„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 31. Oktober 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Im letzten Post habe ich darauf hingewiesen, daß die Ablösung der Perspektiven von der konkreten Situationswahrnehmung mit ihrer akuten Bedürfnisbefangenheit die Grundlage für die freie Kombinierbarkeit von Aspekten und Eigenschaften gelegt hat. Tomasello spricht hier sogar von „referentieller Promiskuität“. (Vgl.Tomasello 2014, S.223) Wenn Perspektiven nicht mehr „mit dem gegenwärtigen Zielzustand des Individuums verknüpft“ sind (vgl. Tomasello 2014, S.108), steht die Tür offen für kreative Phantasieschöpfungen, für das Erzeugen von Metaphern und fiktiven Narrationen aller Art.

Diese neue Fähigkeit zeigte sich Tomasello zufolge erstmals in der noch vorsprachlichen Gebärdensprache beim Frühmenschen. Der Gebrauch ikonischer Gebärden, also mimetischer Darstellungen von Objekten und Handlungen in der physischen und in der sozialen Welt, beruhte auf der Fähigkeit des Zuschauers, die entsprechenden Gebärden nicht instrumentell, also als tatsächliche Manipulation von Objekten, sondern symbolisch als Kommunikationsakte zu verstehen: „Um ikonische Gesten zu verstehen, muß man in der Lage sein, intentionale Handlungen außerhalb ihrer gewöhnlichen instrumentellen Kontexte als Kommunikationsakte zu verstehen ...“ (Tomasello 2014, S.95)

Diese Loslösung von Gesten und Gebärden von der akuten Bedürfnisbefriedigung führte, ebenfalls noch vor der Einführung der eigentlichen Wortsprache, zu einer ersten Differenzierung zwischen kommunikativen Absichten (Illokutionen) und Propositionen (Sachverhalten): „Die Frühmenschen konnten jetzt mit einem von zwei verschiedenen Motiven, die durch die Intonation ausgedrückt wurden, auf Beeren an einem Busch zeigen: entweder eine insistierende auffordernde Intonation in der Hoffnung, daß der Empfänger ein paar Beeren für den Kommunizierenden pflückt, oder eine neutrale Information, um den Empfänger nur über den Ort der Beeren zu informieren, so daß er ein paar für sich selbst pflücken kann.“ (Tomasello 2014, S.85)

Der propositionale Inhalt „Beeren am Busch“ bleibt gegenüber den möglichen verschiedenartigen Kommunikatonsmotiven des schauspielernden Gebärdensprechers unverändert. Damit haben wir schon beim vorsprachlichen Frühmenschen Ansätze zu einer ersten Subjekt-Prädikat-Struktur vorliegen. Das der Subjekt-Prädikat-Struktur zugrundeliegende Prinzip beschreibt Tomasello ähnlich wie Fritz Mauthner (2/1913), allerdings mit einer unterschiedlichen Funktionsbestimmung von Subjekt und Prädikat. Mauthner zufolge bilden alle Sätze nur ‚Prädikate‘ von Situationen, auf die sie verweisen. Die Situationen wiederum bilden – unabhängig von der grammatischen Konstruktion des Satzes – das eigentliche ‚Subjekt‘ des Satzes. (Vgl. meinen Post vom 23.10.2013)

Bei Tomasello ist die Funktionsverteilung zwischen Subjekt und Prädikat nicht so festgelegt: Mit Verweis auf Evans’ Allgemeinheitsbedingung (1982) hält Tomasello fest, daß „jedes potentielle Subjekt eines Gedankens (oder Satzes) mit mehreren Prädikaten kombiniert werden (kann), und jedes potentielle Prädikat kann mit mehreren Subjekten verknüpft werden“. (Vgl. Tomasello 2014, S.50) – Erst dieser funktionelle Freiraum von grammatischen ‚Subjekten‘ und ‚Prädikaten‘ führt zu jener schon erwähnten referentiellen Promiskuität.

Subjekte sind dann zunächst, wie bei Mauthner, Situationen der Außenwelt, die mit verschiedenen ‚Prädikaten‘ angesprochen werden können. Aber diese Subjekte können wiederum, verbunden mit einer anderen Aussageabsicht, zu Prädikaten verallgemeinert werden, die zu einer neuen Situationsbeschreibung verwendet werden können. Wenn wir z.B. einen Schiffbruch (Subjekt) beobachten, können wir einen anwesenden Freund darauf hinweisen und unser Erschrecken darüber zum Ausdruck bringen (Prädikat). Ein anderes Mal können wir aber, möglicherweise mit demselben Freund, über die desolate Lebenssituation eines gemeinsamen Bekannten sprechen, indem wir sie als ‚Schiffbruch‘ beschreiben. In diesem Fall wäre die Lebenssituation des Bekannten das Subjekt und der Schiffbruch wäre das Prädikat. Situationen und Aspekte von Situationen, ‚Subjekte‘ und ‚Prädikate‘ werden so frei kombinierbar.

Interessanterweise konkurriert die Fähigkeit zur schauspielernden (ikonischen) Gebärdensprache mit der Wortsprache. Das zeigt sich bei kleinen Kindern, wenn sie sprechen lernen. Obwohl sie schon damit begonnen hatten, ikonische Gebärden zu verwenden, hören sie damit auf, sobald sie sprechen können: „Als symbolische Vehikel mit semantischem Inhalt konkurrieren ikonische Gesten mit sprachlichen Konventionen, und verlieren diesen Wettkampf – aus vielen offensichtlichen Gründen –, der, von einigen wenigen außergewöhnlichen Umständen abgesehen, das Bedürfnis, spontane Gesten ad hoc zu erzeugen, verdrängt.“ (Tomasello 2014, S.98)

Tomasello interpretiert diese Entwicklung des kleinen Kindes nun so, daß mit dem Bedürfnis, mit Hilfe ikonischer Gebärden zu kommunizieren, nicht zugleich auch das Bedürfnis zu schauspielern verloren geht. Die den ikonischen Gebärden zugrundeliegende Fähigkeit, Als-ob-Situationen zu imaginieren, bleibt erhalten und verwandelt sich jetzt sogar in einen Spieltrieb: „Wenn Kinder eine konventionelle Sprache lernen, findet ihre Neigung, anderen durch die Generierung von Als-ob-Szenarien anhand von Gesten etwas mitzuteilen, sozusagen keine Anlaufstelle. Daher spielen sie mit dieser Fähigkeit und erschaffen zusammen mit anderen Als-ob-Szenarien im Sinne einer Als-ob-Tätigkeit, die keine andere Motivation hat.“ (Tomasello 2014, S.100)

Mit diesem Spieltrieb, der Erfindung von Als-ob-Situationen, üben und erweitern die Kinder ihre Fähigkeit, sich wechselseitig in die inneren Zustände ihrer Mitspieler hineinzuversetzen und sich für deren inneren Zustände auch dann zu interessieren, wenn sie nicht für die Befriedigung eigener akuter Bedürfnisse relevant sind. Während eines Spiels mit verteilten Rollen können Kinder untereinander jederzeit die Rolle wechseln, was Tomasello zufolge Schimpansen nicht können: „Besonders wichtig ist der Befund von Fletcher et al. (2013), daß Dreijährige, die zuerst an einer Zusammenarbeit teilgenommen hatten, bei der sie Rolle A spielten, anschließend viel besser wußten, wie sie Rolle B spielen sollten, als wenn sie zuvor nicht zusammengearbeitet hatten, während das für Schimpansen nicht galt.“ (Tomasello 2014, S.67)

Tomasello meint, daß die Kinder bei ihren Als-ob-Spielen eine „Vogelperspektive“ einüben, die es ihnen ermöglicht, sich selbst beim Spielen zuzusehen. (Vgl. Tomasello 2014, S.67) Die freie Kombinierbarkeit von Rollenperspektiven im Rahmen frei erfundener Szenarien bewegt sich auf derselben kognitiven Ebene wie das Verstehen von Metaphern. Es geht immer um das „Raum schaffen“ (Tomasello 2014, S.73), das Eröffnen von ‚Spiel‘-Räumen, in dem Situationen und Rollen, Subjekte und Prädikate frei kombiniert werden können. Übrigens schätzte schon Wilhelm von Humboldt die grammatische Besonderheit der deutschen Sprache – die wiederum von Mark Twain ironisch aufs Korn genommen wurde (siehe den berüchtigten Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän) –, verschiedene Wörter beliebig zu einem neuen Wort zusammenzufügen. Humboldt meinte, mit so einem aus anderen Wörtern zusammengesetzten Wort werde eine neue sprachliche ‚Individualität‘, also ein neuer Sachverhalt geschaffen. Mit der Rechtschreibreform von 1996 wurden dann solche Wortneuschöpfungen ‚verboten‘.

Wir haben es auf vielen verschiedenen kognitiven Ebenen immer wieder mit diesen ‚Spielräumen‘ (Möglichkeiten) zu tun, Bedeutsamkeit zu erzeugen:

  • auf der Ebene der Wahrnehmung: Situationen sind frei perspektivierbar (Vgl. Tomasello 2014, S.108);
  • auf der Ebene der sozialen Welt: Rollen haften nicht mehr an den Personen;
  • auf der Ebene der Innenwelt: subjektive Zustände haften nicht mehr an objektiven Inhalten;
  • auf der Ebene von Satzstrukturen: Eigenschaften (Prädikate) haften nicht mehr an den Dingen (Subjekten);
  • auf der Ebene der Expressivität: die verschiedensten Aspekte der physischen und der sozialen Welt lassen sich zu Metaphern kombinieren. (Vgl. Tomasello 2014, S.90)

Abschließend möchte ich noch kurz auf die Begriffe der Relevanz und des gemeinsamen Hintergrunds zu sprechen kommen. ‚Relevanz‘ meint den individuellen Bezug eines Kommunikationspartners auf eine gemeinsame Situation. (Vgl. Tomasello 2014, S.86) Wenn es einem Gesprächsangebot an dieser Relevanz mangelt, weil der ‚Gesprächspartner‘ nur seine eigenen egoistischen Interessen verfolgt, wird es zu keinem Gespräch und auch zu keiner weiteren Kooperation kommen. Was Tomasello als ‚Relevanz‘ bezeichnet, entspricht in etwa dem, was ich an anderer Stelle als ‚Bedeutung‘ definiert habe (vgl. meine Posts vom 07.07.2011 und vom 15.06.2012), allerdings mit dem Unterschied, daß ich diese Bedeutung als das Ergebnis eines Bruchs zwischen Innen und Außen beschreibe. Tomasello kommt dem nahe, wenn er vom „perspektivischen Sprung im Ei der Erfahrung“ spricht. (Vgl. Tomasello 2014, S.111 und S.181) Aber dieser ‚Sprung‘, der Plessnersche Hiatus, entsteht bei ihm nicht an der Grenze zwischen Innen und Außen, als eine Brechung des Intentionsstrahls, sondern an der Grenze der Verständlichkeit, als eine Frage der adäquaten Repräsentation bzw. ‚Inszenierung‘ des eigenen Anliegens im Umgang mit meinen Kommunikationspartnern. (Vgl. Tomasello 2014, S.111)

Bei diesem Bemühen, sich verständlich zu machen, unterstützen uns ein „gemeinsamer Hintergrund“ und das gattungsspezifische Grundvertrauen des Menschen, daß Gesprächsangebote in der Regel relevant sind: „Der gemeinsame Hintergrund und eine gegenseitige Relevanzannahme ... ermöglichen es, daß sich Gedanken und Ansichten dort treffen, wohin der ausgestreckte Finger zeigt.“ (Tomasello 2014, S.87)

Dieser gemeinsame Hintergrund, der dazu beiträgt, daß ich schon ein gewisses Vorwissen bezüglich dessen zur Verfügung habe, was ein Gesprächspartner möglicherweise von mir wollen könnte, entspricht in etwa dem, was ich in den oben erwähnten Posts als „Sinn“ bzw. genauer: als „Sinn von Sinn“ bezeichne. Der Sinn von Sinn bildet einen sinnstiftenden Bewußtseinsakt, in dem wir mögliche Situationen fokussieren bzw. variieren, bis es zu einer Deckung mit unseren eigenen inneren Zuständen, unserer individuellen Intentionalität, kommt.

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Donnerstag, 30. Oktober 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Michael Tomasello trennt die individuelle Intentionalität des Frühmenschen evolutionsbiologisch von der kooperativen Intentionalität des modernen Menschen, indem er sie als eine ‚primitive‘ Vorstufe der menschlichen Intentionalität kennzeichnet. Das unterscheidet sein aktuelles Buch von „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (1999/2002), wo er von einer Gleichwertigkeit von individueller und kooperativer Intentionalität ausgegangen war.

Der Abspaltung der individuellen Intentionalität des Frühmenschen vom modernen Menschen entspricht eine im Ansatz maschinenförmige Beschreibung der Kognition von Menschenaffen. In seinem früheren Buch hatte Tomasello ihnen noch eine individuelle Intentionalität zugebilligt, so wie jetzt den Frühmenschen. Jetzt spricht Tomasello nur noch von ihrer konkurrenzorientierten Kommunikation, in der sie hauptsächlich die eigenen Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen Menschenaffen durchzusetzen versuchen. Tomasello billigt ihnen also nur noch einen primär instrumentellen, manipulativen Bezug zur physischen und sozialen Welt zu. (Vgl. Tomasello 2014, S.42) Entsprechend unterlegt er ihren Kognitionsprozessen Wenn-dann-Strukturen, wie etwa im folgenden Zitat mit Bezug auf die physische Welt: „Die Idee ist, daß kausale Schlußfolgerungen eine elementare Wenn-dann-Logik aufweisen und daher zu ‚notwendigen‘ Schlüssen führen. Wenn A geschieht, dann geschieht B (weil A B verursachte). Bermudez (2003) nennt Schlüsse dieses Typs vorkonditional, weil die Notwendigkeit keine logische, sondern eine kausale ist. Im Experiment von Marín Marique et al. (2010) schließt ein Menschenaffe ‚Wenn ein Werkzeug mit Eigenschaft A verwendet wird, muß B geschehen‘, während er den Gebrauch verschiedener Werkzeuge simuliert.“ (Tomasello 2014, S.34f.)

Letztlich ‚benutzen‘ Menschenaffen auch die anderen Gruppenmitglieder wie ‚Werkzeuge‘, die ihnen bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse behilflich sein sollen. Das einzige Kommunikationsmotiv, das sie kennen, ist das der Aufforderung, „was die Tatsache widerspiegelt, daß über 95 Prozent der Kommunikationsakte, die von diesen Individuen“ – eben den Menschenaffen – „produziert werden, die Form von Imperativen haben“. Die „restlichen 5 Prozent“, fügt Tomasello hinzu, „sind fragwürdig“. (Vgl. Tomasello 2014, S.159)

Es ist also kein Wunder, wenn Tomasello der Primatenkognition immer denselben Algorithmus zugrundelegt und die Menschenaffen als „selbstregulierende Systeme“ beschreibt, die auf einer Ebene mit „physiologische(n) Prozesse(n)“ wie der „homöostatische(n) Regulation des Blutzuckers und der Körpertemperatur bei Säugetieren“ stehen. Allerdings frage ich mich, ob diese maschinenförmige Beschreibung der Primatenkognition nicht auch den Experimenten geschuldet ist, die die Experimentatoren mit den Menschenaffen anstellen. Der Experimentator plant dann seine Experimente folgendermaßen: Wenn ich jetzt diese zwei Eimer nehme und in einen Eimer eine Banane lege, und wenn ich dann vor dem Schimpansen einen dieser Eimer schüttele, so daß dieser Schimpanse entweder ein Geräusch hört (beim Eimer mit der Banane) oder kein Geräusch hört (beim leeren Eimer), dann wird sich zeigen, ob der Schimpanse beim Hören oder beim Nicht-Hören des Geräusches die richtigen Schlüsse zieht, indem er entweder kein Interesse am (leeren) Eimer zeigt oder mich auffordert, ihm den Inhalt des (vollen) Eimers zu geben. (Vgl. das entsprechende Experiment in Tomasello 2014, S.37f.)

Letztlich überträgt der Experimentator also die eigene Planungsstruktur seiner Experimente, den Wenn-dann-Algorithmus, auf die inneren Zustände der Schimpansen, was aber letztlich über die tatsächliche Qualität dieser inneren Zustände nichts aussagt!

Das wird besonders deutlich, wenn man Tomasellos Beispiel mit dem Bananenbaum nimmt. (Vgl. Tomasello 2014, S.25ff.) Es ist zunächst ganz simpel: ein Schimpanse sieht einen Baum mit Bananen. Diese einfache Wahrnehmungsleistung ist nun aber mit einer Fülle von Kognitionen, also inneren Zuständen des Schimpansen verbunden. Diese inneren Zustände werden von Tomasello in lauter Wenn-dann-Schlußfolgerungen aufgelöst: Befindet sich schon ein anderer Schimpanse in diesem Baum (wenn da kein anderer Schimpanse ist ...)? Ist der andere Schimpanse vielleicht ranghöher (wenn es kein ranghöherer Schimpanse ist ...)? Befindet sich vielleicht ein Leopard in der Nähe des Baumes (wenn da kein Leopard in der Nähe ist ...)? Dann kann ich jetzt – möglichst unauffällig, um nicht noch andere Schimpansen darauf aufmerksam zu machen – flugs in den Baum klettern und mir die köstlichen Bananen einverleiben!

Die eigentliche Wahrnehmungsleistung kommt in dieser Beschreibung gar nicht mehr vor. Sie wird allenfalls angedeutet, wenn Tomasello die Komplexität einer Situation, selbst einer so einfachen wie dem Bananenbaum, mit einem „Stapel von Folien“ vergleicht. Demnach handelt es sich bei den verschiedenen Aspekten, die es für einen Schimpansen bei der Wahrnehmung eines Bananenbaums zu berücksichtigen gilt, „um einen Stapel von Folien, von denen jede eine einzelne Situation oder Entität darstellt, und die Schematisierung ist der Prozeß des Von-oben-durch-sie-hindurch-Blickens auf der Suche nach Überschneidungen.“ (Tomasello 2014, S.28)

Die Bananenbaum-Situation ist also in viele verschiedene mögliche Situationen aufteilbar: in die anderer-Schimpanse-Situation, in die ranghöherer-Schimpanse-Situation, in die Leopard-Situation usw. Alle diese Situationen überlagern sich wie Folien, so daß eine Durchsicht auf die augenblickliche Situation hin möglich wird, bis schließlich die persönliche Relevanz für unseren Protagonisten geklärt ist: „Alles klar! Die Bananen gehören mir!“

Wir haben es also nicht einfach mit einer linearen Wenn-dann-Logik zu tun, sondern mit einer komplexen Gestaltwahrnehmung. Auf die Gestaltwahrnehmung kommt Tomasello aber kein einziges Mal zu sprechen. Sie paßt nicht zum Maschinenparadigma, mit dem er die komplex-verworrene Primatenkognition aufdröselt. Dabei spielt die Gestaltwahrnehmung immer wieder eine wichtige Rolle bei Tomasellos Versuchen, die Entwicklung des menschlichen Denkens von der individuellen Intentionalität an aufwärts zu beschreiben. Nehmen wir nochmal die ‚Metapher‘ von dem Folienstapel: dieser ‚Folienstapel‘ ist selbst nichts anderes als eine Metapher für die Wirkungsweise von Metaphern! (Vgl. meinen Post vom 20.07.2011) Metaphern sind Überlagerungen von Perspektiven, die eine neue Perspektive bzw. einen neuen Sinn eröffnen, der mit den bislang gebräuchlicheren Perspektiven bzw. konventionelleren Ausdrücken nicht sichtbar gemacht werden kann.

Die einfache Wahrnehmung von komplexen Situationen – und Situationen sind immer komplex! – hat Parallelen zum Verstehen von Metaphern. In gewisser Weise bildet die Situationswahrnehmung den evolutionsbiologischen Ursprung für das spezifisch menschliche Verstehen von Metaphern. Tomasello kommt dieser Einsicht nahe, wenn er das Wahrnehmen von Situationen mit dem Wahrnehmen von Bildern vergleicht. Kognitive Repräsentationen von Dingen und Situationen sind Tomasello zufolge nie „punktförmig“ – und, so könnte man ergänzen, in dem Sinne ‚linear‘, daß man Punkt an Punkt bzw. Pixel an Pixel reiht –, sondern wir haben es vielmehr immer mit ganzen Situationen zu tun. (Vgl. Tomasello 2014, S.24) Kognitive Repräsentationen stellen deshalb „bildhafte oder ikonische Schematisierungen“ dar. (Vgl. Tomasello 2014, S.28) An anderer Stelle spricht Tomasello von „perspektivisch konstruierte(n), kognitive(n) Repräsentationen“ (Tomasello 2014, S.75), was letztlich nur ein anderes Wort für ‚Gestaltwahrnehmung‘ ist.

Diese bildhaften Schematisierungen von Situationen liegen weit jenseits einer algorithmischen Wenn-dann-Prozedur. Sie sind nicht auf eine Exekutiv-Funktion (vgl. Tomasello 2014, S.31) hin fokussiert, an derem Ende eine entsprechende Ausführung unausweichlich ist. Sie bleiben als ‚Bilder‘ weitgehend offen und unbestimmt („Unbestimmtheit der Interpretation“ (Tomasello 2014, S.28)) und erlauben deshalb noch verschiedene Perspektiven auf das jeweilige Bild. Das ist der Grund, warum es so schwierig ist und so viel Zeit braucht, um ein Bild, das man in nur wenigen Sekunden visuell erfaßt, in linear hintereinander gereihten Worten und Sätzen wiederzugeben. (Vgl. meinen Post von 15.01.2014) Was aber mit Worten und Sätzen und ihrer komplexen Syntax schon schwerfällt, läßt sich erst recht nicht auf die simple Wenn-dann-Struktur von Algorithmen herunterbrechen. Die eigentliche kognitive Leistung liegt nicht im schlußfolgernden Wenn-dann, sondern in der Wahrnehmung der Situation selbst.

Tomasello ist immer dicht dran an dieser Thematik. So klingt bei ihm die Mehrdimensionalität der Bild- und Situationswahrnehmung an, wenn er davon spricht, daß mit ihr der „Raum geschaffen“ wird, in dem die verschiedenen Perspektiven auf dasselbe ‚Ding‘ miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden können. (Vgl. Tomasello 2014, S.73) Wir haben es also mit einem ‚Spielraum‘ zu tun, der es nicht nur ermöglicht, zwischen meinen und deinen, sondern auch zwischen realen und fiktiven Perspektiven zu unterscheiden. Wenn Perspektiven nicht mehr an akute Bedürfnisse und aktuelle Situationen gebunden sind, können „nichtaktuelle oder gar kontrafaktische Sachverhalte“ (Tomasello 2014, S.112) thematisiert werden. Auch wenn die individuelle Intentionalität der Menschenaffen noch nicht frei ist von den unmittelbaren Bedürfnissen der Nahrungssuche, sollte man sich doch davor hüten, die Wahrnehmung eines Bananenbaums auf einfache Wenn-dann-Strukturen herunterzubrechen, wenn sie tatsächlich immer schon eine komplexe Gestaltwahrnehmung beinhaltet.

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Mittwoch, 29. Oktober 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz der Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz

Tomasello resümiert in der Einleitung seines Buches die Wissensfortschritte in der Primatenforschung seit seinem Buch über „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (1999/2002): „Das Buch von 2002 war unkompliziert und einfach, weil die Daten, die wir aus dem Vergleich von Menschenaffen mit Menschen hatten, so spärlich waren. Daher konnten wir solche Dinge sagen wie ‚Nur Menschen verstehen andere als intentionale Akteure, und das ermöglicht die menschliche Kultur‘. Aber wir wissen jetzt, daß das Bild komplexer ist.“ (Tomasello 2014, S.9; vgl. auch meine beiden Posts vom 24.05.2011)

Auf die zum Teil auf diese zeitliche Differenz zurückzuführenden, zum Teil aber auch in der Methodik begründeten Divergenzen in der Primatenforschung bin ich auch schon in zwei Posts zu Frans de Waal (2009/2011) eingegangen. (Vgl. meine Posts vom 15.05.2011) Tomasello macht den „entscheidende(n) Unterschied“ zwischen damals und heute daran fest, „daß Menschen andere nicht nur als intentionale Akteure verstehen, sondern ihre Köpfe auch mit anderen in Akten geteilter Intentionalität zusammenstecken, zu denen alles von konkreten Akten gemeinschaftlichen Problemlösens bis zu komplexen kulturellen Institutionen gehört“. (Vgl. Tomasello 2014, S.9)

Mit diesem der Menge der neuen ‚Daten‘ verdankten ‚Erkenntnisfortschritt‘ sind allerdings einige Differenzierungen bezüglich der menschlichen Kognition verloren gegangen, die Tomasellos damaligen Erkenntnisstand noch ausgezeichnet hatten. Zu diesen Verlusten gehört z.B. die Differenzierung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Eine Berücksichtigung dieser Differenz hätte Tomasello möglicherweise davor bewahrt, die individuelle Intentionalität des letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und modernen Menschen auf eine algorithmisch strukturierte Maschinenintelligenz zu reduzieren. Der für die Geisteswissenschaften wesentliche Begriff der Metapher hätte Tomasello bei der Interpretation der Primatenintelligenz für die kognitive Empfänglichkeit der individuellen Intentionalität für den Gestaltcharakter von Situationswahrnehmungen sensibilisiert. Darauf werde ich nochmal im nächsten Post zu sprechen kommen.

In seinem früheren Buch zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens hatte Tomasello auch noch mit Bezug auf Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterschieden. (Vgl. Tomasello 1999/2002, S.9f.) In seinem aktuellen Buch verwendet Tomasello nur den Begriff der Zweitpersonalität von ‚Ich‘ und ‚Du‘, die sich, so Tomasello, nur noch ad hoc bei Gelegenheit gemeinschaftlicher Nahrungssuche einstellt und wieder auflöst, wenn man sein gemeinsames Ziel erreicht und die Beute erlegt hat. (Vgl.u.a. Tomasello 2014, S.18f.) Stabilere, ebenfalls dyadische Gemeinschaftsformen wie ‚Liebe‘ oder ‚Freundschaft‘ kommen hier nicht mehr vor. Stabile soziale Beziehungen reserviert Tomasello für den modernen Menschen mit seiner kollektiven Wir-Intentionalität. Damit verschwindet die Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Auch darauf werde ich in einem der folgenden Posts noch genauer eingehen.

Insbesondere der Fokus „auf der Kultur als einem Prozeß sozialer Koordination“ (vgl. Tomasello 2014, S.9f.) hat dazu beigetragen, daß Tomasello die individuelle Intentionalität der Menschenaffen entwertet. Zwar bemüht er sich darum, die Menschenaffen nicht allzu weit von dem modernen Menschen wegzurücken, indem er immer wieder auch den modernen Menschen selbst als einen Menschenaffen kennzeichnet; so spricht er z.B. gerne von Menschen und „anderen Menschenaffen“ (vgl.u.a. Tomasello 2014, S.32, 56, 61). Dennoch bezeichnet er die individuelle Intentionalität des Menschenaffen im Vergleich zur gemeinsamen und zur kollektiven Intentionalität des Frühmenschen und des modernen Menschen als „primitiv“. (Vgl.u.a. Tomasello 2014, S.15)

Zwar geht es hierbei unter anderem immer auch darum, die Vorsprachlichkeit der individuellen Intentionalität hervorzuheben und damit wesentliche Intelligenzleistungen von der verbreiteten Fixierung auf Sprache und Kultur zu lösen. (Vgl. Tomasello 2014, S.15, 53, 106, 189f., 205) Aber mit dieser evolutionsbiologischen Trennung zwischen den Kognitionsformen geht verloren, daß die individuelle Intentionalität auch beim modernen Menschen nicht einfach in der sozialen Kognition aufgeht, sondern eine eigenständige, wichtige Funktion gerade auch als spezifisches Gattungsmerkmal von homo sapiens innehat. In seinem Buch zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens (1999/2002) hatte Tomasello noch um diese wichtige Funktion gewußt und die individuelle Intentionalität der heutigen Menschenaffen als eine der gemeinsamen und kollektiven Intentionalität gleichwertige Kognitionsleistung dargestellt.

Diese Gleichstellung von individueller und geteilter Intentionalität – ‚geteilt‘ verwende ich jetzt summarisch für ‚gemeinsam‘ und ‚kollektiv‘ – hatte Tomasello auf den Begriff des „kreativen Sprungs“ gebracht. (Vgl. Tomasello 1999/2002, S.67) Nur wenn individuelle und geteilte Intentionalität gleichwertige Intelligenzmerkmale darstellen, kann es so etwas wie kreative Sprünge geben, d.h. die Fähigkeit von kleinen Kindern, ab dem vierten und fünften Lebensjahr zwischen individuellen (eigennützigen) und sozialen Interessen hin und her zu springen und so überraschende, originelle Lernfortschritte zu machen. Nur deshalb mündet die gemeinsame Intentionalität des Frühmenschen nicht in einer ‚Gruppendenke‘ (vgl. meinen Post vom 04.08.2011) oder ‚Schwarmintelligenz‘. Gäbe es im menschlichen Denken nicht einen ständig virulenten, an seinem eigenen Recht festhaltenden Anteil individueller Intentionalität, wäre die von Tomasello beschriebene kollektive Intentionalität von einer Schwarmintelligenz nicht zu unterscheiden. Außerdem stellen die kreativen Sprünge so etwas wie eine ‚Rückstelltaste‘ am kulturellen „Wagenheber“ (Tomasello 2014, S.128) dar, die die Chance bietet, kulturelle Fehlentwicklungen zu korrigieren.

Der Begriff des kreativen Sprungs taucht also in Tomasellos aktuellem Buch nicht mehr auf. An dessen Stelle tritt aber jetzt ein anderer, hoch interessanter Begriff: der „abduktive Sprung“. (Vgl. Tomasello 2014, S.90, 109, 111, 120, 142) Auf die Abduktionslogik in Tomasellos Vorgehen bin ich schon im letzten Post eingegangen. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem von aktuell beobachtbaren Wirkungen auf vergangene, nicht mehr beobachtbare Ursachen zurückgeschlossen wird. Tomasello erweitert dieses Verfahren auf beobachtbares Verhalten, von dem aus er auf innere seelische bzw. kognitive Prozesse zurückschließt. In gewisser Weise ist der logische ‚Sprung‘ von äußerem Verhalten zu inneren Zuständen bzw. Erlebnissen also ein kreativer Akt, wie die kreativen Sprünge aus seinem früheren Buch. In der Kommunikation schließen die Gesprächspartner rekursiv von den äußeren „Kommunikationsvehikeln“ (Tomasello 2014, S.16, 114, 120, 223), Gesten, Gebärden und Worten, auf die jeweiligen inneren Zustände des Partners:
„Die Frühmenschen richteten die Aufmerksamkeit ihrer Kooperationspartner durch Zeigegesten auf relevante Situationen, was erforderte, daß sie deren Perspektive einnahmen und ihr Denken simulierten (das heißt mittels des abduktiven Sprungs, von dem erwartet wurde, daß sie ihn angesichts verschiedener möglicher Kommunikationsakte machen). Um zu verstehen, mußte die Empfängerin die Perspektive des ihre Perspektive einnehmenden Kommunizierenden einnehmen – woraus eine neue Form sozial rekursiver Schlüsse entstand.“ (Tomasello 2014, S.120)
Diesen Begriff des „abduktiven Sprungs“ könnte man noch um den Begriff der Lücke bzw. des „Slots“ ergänzen, die den Zuhörer wie eine offene Tür dazu einladen, in das gemeinsame Thema, um das es geht, einzutreten bzw. zu ‚springen‘. In einem Post zu Harald Welzer (vom 22.03.2011) war es in diesem Blog schon einmal um Verständnislücken gegangen, offene Leerstellen in Erzählungen, die es den Zuhörern ermöglichen, ihren eigenen Sinn in die Erzählung hineinzumontieren. Auch Tomasello spricht von solchen ‚Slots‘:
„Als die Menschen begannen, kommunikative Konstruktionen mit abstrakten Slots auf diese Weise zu schematisieren, schufen sie für sich eine nahezu unbegrenzte kombinatorische Freiheit. Die Schemabildung in Kommunikationsakten und die Zergliederung kommunikativer Absichten in diskrete manifeste Komponenten stellen einen bedeutenden Schritt in Richtung jener Art von ‚inferentieller Promiskuität‘ dar, die für das moderne menschliche Denken in einer konventionellen Sprache charakteristisch ist.“ (Tomasello 2014, S.114)
Solche abstrakten Slots sind letztlich nichts anderes als das, was Geisteswissenschaftler als individuelles Allgemeines bezeichnen. Wörter sind immer abstrakt, insbesondere Pronomina wie ich, du, er, sie, es etc. oder Eigennamen wie John oder Mary (vgl. Tomasello 2014, S.142), und es ist Sache des Zuhörers, sie mit eigenem Sinn zu füllen und so zwischen individuellem und gemeinsamem Sinn ‚kreativ‘ hin und her zu ‚springen‘.

Die von Tomasello beschriebenen abduktiven Sprünge ähneln also dem, was er in seinem früheren Buch kreative Sprünge nennt. Dennoch geht hier mit den kreativen Sprüngen etwas verloren: die Wertschätzung der individuellen Intentionalität.

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Dienstag, 28. Oktober 2014

Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014

1. Zusammenfassung
2. Vom kreativen Sprung zum abduktiven Sprung
3. Algorithmen und Metaphern
4. Subjekt-Prädikat-Strukturen
5. Brechung des Intentionsstrahls
6. Ontogenese und Phylogenese
7. Externe Kommunikationsvehikel
8. Von individueller Kooperation zur Konkurrenz von Gruppen
9. Modularisierung der menschlichen Intelligenz?

Es lohnt sich immer, Michael Tomasello zu lesen. Auch sein neuestes Buch „Von der Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014) bringt eine Fülle von anthropologischen Einsichten und Anregungen, die dem aufmerksamen Leser dabei helfen, das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu klären. Dabei bleibt meine Lektüre nicht ohne Kritik; aber auf die will ich erst in den folgenden Posts zu sprechen kommen. Im aktuellen Post möchte ich mich damit begnügen, seine grundlegenden Thesen zusammenzufassen.

Tomasello unterteilt die Naturgeschichte des menschlichen Denkens in drei Etappen, die den drei Entwicklungslogiken in meinem Blog entsprechen: der Biologie, der Kultur und der individuellen Ontogenese. Dabei hält er zunächst fest, daß das Denken bzw. die ‚Intelligenz‘ kein direktes Produkt der biologischen Evolution ist: „Kognitive Prozesse sind zwar ein Produkt der natürlichen Selektion, aber sie sind nicht ihr Ziel. Tatsächlich kann die natürliche Selektion die Kognition nicht einmal ‚sehen‘; sie kann nur die Wirkungen der Kognition bei der Strukturierung und Regulation manifester Handlungen ‚sehen‘ (). In der Evolution gilt das Klugsein nichts, wenn es nicht zu klugem Handeln führt.“ (Tomasello 2014, S.21)

Das durchgehende Prinzip des Tomaselloschen Vorgehens besteht deshalb darin, von den ‚Wirkungen‘ (Verhalten) her auf diesen Wirkungen entsprechende ‚Ursachen‘ (intentionale Zustände) zurückzuschließen. Diese inneren intentionalen Zustände bezeichnet Tomasello als ‚Denken‘ – etwa „wenn ein Organismus bei einer bestimmten Gelegenheit versucht, ein Problem zu lösen, und sein Ziel nicht durch manifestes Verhalten, sondern vielmehr dadurch zu erfüllen trachtet, daß er sich vorstellt, was geschehen würde, wenn er in einer Situation verschiedene Handlungen ausprobieren würde – oder wenn verschiedene äußere Kräfte in die Situation einflössen –, bevor er tatsächlich handelt“ (vgl. Tomasello 2014, S.24) – , weil zu ihrer Beschreibung kein adäquateres Wort zur Verfügung steht.

Dieses Verfahren wendet Tomasello auch auf die erwähnten drei Entwicklungsebenen an, indem er die „biologische(n) Anpassungen“ (Tomasello 2014, S.214f.) an die gemeinsame, noch weitgehend vorsprachliche, und an die kollektive, schon durchgehend kulturell und sprachlich geformte Intentionalität auf einen gemeinsamen, vor etwa 6 Millionen Jahren lebenden Vorfahren von Menschenaffen und Menschen und auf den vor etwa 400 000 Jahren lebenden Frühmenschen (homo heidelbergensis) zurückführt. Als ‚Wirkungen‘, von denen sich auf die ‚Ursachen‘ zurückschließen läßt, dienen Tomasello für den gemeinsamen Vorfahren die vier Vertreter der heute noch lebenden Menschenaffen:
„Unsere besten lebenden Modelle für dieses Geschöpf sind die engsten Primatenverwandten des Menschen, also die nichtmenschlichen Menschenaffen (im folgenden Menschenaffen), zu denen die Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans gehören. Besonders interessant sind die Schimpansen und Bonobos, weil sie sich zuletzt von der Linie des Menschen abgespalten haben, nämlich vor etwa sechs Millionen Jahren. Wenn die kognitiven Fähigkeiten unter den vier Arten der Menschenaffen ähnlich, beim Menschen aber verschieden sind, nehmen wir an, daß die Menschenaffen ihre Fertigkeiten vom letzten gemeinsamen Vorfahren (oder von einem noch früheren Wesen) konserviert haben, während Menschen etwas Neues entwickelten.“ (Tomasello 2014, S.32)
Dabei schränkt Tomasello die Validität seines Vorgehens selbstkritisch ein; denn, so Tomasello, wir wissen nicht, „wie sehr sich die heute lebenden Menschenaffen gegenüber ihrem gemeinsamen Vorfahren mit den Menschen verändert haben, weil es aus diesem Zeitalter im Grunde keine aufschlußreichen Fossilien gibt“. (Vgl. Tomasello 2014, S.223)

Für den vor etwa 2 Millionen Jahren oder später lebenden Frühmenschen – Tomasello tippt auf den vor etwa 400 000 Jahren lebenden homo heidelbergensis – dienen Tomasello vor allem noch heute existierende Wildbeutergesellschaften und kleine Kinder bis zu drei Jahren, die noch weitgehend vorsprachlich sind, als Modelle, von denen aus er auf den Frühmenschen zurückzuschließen versucht. (Vgl.u.a. Tomasello 2014, S.60f. und S.212)


Tomasello unterscheidet zwischen drei Intentionalitätsformen: der individuellen Intentionalität (Egozentrik), die er evolutionsbiologisch vor allem mit den Menschenaffen und mit dem hypothetischen gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschen verbindet (vgl. Tomasello 2014, S.21-54); der gemeinsamen, von Tomasello vor allem als Dyade konzipierten Intentionalität (Ich-Du-Perspektiven), die er phylogenetisch mit dem Frühmenschen und ontogenetisch mit der Kleinkindphase vom ersten bis zum dritten Geburtstag in Verbindung bringt (vgl. Tomasello 2014, S.55-122); und der kollektiven Intentionalität, die er als Gruppenidentität konzipiert („Wir-Intentionalität“ (Tomasello 2014, S.127)), die eine spezifisch kulturelle Entwicklungsebene darstellt und die er mit dem modernen Menschen verbindet (vgl. Tomasello 2014, S.123-183).

Die Kognition bzw. das Denken ist auf allen diesen Entwicklungsebenen durch die spezifische Intentionalität der Individuen geprägt: konkurrenzorientiert beim Menschenaffen und dem gemeinsamen Vorfahren, wobei die Problemsituationen, in denen sich dieses Denken zu bewähren hat, vor allem mit der Nahrungsbeschaffung zu tun haben; kooperativ beim Frühmenschen, mit einer ersten Differenzierung zwischen den jeweiligen kommunikativen Absichten der miteinander kooperierenden Akteure und den davon unabhängigen propositionalen Inhalten; und konventionell beim modernen Menschen, der sein eigenes Wohl mit dem Gruppenwohl gleichsetzt und sich bei der Kommunikation auf einen reichhaltig strukturierten, sprachlich abgesicherten gemeinsamen Hintergrund – „Dinge, von denen wir alle in der Gruppe wissen, daß wir alle sie kennen, selbst wenn wir sie nicht gemeinsam als Individuen erlebt haben“ (Tomasello 2014, S.130) – stützen kann.

Schon auf der Ebene der individuellen Intentionalität sind Menschenaffen zu einem dreifach ausdifferenzierten Denken in der Lage: zu Offline-Repräsentationen von Erlebnissen und Wahrnehmungen (die Verbindung von unerreichbarem Futter in dem einen Zimmer mit zur Lösung dieses Problems brauchbaren Werkzeugen in einem anderen Zimmer), zu kausalen und intentionalen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Manipulierbarkeit von ‚Objekten‘ in der physischen und in der sozialen Welt zum eigenen Nutzen und zur Selbstbeobachtung, also zur Einschätzung der Effektivität des eigenen Verhaltens beim Erreichen von eigennützigen Zielen. (Vgl.u.a. Tomasello 2014, S.23f.)

Auf der kooperativen Ebene des Frühmenschen treten dann neue Kommunikationsmotive des Helfens und des Informierens an die Stelle der Konkurrenzorientierung der Menschenaffen. Bei der gemeinsamen Nahrungssuche versetzen sich die arbeitsteilig vorgehenden Partner in die Perspektive des jeweils anderen (Rekursivität) und unterstützen sich wechselseitig bei ihrem Vorhaben mit Hilfe von Gesten und ikonischen Gebärden, wobei sich letztere zu eigenständigen Zeichen (Symbolen) verselbständigen können. Die Verselbständigung der ikonischen Gebärden ermöglicht es den Akteuren, sich selbst beim Gestikulieren zu beobachten und die eigene Wirkung auf den Kommunikationspartner zu kontrollieren und einzuschätzen. Dazu gehört, daß die Kommunikationspartner zwischen den verschiedenen Perspektiven unterscheiden können, zwischen den eigenen und denen des jeweiligen anderen und auch zwischen verschiedenen möglichen Perspektiven, die zur Auswahl stehen. Die ikonischen Gebärden beinhalten deshalb auch erstmals so etwas wie einen von diesen Perspektiven unabhängigen propositionalen Inhalt: z.B. die potentielle Jagdbeute, auf die sich die Kommunikationsakte beziehen. Die Rekursivität ist auf zwei Personen („Zweitpersonalität“ (vgl.u.a. Tomasello 2014, S.56)) und auf die aktuelle gemeinsame Aufgabe beschränkt (vgl.u.a. Tomasello 2014, S.18f.).

Auf der Ebene der kollektiven Identität des modernen Menschen (die letzten 200 000 Jahre) haben wir es mit durch kulturelle und sprachliche Konventionen stabilisierten großen Gruppen zu tun, die miteinander um die zur Verfügung stehenden Ressourcen konkurrieren. Innerhalb der Gruppe werden die Perspektiven und Interessen der Gruppenmitglieder durch einen „akteursneutralen Standpunkt“ koordiniert. (Vgl.u.a.Tomasello 2014, S.19) Dieser Standpunkt gewährleistet eine objektive Repräsentation der sozialen Welt, d.h. wer, wann und wie bestimmte gemeinsame Aufgaben erledigt, und das einzelne Gruppenmitglied orientiert sich normativ an dem, was die Gruppe für richtig hält. ‚Fremde‘, die der eigenen Gruppe angehören, sich aber nie gesehen haben, erkennen einander als Gruppenmitglieder und vertrauen einander. Die gegliederte sprachliche Struktur (Subjekt-Prädikat-Struktur) ermöglicht eine deutliche Differenzierung zwischen subjektiven Perspektiven und Propositionen. Bei Meinungsverschiedenheiten ermöglicht der gemeinsame kulturelle Hintergrund das Anführen von Gründen, mit deren Hilfe das wechselseitige Verstehen (Rekursivität) wiederhergestellt werden kann und Entscheidungen gefällt werden können.

Die menschliche Kognition ist Tomasello zufolge seit dem Frühmenschen vor allem eine spezifisch soziale. Ihre grundlegenden Komponenten: Repräsentation, Schlußfolgern (Rekursivität) und Selbstbeobachtung, sind im Unterschied zu unseren Primatenverwandten nicht durch Konkurrenz, sondern durch Kooperation geprägt: „Welche nichtsoziale Theorie kann solche Dinge wie kulturelle Institutionen, perspektivische und konventionelle Konzeptualisierungen in natürlichen Sprachen, rekursives und rationales Schlußfolgern, objektive Perspektiven, soziale Normen und normative Selbststeuerung usw. erklären? All das sind durch und durch Phänomene der Koordination, und es ist nahezu unvorstellbar, daß sie evolutionär aus einer nichtsozialen Quelle entsprangen. So etwas wie die Hypothese geteilter Intentionalität muß einfach wahr sein.“ (Tomasello 2014, S.225)

In den folgenden Posts wird es mir nicht so sehr darum gehen, ob Tomasellos Hypothese tatsächlich wahr ist, sondern welche Aspekte des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses sie nicht berücksichtigt bzw. vernachlässigt.

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Mittwoch, 15. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Der Grund, warum sich viele junge Menschen für die Laufbahn eines Physikers entscheiden, ist Smolin zufolge, daß sie „die an die Zeit gebundene menschliche Welt“ als „hässlich und unwirtlich“ empfinden und gegen eine „Welt der reinen, zeitlosen Wahrheit“ eintauschen wollen. Auch er selbst sei aus diesem Grund zur Physik gekommen. Aber: „Später im Leben stellte ich fest, dass es ganz schön war, Mensch zu sein, und das Bedürfnis nach einem transzendenten Ausweg verblasste.“ (Smolin 2014, S.12)

Dieser Entwicklung vom Misanthropen zum Philanthropen ist es wohl auch zu verdanken, daß Smolin die Physik nicht in erster Linie als eine wissenschaftliche Methode versteht, sondern als eine Ethik. (Vgl. Smolin 2014, S.356) Auch deshalb will Smolin die „Austreibung der Zeit aus der Naturauffassung des Physikers“ (Smolin 2014, S.143) wieder rückgängig machen: „Wenn wir weiterhin daran festhalten, außerhalb der Zeit zu denken, werden wir die beispiellosen Probleme, die sich aus dem Klimawandel ergeben, nicht überwinden.“ (Smolin 2014, S.340)

Smolin zufolge ist es ein „Wesenszug“ des Menschen, „immer nach mehr und anderem zu streben als dem, was wir schon haben. Menschsein bedeutet, sich vorzustellen, was nicht ist, die Grenzen zu überschreiten, die Beschränkungen auszutesten, Erkundungen zu machen und über die einschüchternden Grenzen unserer bekannten Welt hinauszustürmen.“ (Vgl. Smolin 2014, S.339) – Damit ist die Menschheit bislang auch ganz gut vorankommen, so Smolin, aber das „Ergebnis ist ein exponentielles Wachstum“, und die letzten Generationen, insbesondere die gegenwärtige, hatten und haben einfach nur noch das Glück, innerhalb der Zeitspanne zwischen dem Höhepunkt dieser Entwicklung und der darauffolgenden Krise zu leben. Die Verantwortung des gegenwärtigen Menschen ist entsprechend immens: Die „Sicherheit unserer Kinder“, so Smolin, hängt davon ab, „dass wir lernen, das Klima zu steuern.“ (Vgl. Smolin 2014, S.340)

So weit, so klar. Hier wird jeder einigermaßen klar denkende Mensch zustimmen können. Die Schwierigkeiten beginnen aber dort, wo es darum geht, die Funktion der Technik zu beurteilen, die ihr bei dieser Aufgabe zukommt. Hier steckt schon in Smolins Formulierung „das Klima steuern“ ein ungeheurer Optimismus, der auf einem problematischen Vertrauen zur Technologie beruht. Wer das Klima steuern will, denkt notwendigerweise an Geoengineering, auch wenn Smolin dieses Wort nicht verwendet. Der Fähigkeit des Menschen, sein Leben zu führen und seinen Lebenswandel zu ändern, traut er jedenfalls nicht allzu viel zu, denn das entspricht ja nicht dem „Wesenszug“ des Menschen. Der Option, „keine großen Ansprüche“ zu stellen, also die eigenen Bedürfnisse so zu regulieren, daß die Menschen „ihre Umwelten nur minimal belasten“ bzw. „im Gleichgewicht mit ihrer Umwelt leben“, hält Smolin jedenfalls nicht für umsetzbar. (Vgl. Smolin 2014, S.339)

Es bleibt also nur der Weg, weiter zu „prosperieren“, wie Smolin sich ausdrückt (vgl. Smolin 2014, S.340), natürlich auf nachhaltige Weise (vgl. Smolin 2014, S.345). Zu diesem Zweck bedarf es einer „Verschmelzung des Natürlichen und des Künstlichen“. (Vgl. Smolin 2014, S.344) Geoengineering wäre, wenn sie gelingt, in den Augen der Phantasten, die den Klimawandel auf diese Weise in den Griff bekommen wollen, tatsächlich genau so eine „Verschmelzung“, eine Art Cyborg auf planetarischem Niveau: „Sobald wir verstehen, wie die natürlichen Systeme, die das Klima regulieren, auf unsere Technologien reagieren, und angefangen haben, unsere Technologien und Ökonomien so zu betreiben, dass sie im Einklang mit dem Klima operieren, werden wir die Spaltung zwischen dem Natürlichen und Künstlichen im planetaren Maßstab überwunden haben. Die Wirtschaft und das Klima werden Aspekte eines einzigen Systems sein. Um die Klimakrise zu überleben, müssen wir eine neue Art von System ersinnen und einrichten, eine Symbiose der natürlichen Prozesse, die das Klima bestimmen, mit unserer technischen Kultur.“ (Smolin 2014, S.342) – Mit anderen Worten: alles ist möglich; nur nicht, daß der Mensch seinen Lebensstil ändert!

Dieser Teil, den Smolin als ethische Konsequenz aus dem Klimawandel zieht, ist aus meiner Sicht eher enttäuschend. Aber es gibt noch eine andere Konsequenz, die Smolin erläutert und der ich vorbehaltlos zustimmen kann. Smolin fordert, daß der Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften nicht länger dazu führen dürfe, daß die jeweiligen Wissenschaftler unter sich bleiben und Gespräche mit „Inselcharakter“ führen: „Wenn unsere Kultur gedeihen soll, wäre es nützlich, unsere Entscheidungen auf ein kohärentes Bild der Welt zu gründen, dem zunächst einmal eine Verständigung zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften vorausgeht. Die Wirklichkeit der Zeit kann die Grundlage dieser neuen Verständigung sein, der zufolge die Zukunft offen und Neues auf jeder Skala möglich ist – von den fundamentalen Gesetzen der Physik bis zur Organisation von Wirtschaften und Ökologien.“ (Smolin 2014, S.351)

Smolins Forderung läuft auf eine Wissenschaft hinaus, in der der Mensch wieder im Mittelpunkt ihres Interesses steht, auch in der Naturwissenschaft! Eine solche Wissenschaftsauffassung habe ich in einem Post zu Thomas Nagels „Geist und Kosmos“ (2013) diskutiert. (Vgl. meinen Post vom 21.12.2013) Eine solche Wissenschaft wäre primär sinnorientiert. Sie wäre weder wertfrei, noch ginge es um Verwertung im Sinne von Profitmaximierung. Eine solche Wissenschaft würde nicht behaupten, zu wissen, was der Sinn der menschlichen Lebensführung genau ist. Aber sie würde ihrer Verantwortung dafür gerecht werden müssen, daß auch künftigen Generationen noch genügend Optionen zur Verfügung stehen, für sich selbst zu entscheiden, welchen Sinn sie ihrem Leben geben wollen.

Daß Smolin bereit ist, sich als Physiker diese Fragen zu stellen, macht die eigentliche Bedeutung seines Buches aus.

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Dienstag, 14. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Sowohl bei der Relativitätstheorie als auch bei der Quantentheorie spielt der Beobachter die wesentliche Rolle, sowohl in der Theorie wie auch bei den Experimenten. Auf die Rolle des Beobachters in der Relativitätstheorie bin ich schon eingegangen. (Vgl. meinen Post vom 10.10.2014) Dabei war es um den Status der Zeit gegangen: um die Relativität der Gleichzeitigkeit und um den Primat der Kausalität. Bei der Quantentheorie geht es vor allem um das Messen von Quantenzuständen, bei denen es der Meßvorgang selbst ist bzw. eben der Beobachter, der über den Teilchencharakter oder Wellencharakter eines Quantenereignisses entscheidet.

Schon dieser fundamentale Status des Beobachters impliziert, daß wir es in der Physik nicht mehr mit den physikalischen Ereignissen selbst, sondern nur noch mit ‚Informationen‘ zu tun haben, also mit Daten, die den Filter eines Meßvorgangs passiert haben. Anders als bei den Wurfgesetzen von Tennisbällen (vgl. Smolin 2014, S.72) fehlt hier die Anschauung des Phänomens: „Wie ich schon bemerkt habe, beschreibt die Quantenmechanik Phänomene, die nicht visualisiert werden können.“ (Smolin 2014, S.129)

Bei der Quantentheorie kommt noch hinzu, daß es sich dabei nicht einmal mehr um die Daten eines einzelnen, experimentell kontrollierten Ereignisses handelt, sondern um Wahrscheinlichkeiten, die aus einer Vielzahl von Experimenten ermittelt werden müssen. Das widerspricht den normalerweise geltenden Standards in der Physik, die eine präzise Beschreibung von lokalisierbaren Ereignissen erfordern: „Die genaueste Beschreibung, die man von dem Atom geben könnte, würde darin bestehen, dass man sagt, wo jedes Elektron sich befindet.“ (Smolin 2014, S.126)

Subatomare Prozesse lassen sich aber nicht auf diese Weise lokalisieren. Sie sind prinzipiell unscharf. Es lassen sich nur probabilistische Aussagen über ihren jeweiligen Ort und ihre jeweilige Zeit machen. Um also zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen, müssen die Experimente so oft wiederholt werden, bis statistische Daten über den jeweiligen Aufenthaltsort der Elektronen zusammengestellt werden können. Smolin vergleicht das mit dem Werfen einer Münze: „Man muss eine Münze viele Male werfen und registrieren, wie groß der Anteil der Kopfwürfe ist. Je öfter man wirft, umso mehr wird der Anteil der Kopfwürfe zu 50 Prozent hin tendieren. Dasselbe gilt für die probabilistischen Vorhersagen der Quantenmechanik: Um sie zu bestätigen, muss man ein Experiment viele Male durchführen.()“ (Smolin 2014, S.126)

In der Quantenmechanik werden die Experimente also nicht etwa deshalb wiederholt, weil damit das singuläre Ergebnis eines vorangegangenen Experimentes bestätigt werden soll, sondern um überhaupt allererst zu Daten zu kommen. Die Quantenmechanik bildet also weniger eine physikalische Theorie und Methode, als vielmehr einen Algorithmus für die Informationsverarbeitung. (Vgl. Smolin 2014, S.221) So hat es auch Niels Bohr gesehen:
„Niels Bohr, einer der Begründer der Quantentheorie, behauptete, dass diejenigen, die in diesem Sinne enttäuscht waren (nämlich daß die Physik „ein Bild von der Welt“ zu geben habe, „das wir für wahr halten können“ – DZ), eine falsche Vorstellung über den Zweck der Naturwissenschaft hatten. Das Problem, so Bohr, hat nichts mit der Theorie zu tun, sondern damit, was wir von einer Theorie erwarten. Bohr verkündete, dass der Zweck einer wissenschaftlichen Theorie nicht in der Beschreibung der Natur bestehe, sondern darin, uns Regeln an die Hand zu geben, um Dinge in der Welt zu manipulieren, und eine Sprache, mit der wir miteinander über die Ergebnisse solcher Manipulationen sprechen können.“ (Smolin 2014, S.125)
Smolin wendet sich entschieden gegen eine solche informationstheoretische Auffassung von der Physik: „Ich glaube, dass es eine objektive, physikalische Wirklichkeit gibt und dass etwas Beschreibbares geschieht, wenn ein Elektron von einer Energieebene eines Atoms auf eine andere springt. Folglich suche ich nach einer Theorie, um diese Beschreibung zu geben.“ (Smolin 2014, S.221)

Ob es eine solche physikalische Theorie, wie sie Smolin vorschwebt, nun geben kann oder nicht, muß vorläufig offen bleiben. Wichtiger ist mir an dieser Stelle der Hinweis darauf, daß die Quantenmechanik nur eine ‚Sprache‘ bildet, mit der sich an Technologien interessierte Ingenieure über subatomare Prozesse verständigen. Das bestätigt ein weiteres Mal, daß wir in einer Welt leben, die nur noch funktioniert, die aber keiner mehr versteht. Und daß sie noch funktioniert, ist keinerlei Garantie dafür, daß das auch weiterhin der Fall sein wird.

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Montag, 13. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Wenn es also keine fundamentalen Theorien gibt, sondern nur effektive Theorien (vgl. meinen Post vom 11.10.2014), dann bedeutet das, daß diese Theorien, deren Gültigkeitsbereich auf Subsysteme innerhalb des Universums beschränkt ist, nicht auf das ganze Universum ausgedehnt werden können. Das Universum wird üblicherweise als eine Entität beschrieben, die es nur einmal gibt. Das bedeutet, daß das Universum ein Objekt ist, mit dem nicht experimentiert werden kann. Es kann weder unter Laborbedingungen präpariert werden, noch können Experimente mit anderen Objekten seiner Art wiederholt werden. (Vgl. Smolin 2014, S.25)

Die Einzigkeit des Universums beinhaltet desweiteren, daß es zu diesem Universum auch kein Außen gibt (vgl. Smolin 2014, S.330), was ebenfalls ein Hindernis für Experimente mit diesem ‚Objekt‘ darstellt: „Wenn wir einen Teil des Universums beschreiben, lassen wir uns selbst und unsere Messwerkzeuge außerhalb des Systems. Wir lassen unsere Rolle bei der Auswahl oder Präparation des Systems aus, das wir untersuchen. Wir lassen die Bezugspunkte aus, die dazu dienen, festzustellen, wo sich das System befindet. Am entscheidendsten für unser Anliegen im Hinblick auf das Wesen der Zeit ist jedoch die Tatsache, dass wir die Uhren auslassen, mit denen wir Veränderungen im System messen.“ (Smolin 2014, S.25)

Man kann bei potentiellen Experimenten mit dem Universum also keine externen Lineale und Uhren verwenden (vgl. Smolin 2014, S.25 und S.129), Meßinstrumente, die sich notwendigerweise außerhalb des Experiments befinden müssen: „Wenn wir Kosmologie betreiben, haben wir es mit einem neuen Umstand zu tun: Es ist unmöglich, aus dem System herauszutreten, wenn das System das gesamte Universum ist.“ (Smolin 2014, S.25)

Wenn sich aber zu etwas, das es nur einmal gibt, kein externer Standpunkt gewinnen läßt (vgl. Smolin 2014, S.152) und wenn etwas aus einer Menge von Beziehungen bzw. ‚Teilen‘ besteht, ohne selbst ein ‚Teil‘ von etwas anderem zu sein (vgl. Smolin 2014, S.330), dann bildet es selbst ein nicht reduzierbares Ganzes bzw., philosophisch ausgedrückt, eine ‚Totalität‘: „Das Universum ist eine andere Art von Entität als irgendeines seiner Teile. Auch ist es nicht einfach die Summe seiner Teile. In der Physik werden alle Eigenschaften von Objekten des Universums im Sinne von Beziehungen oder Interaktionen mit anderen Objekten verstanden. Aber das Universum ist die Summe all dieser Beziehungen und kann als solche keine Eigenschaften haben, die durch Beziehungen zu einer anderen ähnlichen Entität definiert werden.“ (Smolin 2014, S.149)

An dieser Stelle können die Physiker tatsächlich mal etwas von den Philosophen lernen, z.B. von Hans Blumenberg. Für genau solche, phänomenologisch gesehen, ‚Monströsitäten‘, von denen man keine direkte Anschauung (intentio directa) haben kann, sondern nur indirekte Anschauungen (intentio indirecta), hat er seine „Theorie der Unbegrifflichkeit“ entwickelt. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011) Zu diesen ‚Phänomenen‘ zählt Blumenberg ‚Begriffe‘ wie Sein, Welt und Geschichte. Über diese ‚Phänomene‘ läßt sich deshalb so schwer etwas begrifflich Präzises aussagen, weil man sich immer nur in ihnen befindet und niemals außerhalb ihnen gegenüber. Diese ‚Phänomene‘ bilden also Totalitäten. Und nach allem, was Smolin über das Universum zu sagen weiß, bildet auch das Universum so eine geschichtliche und weltliche Totalität.

Über Totalitäten kann man sich Blumenberg zufolge nur indirekt verständigen (intentio indirecta). Alles was wir über sie aussagen können, hat immer nur den Status von Metaphern, die uns eine indirekte, ‚intuitive‘ Anschauung vermitteln. So ist z.B. der Vergleich der Welt mit einem umgestürzten Nachttopf, vor dem ein Kind sitzt und weint, so eine Metapher. (Vgl. Büchner, Woyzeck) Allerdings handelt es sich dabei um eine besondere Art von Metapher: um eine absolute Metapher. Normale Metaphern kann man nämlich präzisieren und nach und nach in eindeutige Begriffe umwandeln. Bei absoluten Metaphern, die eine prekäre Anschauung von Totalitäten vermitteln, geht das aber prinzipiell nicht. Absolute Metaphern lassen sich niemals in Begriffe umwandeln!

Es ist also tatsächlich unwahrscheinlich, daß es für das Universum jemals eine universell gültige Weltformel geben wird. Wir haben es hier mit einer Totalität zu tun, und wir werden uns damit bescheiden müssen, uns darüber nur mit Hilfe von Metaphern verständigen zu können.

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Sonntag, 12. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Smolin beschreibt die Mathematik als einen Platonismus (vgl. Smolin 2014, S.12 und S.16), der von der modernen Physik seit Galileo und Newton übernommen wurde (vgl.u.a. Smolin 2014, S.53ff., 67, 75, 328). Dieser Platonismus konnte nur deshalb auf physikalische, in der Zeit ablaufende Prozesse angewandt werden, weil sie vom universellen Kontext isoliert wurden: „Man beachte, dass wir ein physikalisches System zuerst isolieren und es in unserem Denken von der Komplexität der Bewegungen des wirklichen Universums trennen müssen, um die Mathematik darauf anzuwenden.“ (Smolin 2014, S.79)

Experimente finden unter Laborbedingungen statt, unter denen die meisten ‚Störfaktoren‘ ausgeschaltet werden können. Die ‚Universalität‘ dieser isolierten Experimente wird an ihrer Replizierbarkeit festgemacht. Wenn sie unter vergleichbaren (Labor-)Bedingungen überall auf der (irdischen) Welt wiederholt werden können, gelten sie als universell gültig. Dabei bildet schon die Annahme der Isolierbarkeit experimentell kontrollierter physikalischer Prozesse einen Platonismus. Tatsächlich werden alle Experimente gerade im Quantenbereich von einem unvermeidbaren ‚Rauschen‘ begleitet: „Experimentatoren verwenden große Mühe darauf, sich selbst und ihresgleichen davon zu überzeugen, dass sie ein wirkliches Signal sehen, das sich gegenüber dem Hintergrund absetzt, und wir tun alles in unserer Macht Stehende, um die Wirkung des Rauschens einzuschränken.“ (Smolin 2014, S.164)

Dieser Versuch ist aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Es gibt keinen Ort im Universum und kein Material, an dem bzw. mit dem die Auswirkungen der Gravitation ausgeschaltet werden könnten: „Im Prinzip kann nichts die Gravitationskraft abschirmen oder die Ausbreitung von Gravitationswellen aufhalten. Daher kann nichts vollkommen isoliert werden.“ (Smolin 2014, S.165) – Smolin spricht deshalb vom „Prinzip der Nichtexistenz isolierter Systeme“. (Vgl. ebenda)

Wenn also suggeriert wird, man könne physikalische Prozesse mit mathematischen Objekten gleichsetzen, so scheitert das schon an der Nicht-Isolierbarkeit dieser physikalischen Prozesse vom Rest des Universums, wie Smolin am Beispiel einer Billardkugel zeigt:
„Eine wirkliche Billardkugel ist natürlich ein enorm kompliziertes System, weshalb ihre Darstellung als ein einzelner Gegenstand mit einer einzelnen Position eine drastische Annäherung ist. Wenn Sie eine präzisere und detailliertere Beschreibung des Poolbillardspiels haben wollen, sollten Sie nicht nur die Positionen der Kugeln aufzeichnen, sondern die Position jedes Atoms in jeder Kugel. Das würde mindestens 10 hoch 24 Zahlen erfordern und somit auch einen Konfigurationsraum mit einer ebenso hohen Dimensionalität. Aber warum sollte man hier stehen bleiben? Wenn Sie eine Beschreibung auf der Ebene der Atome haben wollen, sollten Sie die Positionen aller Atome des Tisches, aller Atome in der Luft, die auf die Kugeln aufschlagen, alle Photonen, die das Zimmer erhellen, einschließen – und warum nicht alle Atome der Erde, der Sonne und des Mondes, die eine Gravitationsanziehung auf die Kugeln ausüben? Alles, was weniger als eine kosmologische Beschreibung ist, wird also eine Annäherung sein.“ (Smolin 2014, S.81)
Um aus der Beobachtung physikalischer Prozesse mathematische Objekte mit pseudo-platonischen Eigenschaften machen zu können, bedarf es einer besonderen Zurichtung dieser Prozesse. Neben ihrer Isolierung ist die wichtigste Maßnahme ihre Verwandlung in Daten (Zahlen) und Graphiken. Die Verwandlung in Zahlen geschieht durch Messungen: „Um Wissenschaft zu betreiben, genügt es nicht, einfach nur Definitionen aufzustellen und sich über Begriffe auseinanderzusetzen. Man muss die Bewegungen messen. Das bedeutet, dass man Werkzeuge wie Uhren und Lineale verwendet, um Positionen und Zeiten mit Zahlen zu verknüpfen.“ (Vgl. Smolin 2014, S.70)

Durch die Verwandlung physikalischer Prozesse in Zahlen und ihre Übertragung auf Papier fallen sie aus der Zeit und werden in einen Ewigkeitsraum übertragen, in dem nichts mehr passieren kann. Die mathematischen Berechnungen beziehen sich nur auf diesen zeitlosen Moment, in dem der physikalische Prozeß gewissermaßen ‚eingefroren‘ ist. Smolin spricht von der „Methode des Einfrierens von Zeit“. (Vgl. Smolin 2014, S.72) Die physikalischen Prozesse finden also immer in der Zeit statt, aber die Messungen sind zeitlos und ermöglichen so erst ihre Verwandlung in mathematische Objekte:
„Durch dieses Mittel haben wir die Bewegung – das heißt eine Veränderung in der Welt – zu einem Gegenstand der Untersuchung durch die Mathematik gemacht, in der Gegenstände erforscht werden, die sich nicht verändern. Die Methode des Einfrierens von Zeit hat so gut funktioniert, dass die meisten Physiker sich nicht einmal dessen bewusst sind, dass bei ihrem Verständnis der Natur ein Trick angewendet wurde. Tatsächlich war dieser Trick ein großer Schritt beim Austreiben der Zeit aus der Beschreibung der Natur, weil er uns auffordert, uns Fragen zur Korrelation zwischen dem Wirklichen und dem Mathematischen, dem Zeitgebundenen und dem Zeitlosen zu stellen.“ (Smolin 2014, S.72)
Als Beispiel für die komplexe Eingebundenheit eines physikalischen Ereignisses bringt Smolin die Ballwurfszene aus einem Film: „Am 4. Oktober 2010 gegen 13:15 Uhr warf auf der Ostseite des High Park in Toronto ein Romanschriftsteller namens Danny einen Tennisball, den er am selben Morgen in seiner Sockenschublade gefunden hatte, einer Dichterin namens Janet zu, die er gerade getroffen hatte.“ (Smolin 2014, S.72) – Smolin beschreibt nun detailgenau, wie diese Ballwurfszene, mit Danny und Janet, der Dichterin, der Sockenschublade, dem High Park in Toronto etc. in Zahlentripel verwandelt wird, die aus zu verschiedenen Zeitpunkten des Fluges erhobenen Daten über Zeit, Distanz und Höhe des Balles bestehen. Aus diesen Daten ergibt sich dann eine Parabel, die in ihrer schlichten Schönheit ein universelles Wurfgesetz zum Ausdruck bringt.

Ein Wurfgesetz, das aber nichts mehr mit Danny und Janet und dem High-Park zu tun hat, und auch nicht mit der ebenso schlichten Geschichte eines Flirts mit ihren Folgen:
„Wir begannen mit der Beobachtung eines Tennisballs, auf dessen Seite eine Telefonnummer in purpurfarbener Tinte stand und der am Nachmittag des 4. Oktober 2010 im High Park zwischen zwei Schriftstellern namens Danny und Jenny hin- und hergeworfen wurde. Unser tiefstes Verständnis seiner Bewegung läuft auf die Betrachtung eines zeitlosen Bildes hinaus, das eine farblose Kurve in einem abstrakten Raum beinhaltet.“ (Smolin 2014, S.87)
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Samstag, 11. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Unveränderliche und zeitlos gültige physikalische Naturgesetze sind im Grunde genommen nur in die reale Welt versetzte mathematische Objekte: „Innerhalb des Newton’schen Paradigmas kann ein zeitloser Konfigurationsraum als mathematisches Objekt beschrieben werden. Die Gesetze können genauso wie ihre Lösungen ebenfalls durch mathematische Objekte repräsentiert werden, die mögliche Entwicklungen des Systems sind.“ (Smolin 2014, S.328) – Und an anderer Stelle: „... Kurven und andere mathematische Gegenstände leben nicht in der Zeit.“ (Smolin 2014, S.45; vgl. auch S.52 und S.77)

Wenn physikalische Prozesse sich mathematisch formalisieren und experimentell replizieren lassen, verleiht ihnen das die Aura zeitlos gültiger Wahrheit. Hinzu kommt dann noch ein religiös anmutender Mystizismus: Smolin unterscheidet unter den Physikern zwischen „Mystikern“ und „Pragmatikern“. (Vgl. Smolin 2014, S.75) Der Unterschied besteht darin, daß erstere die ‚Schönheit‘, also die schlichte Eleganz physikalischer Formeln als eine Bestätigung der in ihnen ausgedrückten zeitlosen Wahrheiten verstehen. (Vgl. Smolin 2014, S.56 und S.167f.)

Smolin widerspricht dieser Auffassung entschieden und verweist auf das Ptolemäische System, in dem die Erde den Mittelpunkt des Universums bildet und das über tausend Jahre hervorragend funktioniert hat. Es sagte „die Positionen der Planeten, der Sonne und des Mondes mit einer Genauigkeit von einem Tausendstel voraus“. (Vgl. Smolin 2014, S.55f.) Es gab also keinen Grund, den mathematischen Formeln des Ptolemäischen Systems zu mißtrauen und ihre Wahrheit anzuzweifeln. Und schön war es außerdem auch noch! Smolin konstatiert: „Wir erhalten hier eine Lektion, die uns sagt, dass weder die mathematische Schönheit noch die Übereinstimmung mit Experimenten garantieren kann, dass die Vorstellungen, auf denen eine Theorie beruht, auch nur die geringste Beziehung zur Wirklichkeit haben. Manchmal führt uns die Deutung der Muster in der Natur in die falsche Richtung.“ (Smolin, 2014, S.56)

Übertragen wir dieses Beispiel auf die Relativitätstheorie und auf die Quantentheorie, so besteht wirklich kein Grund, diese Theorien für irgendwie fundamentaler zu halten als das Ptolemäische System. Und nur weil aus diesen modernen Paradigmen beeindruckende Technologien hervorgegangen sind, die funktionieren, heißt das nicht, daß sie irgendwie der Wirklichkeit entsprechen! Das sollte uns nachdenklich stimmen und möglicherweise auch etwas besorgt machen.

Smolin geht jedenfalls davon aus, daß es sich auch bei der Relativitätstheorie und bei der Quantentheorie nur um Annäherungen an die physikalische Wirklichkeit handelt und nicht um fundamentale Theorien. (Vgl. Smolin 2014, S.81 und S.152) Mittlerweile sprechen viele Physiker deshalb nicht mehr von fundamentalen oder ‚wahren‘ Theorien, etwa im Sinne der berüchtigten ‚Weltformel‘, die alles erklären können soll, sondern von effektiven Theorien: „Alle bedeutenden Theorien der Physik sind Modelle von Verkürzungen der Natur, die von Experimentatoren erzeugt werden. Bei ihrer Erfindung mag man sie sich zwar als fundamentale Theorien vorgestellt haben, aber mit der Zeit sind die Theoretiker dahin gelangt, sie als effektive Beschreibungen einer begrenzten Anzahl von Freiheitsgraden zu verstehen.“ (Smolin 2014, S.166)

Effektive Theorien beschreiben physikalische Prozesse in begrenzten, isolierbaren Subsystemen des Universums. Auf dieser Ebene ‚funktionieren‘ sie und sind deshalb effektiv. Aber sie lassen sich nicht auf das ganze Universum ausdehnen. Ihre Gültigkeit ist begrenzt: „Der Begriff einer effektiven Theorie räumt mit manch abgedroschenen Vorstellungen auf, wie etwa der Plattitüde, daß Einfachheit und Schönheit die Kennzeichen der Wahrheit sind.“ (S.167) – Einfachheit und Schönheit sind keine Kennzeichen der Wahrheit mehr, „sondern die eines erfolgreich konstruierten, angenäherten Modells eines begrenzten Phänomenbereichs.()“ (Vgl. Smolin 2014, S.168)

Von hier aus ist der Weg allerdings nur kurz zu einer Wissenschaftsauffassung, die sich damit begnügt, daß die Theorien ‚funktionieren‘, ohne verstehen zu wollen, warum. Für eine solche falsche (und auch heuchlerische) Selbstbescheidung ist die Welt, in der wir leben, zu brüchig und fragil, und die Folgewirkungen unserer Technologien sind zu katastrophenträchtig, als daß wir es uns und diesen Wissenschaftlern durchgehen lassen könnten, sich mit bloßer Effektivität zufriedenzugeben.

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Freitag, 10. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Smolin beginnt das erste Kapitel seines Buches mit einem Hinweis auf Heraklit: „Bevor wir uns auf diese oder irgendeine andere Entdeckungsreise begeben, sollten wir den Rat Heraklits befolgen, der, obwohl er kaum ein paar Schritte in der heroischen Geschichte namens Wissenschaft gemacht hatte, so weise war, uns zu warnen, dass die ‚Natur sich zu verbergen liebt‘. Das tut sie in der Tat, wenn man bedenkt, dass die meisten der Kräfte und Teilchen, die die Naturwissenschaft mittlerweile für fundamental hält, bis zum letzten Jahrhundert im Atom verborgen lagen.“ (Smolin 2014, S.39)

Als einzige fundamentale Naturkraft, die sich nicht unserer Anschauung entzieht, nennt Smolin die Gravitation: „Die größte Ausnahme von der Bescheidenheit der Natur ist die Gravitation. Sie ist die einzige der Grundkräfte, deren Wirkungen jeder beobachtet, ohne dafür spezielle Instrumente zu benötigen.“ (Smolin 2014, S.39) – Eine schöne Formulierung übrigens: „Bescheidenheit der Natur“. Das erinnert an das Noli-me-tangere, mit dem Plessner die Seele beschreibt, die es auch liebt, sich zu verbergen.

Für jemanden wie mich, der prinzipiell phänomenologisch denkt, ist Heraklits Behauptung starker Tobak. Von Phänomenen auszugehen bedeutet, sie als das zu nehmen, als was sie sich zeigen. Phänomene verbergen sich nicht! So stellt z.B. Helmuth Plessner fest: „Die Geheimnisse der Natur liegen nicht hinter ihr oder in ihr wie geheimer Text in Chiffren versteckt, sie liegen öffentlich zutage.“ („Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.226) – Es kommt nur darauf an, richtig hinzuschauen. Husserl spricht sogar davon, daß erst mit Hilfe der Mathematik ein „Ideenkleid“ über die Phänomene gezogen wurde, das die „‚objektiv wirkliche und wahre‘ Natur“ allererst verschleiert und verbirgt. (Vgl. „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ (3/1996), S.55; vgl. auch meinen Post vom 04.05.2013) Anstatt daß sich die Natur zu verbergen liebt, wird sie verborgen, indem sie durch die Mathematisierung der Naturwissenschaft unserer Anschauung entzogen wird!

Smolin selbst ist übrigens keineswegs für eine völlige Abkehr von der intuitiven Basis des Menschen. Er plädiert für das Befahren flacher Gewässer, die uns den Blick auf den Boden noch gerade so erlauben. (Vgl. Smolin 2014, S.44) Diese intuitive Basis besteht Smolin zufolge darin, daß man am natürlichen Zeitempfinden festhält: „Die Zeit wird sich als der einzige Aspekt unserer Alltagserfahrung erweisen, der wirklich fundamental ist.“ (Smolin 2014, S.34f.)

In diesem Sinne soll die Zeit fundamentaler sein als der mathematisierbare Raum, der im Unterschied zu anderen Sinnesqualitäten wie Geschmack oder Geruch als einziger „direkt mathematisierbar“ ist. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013) Alle angeblich ewig gültigen Naturgesetze bekommen so einen Zeitfaktor. Sie werden zu bloßen Gewohnheiten im Sheldrakeschen Sinne, den Smolin in diesem Zusammenhang allerdings nicht erwähnt. (Vgl. Smolin 2014, S.209)

Smolin argumentiert, daß die zeitliche Starrheit der angeblich universell gültigen Naturgesetze zu unlösbaren Paradoxien führt und Annahmen über die ‚Natur‘ des Universums erzwingt, die nicht falsifizierbar sind. Wenn also starke Annahmen wie die der Zeitlosigkeit zu unwissenschaftlichen Spekulationen verführen, sei es wissenschaftlich vernünftig, auf schwächere Annahmen zurückzugreifen. (Vgl. Smolin 2014, S.155, 177) Und wenn man die Zeit als einen fundamentalen Faktor versteht, bleibt einem auch gar nichts anderes übrig: „Es gibt einen Grund dafür, dass kein mathematischer Gegenstand je eine vollständige Darstellung der Geschichte des Universums liefern wird, nämlich den, dass das Universum eine Eigenschaft besitzt, die keine mathematische Darstellung von ihm haben kann. Hier in der wirklichen Welt ist immer eine bestimmte Zeit, ein bestimmter gegenwärtiger Augenblick. Das ist eine Eigenschaft, die kein mathematischer Gegenstand haben kann, weil mathematische Gegenstände zeitlos sind, sobald sie einmal konstruiert wurden.()“ (Smolin 2014, S.77)

So ist auch die „Theorie der natürlichen Auslese“, die sich mit wesentlich in der Zeit entfaltenden Naturprozessen befaßt, mathematisch nicht modellierbar. (Vgl. Smolin 2014, S.330) Das war übrigens auch der Grund, warum man anfangs Darwins Thesen gegenüber so skeptisch gewesen war. Mit ihnen ließen sich keine Vorhersagen machen. Ohne Vorhersagbarkeit galt eine Theorie aber nicht als wissenschaftlich. Wenn Smolin also von der Notwendigkeit spricht, sich in der Kosmologie schwächeren Theorien als denen der logischen Notwendigkeit zuzuwenden, so ist damit genau dieser Ansatz einer kosmologischen natürlichen Selektion gemeint.

Daß dieser Ansatz nun aber keineswegs zu intuitiv zugänglicheren Konzeptionen des Kosmos führt, habe ich schon im vorangegangenen Post hervorgehoben. Wenn also die Zeit die einzige intuitive Basis von Smolins Konzept bleibt, so ist auch sie kein Garant für Anschaulichkeit. Dabei liegt die moderne Physik eigentlich ziemlich dicht bei der phänomenologischen Einsicht, daß es auf den Beobachter ankommt. Phänomene, die sich zeigen, brauchen Beobachter, die sie zur Kenntnis nehmen. Ohne Beobachter, grundsätzlicher: ohne Subjektivität, keine Phänomene!

Der Beobachterstandpunkt spielt auch in der Relativitätstheorie und in der Quantentheorie eine zentrale Rolle. Einstein hatte seine Relativitätstheorie voll und ganz auf dem Beobachterstandpunkt aufgebaut. Smolin bezeichnet diese Vorgehensweise als Operationalismus: „Wenn man einen operationalen Ansatz in der Wissenschaft verfolgt, stellt man sich nicht die Frage, was wirklich ist, sondern was ein Beobachter beobachten könnte. Die Situierung des Beobachters im Universum muss berücksichtigt werden, einschließlich seines Standpunkts und der Art seiner Bewegung. Dadurch lässt sich die Frage stellen, ob verschiedene Beobachter über das, was sie sehen, übereinstimmen werden.“ (Smolin 2014, S.99)

Die einzige Möglichkeit, festzustellen, ob etwas wirklich ist, besteht darin, daß möglichst viele Beobachter darin übereinstimmen können. Trotz der Fundamentalität des Beobachterstandpunkts führt das allerdings zu keiner Phänomenologie. Oder anders ausgedrückt: sie führt zu einer kontraintuitiven Phänomenologie; wenn man denn bereit ist, in diesem Zusammenhang überhaupt noch von einer Phänomenologie zu sprechen.

Das Kontraintuitive an der Einsteinschen Relativitätstheorie besteht gerade in der Relativität des Beobachterstandpunkts hinsichtlich der Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit. Wenn zwei verschiedene Ereignisse hinreichend weit von den Beobachtern entfernt sind und sie nicht kausal miteinander verknüpft sind, ist es für die Beobachter von ihren verschiedenen Standpunkten aus praktisch unmöglich, zu einer übereinstimmenden Entscheidung darüber zu kommen, ob diese Ereignisse gleichzeitig stattfinden oder nicht. (Vgl. Smolin 2014, S.99f.)

Das Problem der Einsteinschen ‚Phänomenologie‘ besteht darin, daß sie die Wahrnehmung des einzelnen Beobachters entwertet und nur die übereinstimmenden Wahrnehmungen von mehreren Beobachtern berücksichtigt. Mehrere Beobachter können aber von ihren verschiedenen Standpunkten aus nur hinsichtlich kausal miteinander verknüpfter Ereignisse zu übereinstimmenden Wahrnehmungen kommen. Damit wird die Gleichzeitigkeit – und mit der Gleichzeitigkeit auch die Zeit selbst – in der Relativitätstheorie eliminiert, und an ihre Stelle tritt eine mit mathematischen Formeln erfaßbare, wiederum von ihrer eigenen Zeitlichkeit abstrahierte Kausalität: „Wenn man alles, was den Beobachtungen einzelner Beobachter entspricht, anhand der speziellen Relativitätstheorie aus der Beschreibung der Natur entfernt, bleibt die kausale Struktur übrig. Da sie das Einzige ist, was beobachterunabhängig ist, muss sie – wenn die Theorie wahr ist – der physikalischen Wirklichkeit entsprechen.“ (Smolin 2014, S.102)

Einstein selbst war übrigens im hohen Maße unzufrieden mit dieser Eliminierung der Gegenwart als einer bevorzugten, Vergangenheit und Zukunft voneinander trennenden Zeiterfahrung. Seiner Ansicht nach durfte es nicht bei diesem Stand der Theorieentwicklung bleiben, da er eine wesentliche Erfahrung des Menschen im Hier und Jetzt ignoriert: „Einsteins Unbehagen läuft auf eine einfache Erkenntnis hinaus. Um erfolgreich zu sein, muss eine naturwissenschaftliche Theorie uns die Beobachtungen erklären, die wir in der Natur machen. Doch unsere grundlegende Beobachtung ist die, dass die Natur zeitlich organisiert ist. Wenn die Naturwissenschaft eine Geschichte erzählen muss, die alles, was wir in der Natur beobachten, umfasst und erklärt, sollte das nicht auch unser Erleben der Welt als einen Fluss von Augenblicken einschließen? Ist nicht die elementarste Tatsache der Struktur unserer Erfahrung auch ein Teil der Natur, den unsere fundamentale Theorie der Physik widerspiegeln sollte?“ (Smolin 2014, S.142)

Smolins Konzept einer kosmologischen natürlichen Selektion beinhaltet deshalb auch die absolute Gleichzeitigkeit weit von einander entfernter kosmischer Ereignisse: „Das impliziert einen universalen physikalischen Begriff von Gleichzeitigkeit, der entfernte Ereignisse und in der Tat auch das ganze Universum einschließt. Man könnte dies eine ‚bevorzugte globale Zeit‘ nennen (wobei ‚global‘ hier bedeutet, dass die Definition der Zeit sich über das gesamte Universum erstreckt).“ (Smolin 2014, S.230)

Ich sehe mich im Moment nicht in der Lage, dieses Konzept einer bevorzugten globalen Zeit zu bewerten. Es fällt mir schwer, mir in einem dynamischen universellen Prozeß so etwas wie einen „bevorzugten Zustand der Ruhe“ vorzustellen, der Smolin zufolge aus seinem Konzept geschlußfolgert werden müsse. (Vgl. Smolin 2014, S.231) Wenn das aber bedeuten sollte – und da bin ich mir keineswegs sicher –, daß der einzelne Beobachter und seine Wahrnehmungen wieder rehabilitiert werden, wäre das in der Tat eine Rückkehr zu einer echten phänomenologischen Grundeinstellung in der Kosmologie.

Was eine solche Rückkehr zur Phänomenologie betrifft, ist hier noch eine spezielle Variante der Quantentheorie erwähnenswert: die Formdynamik (shape dynamics). Sie will das physikalische Realitätsprinzip nicht an Messungen im Koordinatenkreuz der Raumzeit festmachen, sondern an der phänomenalen Gestalt von Objekten. (Vgl. Smolin 2014, S.234ff.) Beobachter werden bei entfernten Objekten hinsichtlich ihrer genauen räumlichen Anordnung und hinsichtlich ihrer Größenverhältnisse niemals zu einer genauen Übereinstimmung kommen können. Wenn ich in meiner Reichweite eine Maus und eine Schachtel habe und die Maus in die Schachtel hineintun kann, ist es sinnvoll, die Schachtel als größer als die Maus zu beschreiben. Aber in weiten Entfernungen kann ich solche Aussagen über Objekte nicht mehr mit Sicherheit machen. Mit Sicherheit kann ich aber sagen, daß die Maus immer noch wie eine Maus und die Schachtel wie eine Schachtel aussieht: „Was man vergleichen kann, sind die Formen, weil Formen nicht denselben willkürlichen Veränderungen unterliegen.“ (Vgl. Smolin 2014, S.236)

Die Formdynamik nimmt also die Dinge wieder als das, als was sie sich zeigen. Und das ist nun wirklich phänomenologisch!

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Donnerstag, 9. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Als ich meinem Schwager, einem promovierten Physiker, von Lee Smolins Buch erzählte, erwähnte ich zwei alternative Ideen zur Ausdehnung des Universums: die eine faßt das Universum als endlich, aber unbegrenzt, und die andere als begrenzt, aber unendlich. Die Reaktion meines Schwagers war spontan: „Und was passiert an der Grenze? Fällt man da runter?“

Die Reaktion meines Schwagers, der mich sonst mit seiner physikalischen Expertise immer wieder überwältigt und an die Wand drängt, überraschte mich und freute mich zugleich. So intuitiv reagiere normalerweise nur ich auf die Absurditäten der modernen Physik. Es hat etwas von Andersens Märchen: Alle Untertanen sind gehalten, die neuen Kleider ihres nackten Kaisers zu bewundern und damit die eigene Anschauung Lügen zu strafen. Das nennt man dann ‚kontraintuitiv‘. Ein kleines Mädchen muß dann die tatsächlichen Verhältnisse wieder zurechtrücken und rufen: „Aber er hat ja gar keine Kleider an!“ – Und alle schämen sich jetzt und wundern sich, wie sie sich so manipulieren lassen konnten.

Auch Alexander Unzickers Buch „Vom Urknall zum Durchknall. Die absurde Jagd nach der Weltformel“ (2010) hat etwas vom Recht dieser Naivität gegenüber einer naturwissenschaftlichen Attitüde, die wiederum Lee Smolin als einen „Deckmantel“ bezeichnet, unter dem sich Scharlatane und Bauernfänger versammeln. (Vgl. Smolin 2014, S.44) Doch trotz Smolins Plädoyer für das Befahren flacher Gewässer, in denen die Sicht auf den Boden nicht ganz verloren geht, kommt auch er mit seiner alternativen kosmologischen Version um kontraintuitive Formeln nicht herum. Und zu diesen Formeln gehört eben jene eingangs erwähnte Aussage über ein unendliches, aber begrenztes, und über ein endliches, aber unbegrenztes Universum: „Wenn das Universum räumlich nicht geschlossen ist, muss seine räumliche Ausdehnung unendlich sein. Das bedeutet kontraintuitiverweise, dass der Raum eine Grenze hat.“ (Smolin 2014, S.310) – Wer soll das verstehen? Ich jedenfalls zunächst einmal nicht.

Mein Unverständnis hängt mit einer anderen Aussage über das Universum zusammen. Demnach ist das Universum so angeordnet, daß ein Beobachter auf der Erde „die große Mehrheit der Galaxien in jeder Richtung“ von sich wegfliegen sieht. Dazu heißt es weiter: „Darüber hinaus haben wir auch gute Belege dafür, dass die Galaxien gleichförmig im Raum verteilt sind, zumindest wenn man einen Durchschnitt ihrer Positionen über einen hinreichend großen Maßstab bildet – das heißt, das Universum scheint gleich auszusehen, egal in welcher Richtung man es betrachtet. Aus diesen Tatsachen können wir ableiten, dass es an jedem Punkt im Raum einen besonderen Beobachter geben wird, der sieht, wie sich die Galaxien in jeder Richtung mit gleicher Geschwindigkeit von ihm wegbewegen.()“ (Smolin 2014, S.232)

Ich finde beide Aussagen über den Beobachter auf der Erde und über die anderen Beobachter an anderen Stellen im Raum völlig absurd und miteinander unvereinbar. Wenn sich die Galaxien, von verschiedenen Ruhezuständen aus beobachtet, in alle Richtungen wegbewegen, dann bewegt sich jede Galaxie zur gleichen Zeit in verschiedene Richtungen. Denn logischer Weise müßten sich von jenen anderen Beobachtern aus einige Galaxien in Richtung auf den Beobachter auf der Erde zubewegen, während sich dieselben Galaxien, von diesem irdischen Beobachter aus beobachtet, von ihm wegbewegen. Von einer ‚Mehrheit‘ von sich wegbewegenden Galaxien kann also keine Rede sein, wenn es „an jedem Punkt im Raum einen besonderen Beobachter“ gibt, von dem sich einige Galaxien, insgesamt also sehr viele, nicht nur von diesem Beobachter weg, sondern auch auf den irdischen Beobachter zubewegen. Es sei denn, sie befänden sie in einem Quantenzustand, in dem beide Bewegungsrichtungen gleichzeitig gelten könnten.

Ich habe mich lange mit diesen Aussagen herumgequält, bis ich auf die Lösung gekommen bin. Diese Lösung wird aber von Lee Smolin – entgegen seinem Versprechen, daß in seinem Buch alles, was der Leser „wissen muss, um meinen Argumenten zu folgen“, erklärt werde (vgl. Smolin 2014, S.20) – in keiner Weise erklärt. Der Leser muß selbst drauf kommen. In meiner intuitiven Raumauffassung ist der Beobachterraum als eine Grenzlinie zwischen Innen und Außen definiert. Das ‚Innen‘ dieses Raumes bildet zugleich das Zentrum des Außenraumes, der selbst wiederum eine Verschachtelung von Innen- und Außenräumen bildet. Diese Raumauffassung teilt der Beobachter mit allen anderen Beobachtern. Alle Beobachter befinden sich im Zentrum des von ihnen beobachteten Raumes, den sie mit anderen Beobachtern teilen. Das bedeutet aber, daß die von einem besonderen Beobachter beobachteten Prozesse, in denen sich eine große Mehrheit von etwas in alle Richtungen von ihm wegbewegt, von anderen Beobachtern ganz anders wahrgenommen werden müssen. Denn diese anderen Beobachter müssen sich in eine ganz bestimmte, von jenem besonderen Beobachter abhängigen Richtung von ihm wegbewegen. Smolin selbst weist auf diesen besonderen Status jenes Beobachters, von dem sich (mehr oder weniger) alles wegbewegt, hin: „Aber das kann nur für einen Beobachter gelten, weil jemand, der sich schnell von uns weg- und in den Raum hineinbewegt, sehen würde, dass die Galaxien, die vor ihm sind und relativ zu denen er aufholt, sich langsamer bewegen als jene, die er hinter sich lässt.“ (Smolin 2014, S.232)

Dieser bevorzugte Beobachter befände sich also im Zentrum des Universums! Und es können sich wohl kaum alle möglichen Beobachter überall im Zentrum des Universums befinden. Vielmehr wären deren Bewegungen relativ zum Zentrum, in dem sich der bevorzugte Beobachter befindet.

Nehmen wir eine andere Aussage, die mit dieser Raumproblematik zusammenhängt und die mir zunächst ebenfalls als völlig absurd erschien: das Universum dehnt sich seit 13 Milliarden Jahren aus. An einer Stelle in Smolins Buch – eine genaue Zitatangabe kann ich jetzt leider nicht machen – verweist der Autor darauf, daß das Universum eine Ausdehnung von 93 Milliarden Lichtjahren hat. Wie kann das sein? Wenn wir davon ausgehen, daß sich der Urknall im Zentrum einer sich ausdehnenden Inflationsblase befindet, kann das Universum logischerweise nur eine Ausdehnung von maximal 26 Milliarden Lichtjahren haben!

Damit habe ich mich, wie gesagt, längere Zeit herumgeärgert, bis jene kontraintuitive Annahme zur Sprache kam, daß das Universum entweder unendlich, aber begrenzt, oder endlich, aber unbegrenzt sei. Das endliche, aber unbegrenzte Universum ist aber eine Kugel! Und zwar nicht das Kugelinnere, wie es meiner intuitiven Raumauffassung von Innen-Außenverhältnissen entsprechen würde; alle Beobachter befänden sich dann im Inneren der Kugel, und ihre Blicke könnten dann prinzipiell nicht weiter reichen als bis zum alles begrenzenden Firmament der Kugelwölbung. Dann wäre das Kugeluniversum nicht gleichermaßen endlich und unbegrenzt.

Alle Beobachter befinden sich vielmehr auf der Kugeloberfläche. Wir hätten es also nicht mit einem dreidimensionalen Raum mit seinen Innen-Außengrenzen zu tun, sondern mit einem zweidimensionalen Raum. Auf einer sich ausdehnenden Kugeloberfläche kann sich nämlich tatsächlich an jedem beliebigen Punkt die große Mehrheit der Galaxien in ‚alle‘ Richtungen von allen möglichen Beobachtern fortbewegen, weil sie nämlich kein Zentrum hat! Es kann auch möglich sein, daß sie eine Ausdehnung von 93 Milliarden Lichtjahren hat, obwohl der Urknall erst vor 13 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Allerdings haben wir es hier mit einem seltsamen Zwitter zwischen einem dreidimensionalen und einem zweidimensionalen Raum zu tun. Denn der Urknall befände sich dann im inneren Zentrum der dreidimensionalen Kugel, während sich die 93 Milliarden Lichtjahre auf die Ausdehnung der zweidimensionalen Oberfläche beziehen würde. – Es sei denn, eine Kugeloberfläche hat die Eigenschaft, daß sie sich von einem bestimmten Punkt auf ihrer Oberfläche aus, also vom Urknall aus – der dann absurderweise das Zentrum der Kugelobefläche bilden würde –, 13 Milliarden Jahre lang ausdehnen und dabei eine Oberfläche von 93 Milliarden Lichtjahren erreichen kann.

Auch mit der Lesart, daß sich der Begriff des Universums nur auf eine Kugeloberfläche und ihre Zweidimensionalität bezieht, lassen sich also nicht alle kontraintuitiven Absurditäten auflösen; abgesehen davon, daß der ‚Raum‘ eigentlich immer dreidimensional sein sollte und Galaxien, die sich in alle Richtungen fortbewegen, dies nicht nur nach rechts und links, nach vorn und nach hinten tun, sondern eben auch nach oben und nach unten. Die kontraintuitiven Absurditäten, die mit einem unendlichen, aber begrenzten Raum verbunden sind, habe ich dabei noch gar nicht aufgeführt.

Eine der vielen anderen Absurditäten hat damit zu tun, daß angeblich nichts schneller als die Lichtgeschwindigkeit sein kann. Nun hat man aber vor kurzem ‚herausgefunden‘, daß sich das Universum nicht nur ausdehnt, sondern daß sich diese Ausdehnung auch noch beschleunigt: „Eine Folge der exponentiellen Expansion besteht darin, dass Galaxiecluster sich so schnell voneinander trennen, dass sie einander schon bald nicht mehr sehen können. Photonen, die ein Cluster verlassen und sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, sind nicht schnell genug, um die anderen Cluster einzuholen.“ (Smolin 2014, S.314) – Die Galaxiecluster können sich also irgendwann schneller voneinander weg bewegen als die Lichtgeschwindigkeit! Naja, ich gebe zu: vielleicht bewegt sich ja irgendwann alles gleichschnell, eben mit Lichtgeschwindigkeit. Auch dann könnten die Photonen keinen Beobachter woanders im Universum mehr erreichen. Aber wenn sich alles gleich schnell bewegt, bewegt sich gar nichts mehr, relativ gesehen. Smolin bleibt jedenfalls eine nähere Erklärung schuldig.

Das sind aber nur die üblichen kontraintuitiven Absurditäten, mit denen uns das bislang gültige Standardmodell des Universums belästigt. Smolin selbst will ja in seinem Buch ein Alternativmodell präsentieren, das insgesamt intuitiver und außerdem falsifizierbar ist. Seine Theorie der kosmologischen natürlichen Selektion besteht darin, daß wir es nicht mit einer Vielzahl von simultan existierenden, aber mit einander nicht verbundenen Multiversen zu tun haben, sondern mit einer Sequenz von Universen (vgl. Smolin 2014, S.321), die kausal miteinander verbunden sind. Als Modell dient ihm die biologische Evolution: „Die Grundannahme der kosmologischen natürlichen Evolution besteht darin, dass Universen sich durch die Erzeugung neuer Universen innerhalb von schwarzen Löchern fortpflanzen. Unser Universum ist somit ein Nachkomme eines anderen Universums, das in einem seiner schwarzen Löcher geboren wurde, und jedes schwarze Loch in unserem Universum ist der Same für ein neues Universum. Das ist ein Szenario, innerhalb dessen wir das Prinzip der natürlichen Selektion anwenden können.“ (Smolin 2014, S.182)

Aufgrund der evolutionsbiologischen Verknüpfung zwischen diesen Universen müßte es in unserem aktuellen Universum „Überbleibsel()“ der früheren Universen geben, die sich auch nachweisen lassen müßten. (Smolin 2014, S.179) Mögliche Kandidaten für solche Überbleibsel wären Echos von „Kollisionen zwischen den großen schwarzen Löchern“ in den vorangegangenen Universen. (Vgl. Smolin 2014, S.320) Wenn sich solche Echos nicht nachweisen lassen, wäre Smolins Konzept falsifiziert. Diese Falsifizierbarkeit ist Smolin zufolge der große Vorteil seines Konzepts.

Aber Smolins Konzept weist ein großes logisches Defizit auf. Seiner eigenen Definition zufolge bildet das Universum eine Totalität: Es kann nur eins geben! Immer wieder weist Smolin darauf hin. (Vgl.u.a. Smolin 2014, S.25, 152, 284) Es kann also keine Beziehung „zu einer anderen ähnlichen Entität“ haben. (Vgl. Smolin 2014, S.149). Wie kann es also in einer sequentiellen Beziehung zu früheren Universen stehen? Diese Frage wird von Smolin weder gestellt noch beantwortet. Dieses unreflektierte Mix von grundlegenden Definitionen mit ihren einerseits logischen Implikationen und andererseits logischen Brüchen, dieses Durcheinander von intuitiven und kontraintuitiven Annahmen kennzeichnet die ganze Kosmologie. Das ist der Grund, warum ich mich vor einigen Jahren von diesem Bereich der ‚Naturwissenschaft‘ abgewandt habe. Es lohnt das Denken nicht.

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Mittwoch, 8. Oktober 2014

Lee Smolin, Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos, München 2014 (2013)

1. Kosmologische natürliche Selektion
2. Des Kaisers neue Kleider
3. Sich zeigen und sich verbergen
4. Effektive Theorien
5. Mathematik als Platonismus
6. Das Universum als Totalität
7. Informationstheorie statt Physik
8. Ethik

Das Hauptanliegen von Lee Smolins Buch „Im Universum der Zeit“ (2014) besteht darin, das physikalische Weltbild zu korrigieren, dem er vorwirft, die Zeit aus der wissenschaftlichen Naturauffassung ausgetrieben zu haben: „Wir handeln zwar in der Zeit, aber beurteilen unsere Handlungen nach zeitlosen Maßstäben. Infolge dieser Paradoxie leben wir in einem Zustand der Entfremdung von dem, was wir am meisten schätzen. Diese Entfremdung betrifft jede unserer Bestrebungen.“ (Smolin 2014, S.14)

Der erste Teil seins Buches handelt deshalb zunächst auch von der „Austreibung der Zeit“ (Smolin 2014, S.37-137), während es im zweiten Teil um die „Wiedergeburt der Zeit“ (Smolin 2014, S.139-336) geht. In einem Epilog zum „Denken in der Zeit“ (Smolin 2014, S.337-361) befaßt sich Smolin abschließend mit einer wissenschaftlichen Ethik im Rahmen einer durch unverrückbare Fristen (Klimawandel) gekennzeichneten Verantwortung des gegenwärtigen Menschen für die künftigen Lebenschancen seiner Kinder und Enkel.

Die „Austreibung der Zeit“ erinnert an den Titel eines von Friedrich Kittler herausgegebenen Buches: „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ (1980). Kittler pointiert mit diesem Titel ein gegen die Geisteswissenschaften gerichtetes strukturalistisches Programm, gegen das sich wiederum Smolins Versuch richtet, die Zeit wieder zu einem Faktor naturwissenschaftlichen Denkens und Forschens zu machen. Damit liegt Smolin auf einer Linie mit Thomas Nagels ebenfalls in diesem Blog besprochenen Buch „Geist und Kosmos“ (2013), in dem es Nagel darum geht, daß der Geist in naturwissenschaftlichen Theorien als ein immanenter Bestandteil der kosmologischen Entwicklung berücksichtigt werden muß, anstatt ihn entweder einfach wegzuerklären oder in einer späten Phase der biologischen Evolution auf rätselhafte Weise emergieren zu lassen. (Vgl. meine Posts vom 14.12. bis zum 21.12.2013) Bei ‚Zeit‘ und ‚Geist‘ geht es gleichermaßen um grundlegende Intuitionen, die das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen prägen. Smolin meint nämlich keineswegs eine bloß physikalische Zeit, im Sinne einer objektiven Uhrzeit, sondern es geht ihm um eine „Alltagserfahrung“, um eine Erfahrung, die all unser Denken, Empfinden und Tun bestimmt. (Vgl. Smolin 2014, S.11) Die Zeit, die Smolin zum fundamentalen Faktor einer neuen Physik machen will, ist also zunächstmal ein Bewußtseinsphänomen, von dem aus er auf entsprechende Eigenschaften des Universums ‚extrapoliert‘. (Vgl. Smolin 2014, S.360)

Smolin geht davon aus, daß sich die gegenwärtige Kosmologie in einer Krise befindet. (Vgl. Smolin 2014, S.332) Diese Krise besteht darin, daß die aktuellen kosmologischen Theorien „sich auf Dinge beziehen, die jenseits der Reichweite unserer Beobachtungen der Fall sein könnten“. (Vgl. Smolin 2014, S.334) Was aber jenseits der Reichweite unserer Beobachtungen der Fall sein könnte, wie z.B. die Multiversumstheorien des Standardmodells, ist schlichtweg nicht falsifizierbar. Über andere Universen läßt sich zwar hervorragend spekulieren, aber das ist dann auch schon alles. Theorien, die nicht falsifizierbar sind, sind unwissenschaftlich: „... wenn eine Idee nicht anfällig für Falsifikationen ist, ist sie keine Wissenschaft.“ (Smolin 2014, S.200) – Die Krise der Kosmologie besteht also darin, daß sie keine Wissenschaft mehr ist.

Smolin sieht das Grundproblem in der Zeitlosigkeit der wichtigsten physikalischen Paradigmen der Neuzeit und des 20. Jahrhunderts, dem Newtonschen Paradigma, der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und dem aus der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zusammengesetzten Standardmodell der Elementarteilchenphysik: „Jede dieser Theorien teilt die Welt in zwei Teile auf, einen Teil, der sich in der Zeit ändert, und einen zweiten, von dem angenommen wird, dass er fixiert und unveränderlich ist. Der erste Teil ist das System, das untersucht wird und dessen Freiheitsgrade sich in der Zeit verändern. Der zweite Teil ist das übrige Universum; wir können ihn als Hintergrund bezeichnen.“ (Smolin2014, S.157)

Die Vorstellung eines absoluten Hintergrund-Raums (Universum), der sich niemals ändert und dem gegenüber die Zeit bloß emergent und relativ ist, eine Illusion unserer Einbildungskraft (vgl.u.a. Smolin 2014, S.11, 344), hat die Physik aus der Mathematik geerbt. Smolin bezeichnet die Mathematik, die er mit Platons Ideenkosmos verbindet (vgl. Smolin 2014, S.12, 16, 40, 46), als einen „Ausdruck des Glaubens an die zeitlose Vollkommenheit des Himmels“ (Smolin 2014, S.52). Die Mathematik galt im antiken Griechenland als nur auf den Sternenhimmel und auf die Musik anwendbar. Die irdische Sphäre war das Reich des Zufalls und der Unvollkommenheit: „... das irdische Reich ist nicht vollkommen, weshalb es ihnen (den Griechen – DZ) wahrscheinlich sonderbar erschienen wäre, die Bewegungen auf der Erde anhand vollkommener mathematischer Kurven zu beschreiben. Die Aufteilung der Welt in ein irdisches Reich und himmlische Sphären wurde in der aristotelischen Physik kodifiziert.“ (Smolin 2014, S.51)

Das galt so bis ins europäische Mittelalter hinein. Es mußte erst jemand wie Galileo Galilei auf die damals als völlig absurd erscheinende Idee kommen (1564-1641), daß die Mathematik auch auf irdische Verhältnisse anwendbar sei und mit ihr z.B. die Fallgesetze beschrieben werden können. (Vgl. Smolin 2014, S.53f.) Fallgesetze, die dann, wie alle Naturgesetze und wie der Sternenhimmel, zeitlos gültig sein sollten. Insofern naturgesetzlich geregelte Kausalität ihren adäquaten Ausdruck in mathematischen Formeln finden sollte – eine Annahme, die seit Galilei und Newton die Grundlage der Naturauffassung der modernen Physik bildet –, wird Kausalität auf Logik zurückgeführt: „Das Newtonsche Paradigma ersetzt also kausale Prozesse – Prozesse, die sich im Laufe der Zeit vollziehen – durch eine logische Implikation, die zeitlos ist.“ (Smolin 2014, S.94)

Damit waren die beiden Sphären, die Erde und der Himmel, einander gleich gestellt. Was auf der Erde galt, galt auch im Himmel, und was im Himmel galt, galt auch auf der Erde. Die Kopernikanische Revolution, die die Erde auf eine Umlaufbahn um die Sonne versetzte, war vollendet. An die Stelle der menschlichen Intuition, für die bis heute die Sonne am Horizont auf- und untergeht, trat die Mathematik.

Smolin will die menschliche Intuition zumindestens teilweise wieder rehabilitieren. Zwar wimmelt auch seine Version einer Kosmologie, mit der er die Krise der Kosmologie überwinden will, nur so von kontraintuitiven Paradoxien, die einem Nicht-Physiker das Mitdenken enorm erschweren. Aber immerhin soll mit der Wiedereinführung der Zeit als einem fundamentalen kosmologischen Faktor wieder ein Stück weit Boden unter unseren Füßen sichtbar gemacht und so der menschliche Verstand gestärkt werden: „Ohne Gewässer befahren zu haben, die flach genug sind, dass wir den Boden sehen können, werden wir leichte Beute sein für Leute, die uns in die Irre führen und uns radikale metaphysische Fantasien unter dem Deckmantel der Naturwissenschaft verkaufen wollen.“ (Smolin 2014, S.44)

Smolins Alternative zum physikalischen Platonismus ist die „kosmologische natürliche Selektion“, die an die Stelle der üblichen Multiversums-Theorien treten soll. (Vgl. Smolin 2014, S.181ff.) In einer „Reihe von Urknallereignissen“ (Smolin 2014, S.178), die sequentiell aufeinander folgen und kausal miteinander verbunden sind, werden die Universen nach dem Kriterium der Häufigkeit von in ihnen vorkommenden schwarzen Löchern, Sternen und Galaxien selektiert. Deren Häufigkeitsverteilung in einem Universum entscheidet Smolin zufolge über die ‚Fruchtbarkeit‘ eines Universums. Insofern ist unser Universum nicht etwa ein seltenes und unwahrscheinliches Ereignis, sondern eher typisch. (Vgl. Smolin 2014, S.184)

In einem Universum, das in der Zeit evolviert, ist die Zeit fundamental, während die Naturgesetze nur eine Art von Gewohnheiten sind, die sich aufgrund von vermehrt auftretenden Präzedenzfällen herausbilden: „In der angelsächsischen Tradition beruht das Gewohnheitsrecht auf einem Präzedenzprinzip, durch das Richter gehalten sind, so zu urteilen, wie Richter das in der Vergangenheit bei ähnlichen Fällen taten. Was ich vorschlagen möchte, ist, dass etwas Ähnliches auch in der Natur am Werk sein könnte.“ (Smolin 2014, S.209)

Das erinnert an Rupert Sheldrakes morphogenetische Felder (vgl. meine Posts vom 31.01. bis zum 08.02.2013), den Smolin allerdings mit keinem Wort erwähnt. Dabei könnten Sheldrakes morphogenetische Felder einige der Fragen beantworten helfen, die Smolin sich bezüglich einer ‚Natur‘ stellt, die in der Lage ist, Präzedenzfälle zu erkennen und deren Vergangenheit mit der Gegenwart neuer ‚Gewohnheitsrechte‘ wechselwirken zu lassen. (Vgl. Smolin 2014, S.214)

Smolin verzichtet in seinem Buch völlig auf Formeln. Er vertraut auf die Kraft von Argumenten, die auch dem Verstand eines Laien zugänglich sind: „Ich habe versucht, die Argumente dieses Buchs dem Durchschnittsleser ohne spezielles Hintergrundwissen in der Physik oder der Mathematik zugänglich zu machen. Es gibt keine Gleichungen, und alles, was er wissen muss, um meinen Argumenten zu folgen, wird erklärt.“ (Smolin 2014, S.20)

Dieses Vorhaben ist lobenswert, und der Rezensent ist ihm sehr dankbar dafür, auch wenn aus seiner eigenen Leseerfahrung heraus zu konstatieren ist, daß es Smolin leider nicht gelungen ist, durchweg verständlich zu sein. Das liegt zum einen an der Materie: Für Kosmologien gibt es wohl prinzipiell keine intuitive Basis, gleichviel, ob wir nun den Raum absolut setzen oder die Zeit. Deshalb muß für den Rezensenten die Frage, ob die Krise der Kosmologie überhaupt lösbar ist, offenbleiben. Auch nach der Lektüre von Smolins Buch bleibt es für ihn zweifelhaft, inwiefern die Kosmologie überhaupt als eine Wissenschaft gelten darf.

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