgesetzen in den Naturwissenschaften, und Evans selbst hebt hervor, daß diese Eigenart die Vergleichende Sprachwissenschaft mit den Biowissenschaften vergleichbar macht: „Zu den aufregendsten Aspekten der sprachwissenschaftlichen Feldforschung gehört, dass sich die Grenzen des vorgestellten Möglichen ständig erweitern, denn andauernd stolpert man über ‚unvorstellbare‘ Sprachen, die man nie für möglich gehalten hätte. Es ist eine Eigenschaft der Sprachwissenschaft, dass so gut wie keine der erstaunlichen typologischen Merkmale, die irgendwann empirisch entdeckt wurden, durch theoretische Überlegungen vorausgesagt wurden. Dies steht im offensichtlichen Gegensatz zu den Naturwissenschaften.“ (Evans 2014, S.81)

Allerdings gibt es eine Ausnahme. So sind die Gesetze des Lautwandels tatsächlich so allgemeingültig, daß aus ihnen Vorhersagen von bislang unbekannten Lauten abgeleitet werden können: „Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Bestätigung von Ferdinand de Saussures hypothetisch angenommenen Laryngalen durch hethitische Inschriften. De Saussure hatte einen ‚koeffizienten Sonanten‘ postuliert, um einige abstrakte Übereinstimmungen im systematischen Verhalten der Vokalsysteme alter indogermanischer Sprachen zu erklären, obgleich keine damals bekannte Sprache irgendwelche entsprechenden Laute hatte. Kühn wandte er seine Hypothese auf seine urindogermanischen Rekonstruktionen an, obwohl sie nicht direkt belegt waren. Als später dann Bedrich Hrozný während des Ersten Weltkriegs die hethitischen Inschriften entzifferte, entdeckte er ein Symbol, das dem von de Saussure postulierten Laut entsprach und so dessen Theorie im Nachhinein bestätigte.“ (Evans 2014, S.204)

Das zweite Problem ist eher philosophischer Art. Evans spricht von einem Problem der Zirkularität, das mit dem Abbildungsproblem zusammenhängt: inwiefern bildet die Sprache, also ihre Laute, Wörter und ihre Grammatik, das Denken der Menschen ab? (Vgl. Evans 2014, S.248f.) Ist es wie bei Wörtern und Sachen (vgl. Evans 2014, S.177f.), bei dem wir es immer noch mit einem Etikettierungsproblem zu tun haben? Es ist nämlich bei fremden Sprachen gar nicht so einfach, festzustellen, welche Aspekte eines Gegenstands oder Vorgangs von einem Wort ‚abgebildet‘ werden; überhaupt erweist sich schon die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Vorgang immer wieder als fragwürdig (vgl. Evans 2014, S.96f.).

Abgesehen vom Etikettierungsproblem kommt beim Denken noch das Problem hinzu, inwiefern die Sprache das Denken beeinflußt. Während wir nämlich darüber nach-‚denken‘, wie die Sprache ‚das‘ Denken möglicherweise beeinflußt, verwenden wir schon einen bestimmten Wortschatz und eine bestimmte Grammatik, die unser Nachdenken über ihren Einfluß beeinflussen. Evans wendet sich hier einem durchaus ernsthaften Problem zu, das für die Arbeit des Vergleichenden Sprachwissenschaftlers relevant ist. Allerdings verkürzt er dieses Problem auch gleich wieder auf die Frage der Meßbarkeit des Denkens und weist diese Aufgabe nicht etwa der Philosophie, sondern der Psychologie zu, der er zutraut, dieses Problem mit Hilfe ihrer „experimentellen Methoden“ lösen zu können. (Vgl. Evans 2014, S.249)

Evans’ Verweis auf die Psychologie zeigt, daß es hier eigentlich gar nicht so sehr um das Verhältnis von Sprechen und Denken geht, sondern vielmehr um das Verhältnis von Sagen und Meinen. Es geht also um die Differenz von Innen und Außen und damit um Expressivität. Darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch zu sprechen kommen.

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