„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. August 2014

Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin 2014

(Vorbemerkung: Von Erbe, Sünde und Moderne (S.9-29) / Kapitel 1: Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame de Pompadour (S.31-53) / Kapitel 2: Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen-Dreieck De Maistre – Tschernyschweski – Nietzsche (S.54-74) / Kapitel 3: Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit. Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß nach dem Bruch (S.75-94) / Kapitel 4: Leçons d’histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971 (S.95-221) / Kapitel 5: Das Über-Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen sind (S.222-311) / Kapitel 6: Die große Freisetzung (S.312-481) / Ausblick: Im Delta (S.483-489))

1. Paradoxe Filiationen
2. Verweigertes Scheitern
3. Bloodland-Ethik

Die sieben historischen Episoden, die Peter Sloterdijk in diesem Kapitel zur Diskussion stellt, lassen sich vielleicht am besten als Beispiele für eine mit dem Hiatus der französischen Revolution beginnende, bis heute andauernde Geschichte paradoxer Filiationen (vgl. Sloterdijk 2014, S.77, 120) zusammenfassen. Dabei definiert Sloterdijk „Filiation“ einerseits zwar als „getreue Übergabe() des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nachkommen von Nachkommen“ (vgl. Sloterdijk 2014, S.37f.), spezifiziert das aber noch mal dahingehend, daß diese Übergabe „von Grund auf artifiziell“ ist und ihrem „Wesen“ nach „psychodynamisch-moralisch“ und „juristisch“ (vgl. Sloterdijk 2014, S.189). Damit erteilt Sloterdijk jedem Versuch, den Hiatus durch „pseudobiologisch“ begründete Rassismen (vgl. ebenda) zu kitten, eine klare Absage. Das hindert ihn allerdings nicht daran, einen an der biologischen Evolution orientierten, kulturtheoretischen Lernbegriff aufzustellen. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.28f.)

Paradox sind diese Filiationen, weil einerseits der Traditionsstrang zu den früheren Generationen, den ‚Älteren‘ und ‚Eltern‘, durch die verschiedenen Revolutionen von 1789, 1793, 1871, 1917 und 1933 zunehmend radikaler durchschnitten wurde, so sehr, daß sich eine, aufgrund nachwachsender Generationen, Fortsetzung dieser Revolutionen schließlich auch noch gegen die eigenen, weil notwendigerweise alternden Idole richten mußte: „Ihrer Logik gemäß ist die Revolution mit den Begriffen von Generation und Nachfolge unverträglich.“ (Sloterdijk 2014, S.177).

Zugleich aber haben die verschiedenen Protagonisten von Napoleon bis Lenin immer wieder versucht, ein Erbe zu schaffen, das wie bei Napoleon im Versuch der Gründung einer Familiendynastie bestanden hatte und wie bei Lenin in der Hinterlassung eines schriftlichen Werkes und eines Testamentes, das dann aber von Stalin konsequent ignoriert wurde, ganz zu schweigen davon, daß Lenin Stalin überhaupt nicht als Nachfolger haben wollte: „Will man bei Stalin von einem Leninschen Erbe sprechen, so wäre ein solches nur als mimetische Kompetenz zu deuten: Mit ihrer Hilfe hatte er bei seinem Vorgänger, unter Absehung von inhaltlichen Aspekten der sozialen Entwicklung, das putschistisch-terroristische Verhaltensmuster nachgeahmt.“ (Vgl. Sloterdijk 2014, S.174)

Inwiefern die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in diese Reihe der ‚Revolutionen‘ hineingehört, wird von Sloterdijk nicht ausdrücklich thematisiert. Anfang der 1980er Jahre hatte es immerhin einen Historikerstreit zu der Frage gegeben, inwiefern der Holocaust ein singuläres, also nicht mit anderen historischen Ereignissen wie dem Gulag vergleichbares Phänomen sei. Die historische Schuld der ‚Deutschen‘ sollte nicht durch die Schuld anderer Länder und Völker relativiert werden dürfen. Sie sollte ohne Vorbild sein. Insofern ist es ein Zeichen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben, daß es um Sloterdijks, übrigens gut begründete, Gleichsetzung der Revolutions-‚Ethiken‘ von Lenin und Stalin auf der einen Seite und von Hitler auf der anderen Seite keinen vergleichbaren Aufstand in den Feuilletons gegeben hat. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.184-195)

Auf die Vergleichbarkeit kommunistischer und nationalsozialistischer Revolutionsethiken möchte ich in einem späteren Post zur Bloodland-Ethik noch gesondert eingehen. Was das Scheitern der Filiationen betrifft, um das es mir jetzt vor allem geht, möchte ich aber auf eine andere paradoxe Traditionsbildung verweisen, auf die Sloterdijk bislang nicht eingegangen ist. Ich denke dabei an Adornos neuen kategorischen Imperativ, daß sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe. Auch hier haben wir es mit einem Hiatus zu tun, der alles, was vorher gewesen war, radikal in Frage stellt. Das Paradoxe an dem Auschwitz-Vorbehalt ist die Weitergabe eines Geschichtszeichens an die nachfolgenden Generationen, das zugleich ein Nachahmungsverbot beinhaltet. Um die Differenz und die Affinität dieses paradigmatischen Tabus der Moderne zu den paradoxen Filiationen der französischen Revolution zu klären, bedürfte es einer eigenen Typologie, die Sloterdijk aber, soweit meine Lektüre bislang gediehen ist, schuldig bleibt.

Die Vergleichbarkeit der Dynamik der verschiedenen Stürze „nach vorn“ (vgl. Sloterdijk 2014, S.152) ins „Bodenlose()“ (Sloterdijk 2014, S.157), als die Sloterdijk die Freisetzung von destruktiven Energien beschreibt, ergibt sich ihm zufolge vor allem durch den Umgang der Revolutionäre mit den bisherigen Machthabern (vgl. Sloterdijk 2014, S.95ff., 144ff.) und mit der Opposition bzw. den ‚Konterrevolutionären‘ (vgl. Sloterdijk 2014, S.163ff., 179ff.). Hatte die Hinrichtung von Ludwig XV. noch einen Konflikt zwischen Legitimität und Illegitimität verursacht, den Honoré de Balzac in einer Novelle (1831) an dem Henker beschrieb, der in seiner Person die „Unhaltbarkeit“ spürte, die symbolische Instanz, die sein Amt legitimierte, den König, hinzurichten (vgl. Sloterdijk 2014, S.104), im Dienste einer anderen Instanz, die sich ihre symbolische Legitimität genau durch diesen Akt allererst zu sichern versuchte, so stört sich jener andere, ad hoc ernannte Exekutor der Zarenfamilie mit seinem Exekutionspeloton nicht mehr im geringsten am Fehlen irgendeiner legitimierenden Gerichtsbarkeit. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.156f.)

Zwar hatte sich Lenin ursprünglich an das französische Vorbild der Hinrichtung von Ludwig XV. halten wollen und eigentlich einen Schauprozeß geplant gehabt, war sich dann der Loyalität seines russischen Volkes aber doch nicht sicher gewesen, und er befürchtete, dem Zaren ein Forum zu bieten, das ihm die Möglichkeit gab, die Stimmung im Volk zu seinen Gunsten umzuwenden. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.154) So verzichtete Lenin also auf die „Fiktion“ eines „Gerichtsverfahrens“. An ihre Stelle trat der „politische() Mord als reine Liquidation“ (Sloterdijk 2014, S.159), und die Revolution hatte „endlich auch den Zwang zur Bemühung um Wahrung des legitimen Scheins überwunden“ (Sloterdijk 2014, S.157).

Nicht nur die verschiedenen revolutionären Protagonisten haben immer wieder versucht, im „Hiatus“, wie Sloterdijk es nennt, also im „Bodenlosen“, persönliche, dauerhafte, vererbbare „Eroberung(en)“ zu machen. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.157) Wie das Beispiel der Hinrichtungen von Ludwig XV. und der Zarenfamilie zeigt, versuchten die russischen „Berufsrevolutionäre“, möglichst ‚professionell‘ vorzugehen und ihre Revolution an früheren Vorbildern zu orientieren. Also auch auf der Ebene der Durchführung der Revolution selbst gab es paradoxe Filiationen. Lenins Improvisations-‚Talent‘ zeigt sich zwar letztlich vor allem darin, daß er sich vom französischen Vorbild nicht daran hindern ließ, auf die legitimistische Inszenierung eines Gerichtsverfahrens dann doch zu verzichten. Aber ein anderes Beispiel beeindruckte ihn nachhaltig: die französische Revolution endete mit einem „Thermidor“, wie Sloterdijk es nennt (vgl. Sloterdijk 2014, S.152f.), d.h. die Revolutionärsclique um Robespierre wurde durch gemäßigte politische Kräfte entmachtet.

Die Lehre, die Lenin und später wiederum Stalin daraus zogen, war, daß der Terror nicht rücksichtslos genug ausgeübt werden kann, um auch noch die letzten geistigen und moralischen Widerstandsreserven auszumerzen: „Die Gefahr für die junge Revolution ging nach seiner (Lenins – DZ) Analyse nicht so sehr vom Einsatz terroristischer Mittel und dem Widerwillen der Bourgeoisie aus, sondern von ihrer halbherzigen Anwendung. Seine historische Aufgabe würde der Terror erst in dem Augenblick erfüllen, wenn es niemand mehr wagte, sich gegen ihn aufzulehnen.“ (Sloterdijk 2014, S.152f.)

Während also die Hinrichtung Ludwigs XV. nicht mehr war als eine „szenographische()“ Vorgabe, die Lenin für die Exekution der Zarenfamilie ohne große Probleme frei variieren konnte (vgl. Sloterdijk 2014, S.150), durfte es bei der Ausübung des Terrors keine Spielräume geben. Es ging hier um viel mehr: um die Auslöschung jeder gedanklichen Alternative in den Köpfen und Herzen nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Genossen. Insbesondere Stalin weitete im Zuge der berüchtigten Stalinschen ‚Säuberungen‘ den Terror in diese Richtung aus, mit der Absicht, wie es Sloterdijk beklemmend anschaulich beschreibt, die individuelle Subjektivität in etwas zu verwandeln, das einer Folterzelle gleicht, „in der Tag und Nacht das Licht brennt.“ (Sloterdijk 2014, S.176)

Die eigentliche ‚Präfiguration‘, die die französische Revolution also stiftete und auf paradoxe Weise weitervererbte, war der Terror, mit dem die Revolutionäre mit vollem Bewußtsein alle Brücken der Menschlichkeit hinter sich abbrachen und nun nur noch vorwärts konnten, ob sie wollten oder nicht: vorwärts in den Abgrund. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.165) Im Endeffekt erwies sich dann aber Stalin doch als der historische Tiefpunkt dieses Absturzes. Sein Terror ließ sich nicht mehr überbieten, und es fanden sich keine ‚Nachfolger‘ mehr, ihn – auf welche paradoxe Weise auch immer – zu ‚beerben‘. Es folgte die Entstalinisierung, der russische Thermidor. (Vgl. Sloterdijk 2014, S.178f.)

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