„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 16. November 2014

Stefan Klein, Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2014

S. Fischer Verlag, 19,99 €, 283 S.

1. Prolog zur Hirnforschung
2. Definitionen und Methoden
3. Denken in Bildern
4. Sinneswahrnehmungen im Traum
5. Grenze zwischen Innen und Außen
6. Bewußtseinszustände der mystischen und der meditativen Art
7. Zeitreisen
8. Gedächtnis und Semantik
9. Narrativität

Die Chronologie des Schlafs erstreckt sich, wie im letzten Post beschrieben, über alle drei Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der Individualität. In diesem Post soll es jetzt vor allem um die individuelle Entwicklungslinie gehen, also um die Ontogenese, in derem Zentrum die Herausbildung eines autobiographische Gedächtnisses steht. (Vgl. Klein 2014, S.95) Für die ‚Konstruktion‘ einer persönlichen Identität sind hier insbesondere die Pubertät und das junge Erwachsenenalter von Bedeutung. Aus diesem Alter stammen die meisten Erinnerungsbilder, die uns im Traum beschäftigen, weshalb die Gedächtnisforscher diese Lebensphase auch als „Erinnerungshügel“ (Klein 2014, S.155) bezeichnen.

Ähnlich wie Douwe Draaisma (2012) betont Stefan Klein, daß es im Gehirn „kein Organ für das Gedächtnis“ gibt, keinen Ort, „wo die Erinnerungen wie auf einer Filmrolle oder der Festplatte eines Computers zentral aufbewahrt werden“. (Vgl. Klein 2014, S.96) Im Traum werden die Erinnerungsbilder auch nicht in chronologischer Reihenfolge wiedergegeben oder auch nur historisch korrekt in Traumszenen eingebettet. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 19.01.2014) Die Traumszenen bilden vielmehr Collagen, in denen wir aktuelle Erlebnisse mit früheren Erinnerungsbildern kombinieren. Funktioniert also schon die wache Erinnerung nicht wie eine „Filmrolle“, in der „jede neue Erfahrung einfach als weitere Szene hinzu (käme)“ (vgl. Klein 2014, S.97), so gilt das umso mehr für unser Traumbewußtsein. Im Traum ist immer alles gegenwärtig, im Hier und Jetzt. Ein Früher oder Später gibt es nicht, so wenig wie ein ‚Vielleicht‘. (Vgl. Klein 2014, S.110 und S.114)

Wie Klein schreibt, organisiert unser Gedächtnis die Erinnerungen nicht nach ihrer Chronologie, sondern nach ihrer Bedeutung: „Das Gedächtnis ist also als ein Beziehungsgeflecht organisiert, und weil es nach Bedeutungen ordnet, können wir mit unseren Erinnerungen überhaupt etwas anfangen. Andernfalls würden wir beispielsweise einen Ort, den wir einmal im Sommer besucht haben, unter einer Schneedecke im Winter nicht wiedererkennen. Doch die Struktur unserer Erinnerung erlaubt es, die neuen Eindrücke in die Vorstellung einzufügen, die wir über dieses Dorf bereits gespeichert haben.“ (Klein 2014, S.97)

Das macht noch einmal deutlich, daß unser Bewußtsein nicht in der Weise eines Wenn-dann-Algorithmusses funktioniert. Wo die Semantik einer Computersprache in Hierarchien von 1:1-Zuordnungen besteht (vgl. hierzu meinen Post vom 01.08.2014), entspringt die Bedeutung beim Menschen nicht aus der Identifizierung von, sondern aus einer Differenzierung zwischen Sagen und Meinen, zwischen Schein und Sein, zwischen Vordergrund und Hintergrund. Da die neuen Wahrnehmungsbilder des Dorfes im Winter nicht einfach zu den älteren Wahrnehmungsbildern des Dorfes im Sommer hinzukommen, sondern sich beide Wahrnehmungsbilder überlagern, kann im sich dadurch eröffnenden Raum zwischen den beiden Wahrnehmungsbildern das konkrete Dorf in seiner Selbigkeit zum Vorschein kommen und wiedererkannt werden. Dabei bilden die Überlagerungen keine starren Hierarchien, sondern sie sind dauerhaft variabel und bilden ein ständiges Verschieben und Verlagern. Wach- und Traumbewußtsein sind fleißige Kulissenschieber vor dem Publikum unserer Aufmerksamkeit.

Bestände die menschliche Semantik in Eins-zu-eins-Zuordnungen von Bildern bzw. Zeichen und Bedeutungen, gäbe es also keine Möglichkeit, Gegenstände und Sachverhalte in veränderten Situationen wiederzuerkennen. Wenn Klein die Gestaltwahrnehmung an einzelnen „Konzeptzellen“ wie etwa dem Jennifer-Aniston-Neuron festzumachen versucht (vgl. Klein 2014, S.101f.), so ist das nur eine weitere untaugliche 1:1-Festlegung. Es ist wohl eher so, daß wir es bei den Konzeptneuronen mit einer Art ‚Index‘ zu tun haben, der anzeigt, daß eine Gestaltwahrnehmung bzw. eine Gestalterinnerung zustande gekommen ist. Ansonsten bilden Konzeptzellen nur eine weitere Schicht in der Überlagerung von unterschiedlichen, vielfältigen Funktionen, von denen jede am Zustandekommen einer Gestalterinnerung beteiligt ist. Das ganze Geschehen läßt sich deshalb besser unter dem Stichwort ‚Plastizität‘ beschreiben, während das Wort ‚Korrelation‘ allzu sehr mit dem Mißverständnis von 1:1-Zuordnungen belastet ist.

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