„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 17. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Wie sich bei meiner Auseinandersetzung mit Douwe Draaisma (2012) zeigte, spielt die Chronologie schon in unserem Wachbewußtsein keine große Rolle. (Vgl. meinen Post vom 19.01.2014) Unsere Erinnerungen haben nur einen schwachen zeitlichen Index, so daß wir sie meistens nur im Sinne eines vagen ‚Früher‘ oder ‚Später‘ ordnen können. Dieses Früher oder Später fällt im Traum völlig weg, und Stefan Klein meint sogar, daß beides auch in unserem wachen Gedächtnis keine Rolle spielt: „Wir meinen, dass die Zeit unser Leben regiert, doch unser Gedächtnis ordnet nicht nach ‚früher‘ oder ‚später‘.“ (Stein 2014, S.114)

Klein zufolge ordnet unser Gedächtnis und mit ihm unser Traumbewußtsein die Erlebnisse nach Bedeutungen. (Vgl. Klein 2014, S.97) So sei der „Traum“ mit einem „Romancier“ zu vergleichen, „der sich von einer Vielzahl teils selbst erlebter, teils aus zweiter Hand überlieferter Szenen anregen lässt“ und „zwischen den Erinnerungen ein Netz von Geschichten (spannt)“. (Vgl. Klein 2014, S.104) Logik oder Realitätsnähe spielen dabei keine Rolle. Schon unserem kritischen Wachbewußtsein geht es bei der Verknüpfung von Erinnerungen nicht um „Wahrheit“, sondern nur um „Plausibilität“. (Vgl. ebenda) Im Traum brauchen die Bilderfolgen noch nicht mal plausibel zu sein. Klein resümiert für beide Bewußtseinszustände, für das Wachbewußtsein und für das Traumbewußtsein: „Was uns als einheitliche Erfahrung eines Augenblick erscheint, ist in Wirklichkeit ein nachträglich und aufwendig zusammengesetztes Flickwerk.“ (Klein 2014, S.115)

Das erinnert an das kommunikative Gedächtnis von Harald Welzer. Ähnlich wie Klein hervorhebt, daß unser Gedächtnis unsere Erinnerungen nicht nach einer Chronologie, sondern nach Bedeutung ordnet, verweist Welzer auf die dominante Rolle der Kommunikation. (Vgl. meine Posts vom 19.03. bis 04.04.2011) Letztlich geht es auch hier um das variable Verbinden von Propositionen (Erinnerungen) mit Prädikaten (Emotionen), wobei sogar die Propositionen selbst, also der Sachgehalt der Erinnerungen, der sozialen Situation im Gespräch angepaßt werden können: nichts ist gewiß!

Für mich ist das an dieser Stelle ein Anlaß, noch einmal über das Narrativitätsprinzip nachzudenken. Ich hatte Narrationen bislang immer mit ‚Zeit‘ in Verbindung gebracht. (Vgl. meine Posts vom 31.08.2011 und vom 24.03.2013) Narrationen verbinden und ordnen Erlebnisse chronologisch zu Szenen und Szenenfolgen, wobei sich im Sinne der Tomaselloschen extravaganten Syntax verschiedene Erzählebenen rekursiv überlagern können. (Vgl. meine Posts vom 26.04. und vom 27.04.2010; vgl. hierzu auch meinen Post vom 07.04.2014)

Ich hatte das Zeiterleben, das durch Narrativität ermöglicht wird, immer im Sinne eines Diachronismusses verstanden. Diesem Diachronismus hatte ich dann den Synchronismus des Lévi-Straussischen Strukturalismusses gegenübergestellt. (Vgl. meinen Post vom 22.05.2013) Dem strukturellen Denken ‚vormoderner‘ Naturvölker erscheint der Einbruch der Diachronie (Hungersnöte, Kriege, Krankheiten etc.) in ihre strukturell ausbalancierte Welt immer als Störung, während diese Diachronie im linear-prozeßhaften Denken des europäischen Abendlands mit einem Heilsversprechen auf Erlösung im Jenseits oder auf eine bessere Zukunft (Fortschrittsdenken) verbunden ist.

Auch das von Stefan Klein beschriebene Traumbewußtsein ist synchronistisch: alles, was in ihm passiert, ist nur in bezug auf eine momentane emotionale Stimmung von Bedeutung. Die ‚Verbindung‘ zwischen den verschiedenen momentanen Gefühlseindrücken ist allerdings nicht ‚strukturell‘ vermittelt. Hier trifft der Strukturalismus eines Sigmund Freud eben nicht zu. (Vgl. Klein 2014, S.33 und S.160) Träume sind nicht verschlüsselt und müssen deshalb auch nicht gedeutet werden. Sie geben ganz einfach die Gefühle wieder, die während eines Traums gerade die Oberhand haben: „Die Bilder, so originell, eindringlich oder rätselhaft sie auch anmuten, haben keine ihnen innewohnende Bedeutung, sondern sind eher Illustrationen.“ (Klein 2014, S.151) – Mit anderen Worten: Es werden keine Gefühle verdrängt, sondern unmittelbar gezeigt und wahrgenommen! Daß wir dennoch lernen müssen, sie hinsichtlich einer persönlichen Relevanz für unser Leben zu ‚deuten‘, stellt dazu keinen Widerspruch dar. Dieser Deutung liegt nämlich kein Mißtrauen oder gar Geringschätzung zugrunde, wie in der Psychoanalyse (vgl. Klein 2014, S.244ff.), sondern Vertrauen. Träume zeigen sich – wie überhaupt Phänomene in der Phänomenologie – als das, was sie sind.

Wenn also Narrationen nicht einfach nur in einem chronologischen Aneinanderreihen von Erlebnissen bestehen und wenn Träume zwar synchron aktuelles Empfinden bebildern, diese Bilder aber nicht strukturell starr, sondern nur lose assoziativ miteinander verknüpft sind, brauchen wir ein anderes Wort, das die bisherigen zwei einander polar gegenübergestellten Momente der Synchronie und der Diachronie um ein drittes Moment erweitert. Ich hatte dabei schon an ‚Achronie‘ oder an ‚Parachronie‘ gedacht. Beide Wörter treffen in etwa den Zustand der Zeitlosigkeit im Traumbewußtsein und im wachen Miterleben von Erzählungen und ‚Liedern‘.

Aber am besten gefällt mir doch immer noch das Wort ‚Anachronismus‘. Ana-Chronismus bringt, ähnlich wie das Wort ‚Analogie‘ in Bezug auf die Logik, die gleichzeitige Nähe und Distanz zu unserem Zeiterleben zum Ausdruck. Es entspricht auch dem, was Nietzsche als Unzeitgemäßheit bezeichnet. Das Prinzip der Narrativität ist also nicht die Diachronie, sondern die Anachronie. Die Anachronie bzw. der Anachronismus beschreibt ähnlich der Plessnerschen Exzentrizität die Position des Zuschauers und Zuhörers am Rande einer Geschichte, in deren Geschehen er sich in Gestalt der Protagonisten hineinprojiziert.

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