„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 25. Juni 2014

Al Gore, Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern, München 2014

(Siedler Verlag, 624 S., 26.99 €)

(Einleitung, S.11-31; Die Welt AG, S.35-76; Das Weltgehirn, S.81-131; Machtfragen, S.135-193; Auswüchse, S.197-272; Die Neuerfindung von Leben und Tod, 277-370; Am Abgrund, S.375-476; Schluss, S.479-496)

1. Unternehmenspersonen
2. Die Natur des Menschen
3. Die „Weisheit der Menge“
4. Geschichtsverläufe

Inzwischen verstehe ich besser, wie Al Gore einige zentrale Begriffe verwendet, also etwa den der ‚Nachhaltigkeit‘ oder den des ‚demokratischen Kapitalismus‘. Wenn Gore vom ‚nachhaltigen‘ Wirtschaftswachstum spricht, ist nicht etwa ein Wirtschaftswachstum gemeint, das sich im Gleichgewicht mit den Ressourcen unseres Planeten befindet. Das wäre ein begriffliches Monstrum. (Vgl. meinen Post vom 15.06.2014)

Was eigentlich mit einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum gemeint ist, wird an einer Stelle deutlich, wo es um die „Nachhaltigkeit von Chinas gegenwärtigem wirtschaftlichem Aufstieg“ geht. (Vgl. Gore 2014, S.147) Auch hier ist nicht Chinas Umgang mit seinen Ressourcen gemeint. Tatsächlich ist mit ‚Nachhaltigkeit‘ vor allem ‚Stabilität‘ gemeint, also die Frage, wie anhaltend und stabil das chinesische Wirtschaftswachstum ist. Letztlich wird also das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ überhaupt nicht im ökologischen Sinne gebraucht; es hat hier überhaupt keine ökologische Bedeutung und es handelt sich deshalb dabei auch um ein ganz anderes Wort. – Erst in dem Kapitel zu den ‚Auswüchsen‘ des Wirtschaftswachstums wird dann das Wort ‚Nachhaltigkeit‘ im ursprünglichen ökologischen Sinne verwendet werden. (Vgl. Gore 2014, S.197-272)

Auch der Begriff ‚nachhaltiger Kapitalismus‘ (vgl. meinen Post vom 20.06.2014) hat bei Gore eine besondere Bedeutung. Hier geht es weniger um einen ‚stabilen‘ Kapitalismus, als vielmehr um eine „Ideologie des demokratischen Kapitalismus“. (Vgl. Gore 2014, S.142) Gore verwendet den Begriff der ‚Ideologie‘ ganz wertfrei; gemeint ist eher so etwas wie eine ‚Philosophie‘, die Gore mit der Vorstellung von einer „Weisheit der Menge“ verbindet. (Vgl. Gore 2014, S.143) Dazu gehört auch ein nicht-ökonomischer Begriff von der „Mittelschicht“, die, anders als ich es bisher verstanden habe (vgl. meinen Post vom 20.06.2014), bei Gore vor allem eine ethische Bedeutung hat. Gore spricht der Mittelschicht, insbesondere der global vernetzten, trotz ihrer derzeitigen Ausdünnung in den ‚Industrienationen‘ weltweit wachsenden Mittelschicht, ein ethisches Gesamtbewußtsein zu. Er zitiert aus einem Bericht des European Strategy and Policy Analysis System (ESPAS): „Dieses Bewusstsein entwickelt bereits eine weltbürgerliche Tagesordnung, die grundlegende Freiheiten ebenso hervorhebt wie wirtschaftliche und soziale Rechte und – in zunehmendem Umfang – Umweltfragen.“ (Gore 2014, S.192)

Dabei beruft sich Gore auf die geschichtlichen Erfahrungen mit einer bürgerlichen Mittelschicht, die sich immer schon mehr um ethische Fragen gekümmert habe als die ‚Unterschicht‘. (Vgl. Gore 2014, S.191f.) Als ein besonders wichtiges Moment für ein solches gesamtplanetarisches Engagement der Mittelschicht nennt Gore das individuelle Gewissen, das die von ihm geleiteten Menschen dazu drängt, „Exzesse“ des Kapitalismus „durch die Einführung von Standards und Grundsätzen“ einzudämmen und für die Respektierung „menschliche(r) Werte“ einzutreten. (Vgl. Gore 2014, S.193)

Nimmt man alles zusammen, was Gore zur „Weisheit der Menge“ schreibt, als einer von „freiem Informationsfluss“ gespeisten, „versammelten Weisheit“, die wiederum wie eine „unsichtbare Hand“ Angebot und Nachfrage reguliert (vgl. Gore 2014, S.151) und die vor der Manipulation durch mächtige Sonderinteressen wie den Wirtschaftsunternehmen geschützt werden muß, so erinnert das sehr an das, was die Komplexitätsforschung zur ‚Schwarmintelligenz‘ über die Intelligenz von Gruppen herausgefunden hat. (Vgl. meinen Post vom 04.08.2011) Len Fischer (2010) differenziert zwischen „Gruppendenke“ und echter „Gruppenintelligenz“. Gruppendenke entsteht immer dort, wo der Gruppenzwang das individuelle Urteil beeinflußt. Wenn ein Meinungsführer die anderen Gruppenmitglieder dazu überredet, sich seiner Meinung anzuschließen, trifft die Gruppe immer schlechte Entscheidungen, also Entscheidungen, die ihr oder anderen schaden. Das ist natürlich auch dort der Fall, wo Wirtschaftsunternehmer Politiker mithilfe von Geldspenden kaufen und wo die Wähler durch ebenfalls gekaufte Fernsehsendungen daran gehindert werden, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Gruppenintelligenz hingegen entsteht dort, wo alle Fakten und Informationen frei diskutiert werden können und die individuelle Meinung respektiert wird. Von solchen Gruppen getroffene Entscheidungen sind meistens richtiger, ‚intelligenter‘, als individuell getroffene, isolierte Entscheidungen. Die Basis der Gruppenintelligenz ist also das individuelle Urteil bzw. das ‚Gewissen‘, von dem Gore spricht. Dieses individuelle Gewissen wiederum kann sein Potential nur in sozialen Situationen, in ‚Gruppen‘, wirklich voll entfalten.

Gore will anscheinend mit seiner „Ideologie des demokratischen Kapitalismus“ auf so eine soziale Intelligenz hinaus, und da habe ich letztlich nichts gegen einzuwenden, auch wenn ich mich frage, was das Wort „Kapitalismus“ in diesem Zusammenhang zu suchen hat.

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