„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 6. Juni 2014

Andreas Bernard, Kinder Machen – Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung, Frankfurt a.M. 2014

(S. Fischer Verlag, 543 S., 24.99 €)

1. Halbierte Kopulation
2. Zum biologischen Ursprung der klassischen Bildungstheorie
3. Der Einfluß des Individuums
4. Konkurrenz oder Symmetrie der Geschlechter?
5. Der Samenspender als Kulturstifter?
6. Selbsteugenisierung
7. Bedrohte Menschlichkeit?

Über mehr als zweitausend Jahre hinweg waren Vorstellungen bezüglich des Beitrages von Frauen und Männern bei der Entstehung menschlichen Lebens von einer wechselseitig sich ausschließenden Konkurrenz geprägt. Aristoteles war der Ansicht gewesen, daß allein der männliche Samen das fruchtbare Moment bilde, während die Frauen nur den Nährboden für die Entwicklung des neuen Menschen beitrügen. (Vgl. Bernard 2014, S.30) Die Kirchenväter gingen dagegen davon aus, daß sich irgendwo im Mutterleib ein kleiner Homunkulus befindet, der durch den männlichen Samen zum Wachstum angeregt wird. In der Neuzeit stritten sich dann „Ovisten“ (von ‚Ei‘) und „Animalkulisten“ (lat. für ‚kleines Tier‘) darüber, ob der Eizelle oder dem Sperma das fruchtbare Prinzip zuzuordnen sei. (Vgl. Bernard 2014, S.36)

Von einer ‚Symmetrie‘ gingen hingegen schon früh Hippokrates und Galen mit ihrem „Zwei-Samen-Modell“ aus, demzufolge weiblicher und männlicher ‚Samen‘ zusammenkommen müssen, um einen Menschen zu erzeugen. (Vgl. Bernard 2014, S.32) Bernard selbst hebt hervor, daß der Streit über den biologischen Vorrang eines bestimmten Geschlechts eng mit kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen einer ökonomischen Arbeitsteilung und dieser Arbeitsteilung entsprechenden Wesensverschiedenheiten zwischen Mann und Frau verbunden ist. (Vgl. Bernard 2014, S.424f.) Insofern bildet seine eigene Auffassung von einer völligen biologischen Gleichwertigkeit der Beiträge beider Geschlechter zur Entstehung menschlichen Lebens einen Erkenntnisfortschritt, der in der Neuzeit, so Bernard, mit Regnier de Graafs „Neue Abhandlung über die Zeugungsorgane der Frauen“ (1672) und mit Antoni van Leeuwenhoeks im Anschluß an de Graafs Abhandlung vorgenommenen Untersuchungen zur Samenflüssigkeit begonnen habe, obwohl Bernard zufolge Leeuwenhoek selbst die eigentliche Bedeutung seiner Forschungsergebnisse noch nicht begriffen hatte und weiterhin von einer Verschiedenheit der männlichen und weiblichen ‚Zeugungsstoffe‘ ausgegangen war. (Vgl. Bernard 1672, S.31 und 33f.)

Das Problem bei Bernards Beharren auf der Symmetrie und Gleichwertigkeit des Beitrags beider Geschlechter ist, daß das nur für eine bestimmte Betrachtungsebene gilt. Genau gleichwertig ist der Beitrag nämlich nur auf der Ebene des Chromosomensatzes, also des „Kern(s) des Kerns“ (Bernard 2014, S.74): „Mann und Frau sind an diesem Vorgang gleichermaßen beteiligt, mit einem Satz von jeweils 23 Chromosomen in der Sperma- und Eizelle.“ (Bernard 2014, S.73) – Interessant ist dabei auch, daß Bernard die Evidenz dieses Faktums mit einem  „Blick auf den Bildschirm“ beschreibt, der sich „neben dem ICSI-Mikroskop“ befindet. Wir haben es bei dieser ‚Evidenz‘ also mit einer Interface-Phänomenologie zu tun, der Bernard „unwiderlegliche Gesetzeskraft“ zuspricht. (Vgl. Bernard 2014, S.73)

Die Fokussierung des Mikroskops auf den Zellkern führt aber zu einer Blickeinschränkung, zu einer Einschränkung der Wahrnehmung, die durch die Kombination des Mikroskops mit dem Bildschirm verschleiert wird, weil der Bildschirm eine Sichtbarkeit suggeriert, die die mit dieser Fokussierung einhergehende Unsichtbarkeit des übrigen Zellgeschehens, des Zytoplasmas, vergessen macht. Die Dynamik und die Bedeutung des Zytoplasmas wird inzwischen, analog zum ‚Genom‘, mit dem Begriff des ‚Proteoms‘ zum Ausdruck gebracht. Proteine setzen die genetischen Informationen des Genoms in Lebensprozesse um. Von diesen Proteinen gibt es tausende, und der Gesamtzustand einer Zelle, die Zusammensetzung ihrer Proteine, verändert sich sekündlich und minütlich. Kurz: das Proteom meint die Zelle bzw. das Zellplasma, das ausschließlich von der Frau beigesteuert wird; das Genom meint bloß die 23 Chromosomen, die von beiden Geschlechtern, Mann und Frau, gleichermaßen beigesteuert werden. Die Chromosomen aber liefern nur tote Informationen, die erst von den Proteinen ausgelesen werden müssen. Erst mit Bezug auf diesen Prozeß der Dechiffrierung können wir von Leben reden.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Bernards Behauptung, daß beide Geschlechter einen völlig symmetrischen, gleichwertigen Beitrag zur Entstehung menschlichen Lebens liefern, dann doch nicht so fortschrittlich. Hinzu kommt, daß er seine Behauptung nicht auf die 23 Chromosomen beschränkt. Er bewegt sich dabei immer wieder von dieser äußersten Reduktion – die einzige Ebene wo seine Behauptung zutrifft – weg und spricht von einem die „Empfängnis“ ermöglichenden „gleichwertige(n) Zutun zweier Arten von Zellen“. (Vgl. Bernard 2014, S.34) Die weibliche Eizelle ‚tut‘ aber, wie eben beschrieben, mehr, als nur, wie die ‚Samenzelle‘, 23 Chromosomen beizusteuern. Bernard spricht auch vom  „gleichberechtigte(n) Anteil der Geschlechter an der Zeugung“. (Vgl. Bernard 2014, S.44) Diese Formulierung überschreitet noch einmal die Zellebene in Richtung auf den weiblichen und männlichen Körper. Wenn wir hier an die weiblichen Zyklen der Eizellproduktion denken, wird deutlich, daß auch hier der weibliche Anteil wesentlich größer ist als der männliche.

Hinzu kommen die durch die Schwangerschaft erzeugten körperlichen Veränderungen, so daß der Supreme Court (USA; 1990) die junge Mutter sogar zu einem „neue(n) Rechtssubjekt“ erklärt, das an vor der Schwangerschaft gemachte Vereinbarungen bezüglich des geplanten Kindes nicht gebunden ist. (Vgl. Bernard 2014, S.271)

An anderer Stelle bezeichnet Bernard sogar „Mutterschaft“ und „Vaterschaft“ als „symmetrisch zueinander“. (Vgl. Bernard 2014, S.267) Wenn wir an die kulturelle und gesellschaftliche Arbeitsteilung denken, zeigt sich, daß nach wie vor die Hauptlast der ‚gemeinsamen‘ Elternschaft von der Frau getragen wird und nicht vom Mann. Das gilt erst recht, wenn man die ganze menschliche Geschichte mit einbezieht. Georg Reischel hat diese Zusammenhänge in seinem Reproduktionsblog ausführlich diskutiert.

Anscheinend ist sich aber Bernard selbst gar nicht so sicher, ob seine Beteuerungen wirklich zutreffen. Und er will sich dabei wohl auch nicht nur auf die beidseitig beigesteuerten 23 Chromosomen beschränken. Jedenfalls spricht er an einer Stelle, um seine Behauptung zu belegen, auch von einer „Symmetrie der Kräfte“, die er ausdrücklich den Keimzellen, also nicht bloß ihren Kernen zuspricht: „Dass ein bestimmtes Spermium sich an die Eizelle bindet und durch sie hindurch in das Zytoplasma gelangt, hängt den Aufnahmen der präzisesten Rasterelektronen-Mikroskope zufolge sowohl an der mechanischen und enzymatischen Kraft des Spermienkopfes als auch an den Fasern der Zona pellucida. ‚Die Spermatozoen‘, heißt es in einer großen Studie zum Befruchtungsprozess von 2008, werden ‚von den perlschnurartigen, extrazellulären Fibrillen des Zonamaterials umschlossen und in die Zona integriert‘.()“ (Bernard 2014, S.424)

Auch hier wird noch einmal deutlich, wie sehr solche Aussagen von den Begriffen abhängen, die man benutzt. Wie es um die „mechanische() und enzymatische() Kraft des Spermienkopfes“ bestellt ist, kann ich als Laie nicht beurteilen. Aber es gibt andere Begriffe, wie z.B. den „Befruchtungshügel“, den die Eizelle dem ‚Spermienkopf‘ entgegenwachsen läßt, um ihn gewissermaßen ‚willkommen‘ zu heißen und ihn in sich aufzunehmen. Ist die Eizelle hier nun aktiv oder ist es das Spermium mit seiner enzymatischen Kraft, die das Wachsen des Befruchtungshügels provoziert? Einen noch ganz anderen Blickwinkel beinhaltet der Begriff der ‚Phagozytose‘. Wörtlich übersetzt heißt das: die Eizelle frißt den Samen.

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