„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 23. Mai 2014

Anton Fischer, Natur und Kultur in der Literatur nach Claude Lévi-Strauss. II, Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald, Leipzig/Norderstedt 2014

(Leipziger Universitätsverlag/Anne Fischer Verlag, 270 S., 22.00 €)

Anton Fischer hat in den Jahren von 2002 bis 2007 fünf Bücher zu Claude Lévi-Strauss geschrieben und im Anschluß dessen an ethnologischen Studien entwickelten Strukturalismus in zwei Monographien zu Robert Walsers Räuberroman (2011) und zu Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (2014) auf die Literaturwissenschaft übertragen. Mit dem letzten Band zu Ödön von Horváth befasse ich mich in meinem aktuellen Post.

Analog zu den strukturellen Verwandtschaftssystemen der von Lévi-Strauss beschriebenen Ethnien prägt Fischer den Begriff der „textimmanenten Gesellschaft“. (Vgl. Fischer 2014, S.6, Rückseite des Widmungsblattes) Das bestätigt meine Vermutung, daß Hermeneutik und Strukturalismus zwei eng ‚verwandte‘ Methodiken bilden und insofern die Philologie und die Literaturwissenschaft für ein strukturalistisches Vorgehen besonders geeignet sind. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2014)

Bevor ich auf Anton Fischers Vorgehen näher eingehe, möchte ich kurz noch auf Lévi-Strauss zu sprechen kommen. (Vgl. hierzu auch meine Posts vom 18.05. bis 22.05.2013) Die von Lévi-Strauss beschriebenen ‚primitiven‘ Kulturen organisieren ihr Leben in zwei synchronen Reihen: den Naturereignissen als der primären Reihe und den kulturellen Ereignissen als der davon abhängigen Reihe. Ereignisse der primären Reihe werden auf Ereignisse der abhängigen kulturellen Reihe bezogen und als „Nachrichten“ aufgefaßt, die dem Eingeweihten mitteilen, wie er sich zu den Ereignissen der kulturellen Reihe zu verhalten hat.

Die Dominanz der Naturreihe ist aber nur eine scheinbare und verschleiert die eigentliche Dominanz der kulturellen Reihe. Denn wie kommt es zu der Verknüpfung von Ereignissen aus der Naturreihe mit den kulturellen Ereignissen? Es muß allererst ein kulturelles Ereignis vorliegen, auch wenn es möglicherweise nur unterschwellig und noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Ein durch eine Mythologie begründetes Klassifikationssystem legt fest, welche Naturereignisse als Nachrichten an die jeweiligen Angehörigen eines Clans oder einer Ethnie in Frage kommen. Sowohl das Klassifikationssystem als auch der Empfang einer Nachricht durch so einen Eingeweihten sind im hohen Maß durch Zufälligkeit und Willkür bestimmt. So beschreibt Lévi-Strauss z.B., wie eine bestimmte Spechtart mal wegen ihres Interesses an Baumhöhlen, mal wegen ihres roten Kopfputzes, mal wegen ihres triumphalen Gesangs, mal einfach aufgrund der schlichten Tatsache, daß man niemals Federn dieser Spechtart unter den Überbleibseln von Raubvogelmahlzeiten gefunden hat, mit den unterschiedlichsten Bedeutungen belegt wird. (Vgl. „Das wilde Denken“ (1973/1962)‚ S.70f.)

Zu dieser Beliebigkeit der Bedeutungszuweisung kommt noch die Willkür des Empfängers, z.B. einer schwangeren Frau, deren Blick im Vorübergehen auf eine am Wegrand liegende Melone fällt und die sie in Verbindung mit ihrem ungeborenen Kind bringt, dessen künftiger Speiseplan nun durch diese durch den Blick der Mutter gestiftete Zufallsverwandtschaft mit der Melone bestimmt sein wird. (Vgl. „Das wilde Denken“ (1973/1962)‚ S.93)

Die scheinbare Dominanz der Naturreihe ist also eigentlich einer Dominanz der assoziativen Einbildungskraft der Menschen geschuldet, deren Leben durch eine bestimmte Mythologie bestimmt wird. Der Strukturalismus steht für ein Denken, das auf eine spezifische Weise bei den Dingen – der Naturreihe – ist. Kant hatte mit seiner transzendentalen Apperzeption die Bewußtheit unserer Wahrnehmungen und Empfindungen daran festgemacht, daß wir sie mit einem „Ich denke“ begleiten können müssen. Dieses „Ich denke“ ist noch weltlos, also ‚rein‘. Der Phänomenologe richtet dieses Denken mit seinen Meditationen auf bestimmte Wahrnehmungen bzw. Phänomene und füllt es auf diese Weise mit Inhalten. Wir haben es nicht mehr nur mit einem reinen „Ich denke“, sondern mit einem „etwas Denken“ zu tun. Dieses Denken bleibt bei den Phänomenen und ihren Sichtbarkeiten. Auch die hinter diesen Sichtbarkeiten verborgenen Rückseiten sind immer noch der Perspektive auf die Dinge geschuldet. Verborgenes und Sichtbares bleiben über eine gemeinsame Grenze, den Horizont, miteinander vermittelt.

Der Strukturalist hingegen denkt sich bei den Dingen nicht mehr ‚etwas‘, sondern ‚etwas anderes‘. Es kommt weder dem Strukturalisten noch dem in eine bestimmte Mythologie Eingeweihten auf den Specht oder auf die Melone als solche an. Ihn interessiert ausschließlich, was ihm der Specht bzw. die Melone über bestimmte kulturelle Ereignisse mitzuteilen haben.

Um den Strukturalismus sinnvoll anwenden zu können, bedarf es also immer einer ‚Mythologie‘, eines Codes, der uns hilft, einen bestimmten ‚Text‘ zu entschlüsseln. Genau deshalb ist der Strukturalismus so brauchbar, wenn es um literaturwissenschaftliche Exegese geht. Anton Fischer entlehnt den Code für seine Analysen zu Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ ebenfalls der Lévi-Straussischen Perspektive auf die menschliche Kultur als einer, die vom Untergang bedroht ist: „Der Untergang von Natur und Kultur stellt sich als dialektischer Wechselschritt dar: Die Kultur (Zivilisation) richtet die Natur zugrunde; da der kulturelle Mensch aber selbst ein biologisches, mithin natürliches Lebewesen ist, geht er mit der, von seiner Kultur zerstörten, Natur selbst zugrunde, vernichtet sich also mit der Errichtung der Kultur, da diese die Natur zerstört, mittelbar selbst, da die letzte – zerstört – ihn als Anhängenden mit in den Abgrund reißt.“ (Fischer 2014, S.10)

Wir haben es also wieder mit den zwei Reihen zu tun, Natur und Kultur, und beide hängen aneinander, diesmal nicht bloß über die Kraft unserer Assoziationen, sondern über die Biologie: „Der Mensch braucht sowohl die Natur als auch die Kultur, um existieren zu können, da er ein ‚biologisches Wesen‘ und ein ‚gesellschaftliches Individuum‘ ... zugleich ist.“ (Fischer 2014, S.268) – Das Individuum selbst, das wir als solches in unseren phänomenologischen Blick nehmen müßten, kommt nur als Bestandteil der ersten beiden Entwicklungslinien vor und bildet hier keine eigene Entwicklungslinie: „Das menschliche Individuum hat an sich keinen höheren Wert als ‚eine Tier- und Pflanzenart‘.“ (Fischer 2014, S.268)

Der strukturalistische Blick ist auf Artensysteme fixiert, weil er von ihnen seine Klassifikationsmerkmale bezieht. Diese Fixierung bildet zugleich ein grundsätzliches Moment literaturwissenschaftlicher Analysen. Das professionelle Lesen und Interpretieren eines Textes interessiert sich nicht für die im Text beschriebenen Vorkommnisse in ihrer bildhaften Vordergründigkeit. Letzteres bleibt dem naiven Leser überlassen, der einen spannenden Text wie einen Film vor seinem inneren Auge ablaufen läßt, indem er die beschriebenen Ereignisse in all ihrer Farbigkeit und Dynamik gewissermaßen ‚halluziniert‘.

Die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ werden von Fischer nicht in ihrem regionalen und zeithistorischen Kontext verortet, sondern in einen übergreifenden menschheitlichen Kontext gestellt, in dem der Untergang der K.u.K.-Monarchie mit dem Untergang der Indianer parallelisiert wird (vgl. Fischer 2014, S.268), als ein weiteres Moment des allgemeinen Untergangs der menschlichen Spezies (vgl. Fischer 2014, S.70).

Zum strukturellen Desinteresse an den Individuen trägt auch der Artbegriff bei. Der ‚Mensch‘ wird nicht als Individuum definiert, sondern über seinen Bezug zum Tier als dem Nicht-Menschlichen: „‚Denn“ – so zitiert Fischer einen Rittmeister aus den „Wiener Wald“ – „es läuft ja auf ein und dasselbe hinaus, wenn der Mensch erst die Grenze seiner Vorrechte zwischen sich und den anderen Arten zieht und dann diese Grenze ins Innere der eigenen Spezies verschiebt, bestimmte Kategorien als allein wahrhaft menschlich anerkennt, im Unterschied zu anderen Kategorien‘.“ (Fischer 2014, S.269)

Mit dieser Strategie der Abgrenzung sondert sich der Mensch, so stellt der Rittmeister fest, letztlich nicht nur von den Tieren ab, sondern auch von seinen Mitmenschen. Und es ist genau diese Strategie der abgrenzenden Entgegensetzung, die Lévi-Strauss zufolge Biologie und Kulturgeschichte der Menschheit bestimmt. (Vgl. meinen Post vom 19.05.2013)

Diese Folie bzw. diesen Code legt Anton Fischer also über Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, und er schlendert, wie jene schwangere Frau an der Melone, an den verschiedenen Sätzen und Satzteilen vorbei, um sie als Nachrichten über den Untergang der Menschheit zu deuten. So wird der Leser schon gleich zu Beginn im ersten Kapitel mit dem ersten Zitat aus dem „Wiener Wald“ und seiner Deutung auf den Fortgang der Fischerschen Textexegese eingestimmt: „,Vor einem Häuschen am Fuße einer Burgruine. Alfred sitzt im Freien und verzehrt mit gesegnetem Appetit Brot, Butter und sauere Milch – seine Mutter bringt ihm gerade ein schärferes Messer.‘“ (Fischer 2014, S.11)

Nichts in dieser Szene nimmt Anton Fischer einfach so, wie es sich gibt, als Genuß und als Appetit, sondern jedes Element steht für etwas anderes. Das Essen, als „Aufhebung des Hungers“, steht, weil es den „Hungertod“ vermeidet, für die Vermeidung des „Untergang(s) der Natur“. Die Burgruine dagegen steht für den „Untergang der Kultur“. (Vgl. Fischer 2014, S.11) Die zubereitete Mahlzeit steht als „Küche“ für den „Übergang von der Natur zur Kultur“. Die „Sauere Milch“ steht als Moment der Verderblichkeit von Speisen für das „Unterbleiben der Küche“, „so daß die ‚sauere Milch‘ weder kulturell noch natürlich ist und damit sowohl natürlich als auch kulturell im Untergang begriffen ist.“ (Vgl. Fischer 2014, S.12) Das „Messer“, das die Mutter bringt, „kann eine Waffe sein, als Instrument der Kultur kann es auch die Natur zerstören“. (Vgl. Fischer 2014, S.13) So wird das Messer zum „Zeichen des Fortschritts“, und der Hinweis auf seine Schärfe ist zugleich ein Hinweis auf das „Zerstörerische, In-Intervalle-Teilende der Kultur“. (Vgl. ebenda)

Wenn wir dabei an Lévi-Straussens Artbegriff denken, verweist das ‚Messer‘ auf das Trennende zwischen Mensch und Tier und zwischen Mensch und Mensch, so daß für die von Alfred eingenommene Mahlzeit nichts Göttliches mehr übrigbleibt. Keine Kommunion, nirgends. Alfreds Mahlzeit steht vielmehr für den „egoistische(n) Einschnitt eines Menschen, der seine Interessen befriedigt. Es handelt sich also um einen Humanismus, der das Ego an die erste Stelle setzt.“ (Vgl. Fischer 2014, S.13)

Anton Fischers strukturalistische Lektüre der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ermöglicht eine Aktualisierung ihres Bedeutungsbestands, so daß die aus den 1920er Jahren stammenden Geschichten nicht im zeitgenössischen Kontext verhaftet bleiben und eventuell mit dem Zeitenlauf veralten. Das ist die Stärke seines Ansatzes. So bindet Fischer die Geschichten in eine evolutionäre Dynamik ein, und sie geben uns möglicherweise mehr zu denken, als wenn wir nur naiv dem Erzählzusammenhang verhaftet blieben. Die einzige Verbindlichkeit, die der Text dem professionellen Leser noch auferlegt, besteht darin, daß er sich lesend von ihm in seinem Denken motivieren läßt.

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Donnerstag, 22. Mai 2014

Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014

(Klett-Cotta, Tropen Sachbuch, 184 S., 17.95 €)

1. Kultur, Verantwortung, Genuß
2. Vom Terror des Bildes
3. Menschen und Märkte

Ariadne von Schirach lockert ihre philosophischen Betrachtungen mit zahlreichen erfundenen Portraits und fingierten Lebensläufen von Menschen auf, die sich entweder dem digitalen Mainstream stromlinienförmig anzupassen versuchen oder die sich ihre eigenen kleinen Widerstandsräume schaffen, in denen sie sich gelassen ihren persönlichen Unvollkommenheiten stellen, um sich mit ihnen nicht einfach nur abzufinden, sondern um das zu sein, was sie sind.

Dabei fällt vor allem auf, daß von Schirach an einer „Idee vom Menschen“ (von Schirach 2014, S.173) festhält, der noch wählen kann (vgl. von Schirach 214, S.17 und 125). Von Schirach glaubt an eine Freiheit der Wahl, die weder durch Neurophysiologie – obwohl der einzige wirklich ärgerliche Satz in ihrem Buch mit den Worten beginnt: „Neurowissenschaftler haben nachgewiesen ...“ (von Schirach 2014, S.162) – noch durch die Psychologie wegerzählt werden kann. Dem „psychologisch total auserzählten Menschen“ (von Schirach 2014, S.128) wird kein Geheimnis mehr zugestanden. Alles Menschliche wird mit einem „Netz aus Erklärungsmodellen“ (von Schirach 2014, S.78) überzogen, weil wir es nicht ertragen können, uns selbst nicht zu verstehen. Aber unter all diesem Erklärungszwang geht die Freiheit der Wahl verloren, weil keine Wahl, die wir treffen, mehr unbegründet bleiben darf. Weil nichts einfach so „um des Guten willen“ geschehen darf, „das keine andere Begründung braucht“. (Vgl. von Schirach 2014, S.178) – Eine schöne Definition des Guten übrigens: ‚gut‘ ist, was der Begründung nicht bedarf.

Von Schirach zufolge besteht die Freiheit der Wahl in eben dieser Undurchschaubarkeit des Menschen für andere und für sich selbst: „Ein freier Mensch ist unbestimmbar.“ (von Schirach 2014, S.135; (vgl. auch S.63) Letztlich geht es, wie in Plessners Seele, nicht um das, was sich zeigt, sondern um das, was sich im Zeigen verbirgt.

Es ist wirklich erfreulich, wenn wieder vom Menschen nicht nur die Rede sein darf, sondern auch soll, und wenn sich dieses Wortes nicht nur die Politiker in ihren Regierungserklärungen bedienen. Ich bin sie so leid, diese ach so wissenschaftlichen Experten alias Friedrich Kittler, Niklas Luhmann etc., die sich im Verabschieden und Totreden des Menschen nicht genug tun können! Dabei ist es so einfach und klar, wem sie das Wort reden, wenn sie sich dem Humanismus verweigern: den Märkten und dem Geld.

Auch von Schirach weiß vom Wertverlust, allem voran der Würde, wenn alles einen Preis hat und dadurch vergleichbar wird:  „Deshalb ist der Marktwert, also der Preis einer Sache, immer relativ – während menschliche Werte als absolute Werte, also Werte an sich definiert und gesetzt werden müssen. ... weil Marktnormen dabei andere Normen verdrängen. Oder besser gesagt: andere Normen korrumpieren.“ (von Schirach 2014, S.13f.)

Das ist exakt der von Habermas beschriebene Tatbestand einer durchgehenden Kolonialisierung unserer Lebenswelten durch die Systemimperative der Macht und der Bürokratie; oder noch deutlicher auf den Punkt gebracht: der „Preis des Geldes“. (Vgl. meine Posts vom 09.11. bis 22.12.2012) Ähnlich wie Frank Engster beschreibt von Schirach den Preis als das Errechnen von Durchschnittswerten, als eine „blitzschnell kalkulierte() Kosten-Nutzen-Rechnung“, der das Denken des Menschen mit seiner ganzen Körperschwere nicht zu folgen vermag. (Vgl. von Schirach 2014, S.15; vgl. auch meine Posts vom 15.02. bis 25.03.2014) Zwar versuchen wir uns diesem auf „Profit“ angelegten Geldvermehrungsdogma durch „unablässige() Selbstoptimierung“ anzupassen (vgl. von Schirach 2014, S.16), indem wir als „Unternehmer“ unsrer selbst (vgl. von Schirach 2014, S.17) unser „Humankapital“ entwickeln und vermehren (vgl. von Schirach 2014, S.23; vgl. auch meine Posts vom 16.08. bis 23.08.2013), aber: „So brauchbar diese Überlegungen vielleicht beim Schrotthandel sein mögen, so falsch erscheinen sie, wenn es um die Natur, uns Menschen oder unsere kulturellen und sozialen Institutionen geht.“ (von Schirach 2014, S.15)

Durchdringen die monetären Systemimperative der Ökonomie auch unsere privatesten und intimsten Lebensverhältnisse, so von Schirach, „verschwinden die Liebe und Achtsamkeit des Gebens“. (Vgl. von Schirach 2014, S.14) Mit der „Liebe und Achtsamkeit des Gebens“ stellt von Schirach das Wortfeld der „Gabe“ gegen das von „Preis“ und „Geld“. Wo wir immer noch vom ‚Menschen‘ sprechen, auch gegen Kittlers verächtlichem Beharren darauf, daß wir es immer nur mit ‚Leuten‘ zu tun haben, schwingt in diesem Wort ein Humanum mit, das der Begründung nicht bedarf und sich jeder preislichen Relativierung entzieht: Würde. –  Würde ist „gegeben“, eine Gabe, die „nicht errungen werden (kann). Deshalb ist sie unverlierbar. Eine Zeit, die den Wert eines Menschen mit seiner Leistungskraft gleichsetzt, ist eine würdelose Zeit.“ (Vgl. von Schirach 2014, S.75)

Die Frage, so von Schirach, „wofür es sich zu leben lohnt“, ist deshalb keine Frage, die kalkuliert werden kann. Sie bezieht sich auch auf kein Kapital, das vermehrt werden könnte. Trotz aller transatlantischen Freihandelsabkommen, die auch Kultur und Bildung zu umfassen beanspruchen: die Lebensqualität schlägt nicht in Quantität um, weil sie keine Ware ist. Die „einfache Antwort“ auf die Frage nach dem Wofür des Lebens lautet: „für das Leben.“ (Vgl. von Schirach 2014, S.179) Das entspricht der Einsicht von Hans Blumenberg: „(D)es Grundes nicht zu bedürfen, ist die Genauigkeit des Lebens selbst.“ (Höhlenausgänge (1989), S.168)

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Mittwoch, 21. Mai 2014

Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014

(Klett-Cotta, Tropen Sachbuch, 184 S., 17.95 €)

1. Kultur, Verantwortung, Genuß
2. Vom Terror des Bildes
3. Menschen und Märkte

In diesem Blog ist bisher aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln vom ‚Bild‘ die Rede gewesen. Für den einen Blickwinkel stehen die Namen von Günther Anders (vgl. u.a. meinen Post vom 23.01.2011), Friedrich Kittler (vgl. u.a. meinen Post vom 12.04.2012) und Lambert Wiesing (vgl. meinen Post vom 05.06.2010), die vor allem die zweidimensionale Flachheit von Bildern und den damit einhergehenden, durch die Illusion der Zentralperspektive kaschierten Verlust der Perspektive thematisieren. Anders und Kittler steigern diesen Befund zu einer Kritik (Anders) an bzw. zur Affirmation (Kittler) der durch technische Medien der Bilderzeugung ermöglichten Täuschung des Menschen über seine Realität. Beide heben hervor, daß der Mensch aufgrund der sinnlichen Farbigkeit bildlicher Darstellungen, nach dem Motto: sehen heißt glauben, dazu neigt, diese Darstellungen für getreue Abbildungen der Realität zu halten.

Für eine andere Bewertung des Bildes steht Leroi-Gourhan, der sogar von einer Dreidimensionalität der Bilder spricht, die er der Eindimensionalität der linearen Alphabetschrift entgegenstellt. (Vgl. Leroi-Gourhan 1980 (1964/65), S.246; vgl. auch meine Posts vom 01.03. und vom 02.03.2013) Diese ‚Dreidimensionalität‘ der eigentlich nur zweidimensionalen Bilder wird verständlich, wenn man bedenkt, daß sich Leroi-Gourhan u.a. mit Höhlenbildern beschäftigte und diese dem Betrachter, ähnlich dem Panoramabild von Werner Tübke in Bad Frankenhausen, eine räumliche Rundumperspektive bieten, in der die strukturellen Bezüge zwischen den Bildelementen sich nicht nur in der Fläche ausbreiten, sondern den Betrachter von den ihn umgebenden Wänden her und von der Höhlendecke herab ‚angehen‘.

Interessanter Weise gibt es auch in der Hieroglyphenforschung einen vom Informatiker Sergio Busato stammenden Ansatz, demzufolge sich verschiedene Hieroglyphen überlagern können, so daß unabhängig voneinander existierende Bilder entstehen. die räumlich gelesen werden können, also perspektivisch mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge, während man das jeweils andere Auge geschlossen hält. (Vgl. DLF, Forschung Aktuell, vom 11.07.2008) Irgendwie erinnert Busatos Ansatz an eine frühgeschichtliche Form der 3D-Projektion. Jedenfalls stärkt das Leroi-Gourhans These von der Dreidimensionalität nicht nur der Höhlenmalereien, sondern auch der Bilderschrift.

Wenn Ariadne von Schirach vom „Terror des Bildes“ spricht (vgl. von Schirach 2014, S.104), so ist klar, daß sie sich hier vor allem in die Theorietradition von Günther Anders und Friedrich Kittler stellt. Im Zentrum steht dabei vor allem die mit der Flachheit des Bildes verbundene Perspektivlosigkeit einer von digitalisierten Bildern mediatisierten Welt: „Körper, die sich in Bilder verwandeln, werden mit der Zeit flach, als fehlte ihnen die dritte Dimension.“ (von Schirach 2014, S.33)

Ein ‚Terror‘ ist damit verbunden, weil mit der Flachheit der medialen Bilderwelten – die auch dann noch ‚flach‘ bleiben, wenn Computerinterfaces einmal zur 3D-Projektion fähig sein sollten – ein Verlust an Innenweltlichkeit einhergeht. Die Differenz zwischen innen und außen verschwindet: „Das ideale Äußere unserer Tage ist also nicht mehr ein Verweis auf mögliche innere Werte. Es ist ein innerer Wert an sich. Und so fragt sich, was mit den echten inneren Werten geschieht, wenn die ganze Energie dafür draufgeht, so auszusehen, als hätte man welche.“ (von Schirach 2014, S.28)

Wenn man an Plessners ‚Seele‘ und ihrem „noli me tangere“ denkt, die sich nie einfach nur ‚zeigt‘, sondern im Zeigen immer auch verbirgt, wird verständlich, warum von Schirach mit den Bildern eine „Pornographie“ assoziiert. (Vgl. von Schirach 2014, S.17) Der Facebook-Mensch, der seine digitale Pinnwand mit täglichen Schnappschüssen aus einem eigentlich belanglosen und uninteressanten Leben tapeziert, der „Tapetenmensch“, wie von Schirach schreibt, ‚stellt‘ sein Leben ‚aus‘, eine ‚Prostitution‘ im Wortsinne: „Man stellt sich ja nicht mal mehr dar, sondern man stellt sich aus, als Bild, dessen Inhalt nur noch in seiner Oberfläche liegt. ... das Spiel verschwindet, wenn alles nur noch das ist, was sich zeigt.“ (von Schirach 2014, S.171)

Das erotisierende Spiel mit „Nähe und Entzug“, mit „Verbergen und Offenbaren“, mit „Absicht und Verschleierung“ (vgl. von Schirach 2104, S.171), in dem sich Menschen begegnen, finden und wieder trennen – eben jenes „noli me tangere“ –, verliert mit der „Bildproduktion fürs Internet“ seine für dieses Spiel konstitutive innere, zur Kritik befähigende Distanz. (Vgl. von Schirach 2014, S.32)

Was die flachen Bilder mit ihrer fehlenden Perspektive so falsch macht, ist die mit eben dieser Perspektivlosigkeit einhergehende „Eindeutigkeit“ und „Überschärfe“, die, so von Schirach, „zumindest teilweise den Zooming-Praktiken zeitgenössischer Pornoproduktionen geschuldet ist“. (Vgl. von Schirach, 2014, S.33) Was diesen überscharf gezoomten Selbstportraits fehlt, bezeichnet von Schirach mit an Plessner geübtem Blick mal als ‚Schwere‘, mal als ‚Tiefe‘. Es ist die aus dieser inneren Körpertiefe kommende „ethische Wucht“ des „echten Blick(s)“, die das Gegenüber – neudeutsch: face to face – mit der Nase auf die Tatsache drückt, daß er es hier mit einem „bewohnte(n) Körper“ zu tun hat. (Vgl. von Schirach 2014, S.45) Wo sich das zweidimensionale Bild mit seiner augenblickshaften Verflachung und Stillstellung von Pseudoerlebnissen und Pseudowahrnehmungen widerstandslos und anspruchslos den Klischees unserer digitalisierten Kommunikation anpaßt, wird die „Schwere“ des Körperleibs mit seiner „begrenzten Aufmerksamkeit“ zur „Sollbruchstelle“. (Vgl. von Schirach 2014, S.46) Anstatt mit unbegrenzter Unruhe von Bild zu Bild zu wechseln, bricht sich der Sehstrahl an unseren unbefriedigt bleibenden Bedürfnissen, in denen sich das Leben vollziehen will, – „da kann man noch so viel optimieren“. (Vgl. von Schirach 2014, S.47)

Das Fehlen der Perspektive in den flachen Bildern, die wir selbst sind, die fehlende Distanz zu uns selbst in unserer äußeren Darstellung, macht uns abhängig vom Blick der Anderen, die allerdings auch keine Perspektive beisteuern, die unserem Selbstbild Tiefe verleihen könnte: „Die Straßen der großen Städte sind voll von lebenden Bildern, die auf Blicke lauern und Blicke fordern, wie sich die Pinnwände der sozialen Netzwerke mit Fotos bevölkern, die geliked werden wollen oder kommentiert.“ (von Schirach 2014, S.111)

Im geliked werden Wollen steckt das tiefe Bedürfnis nach einer Antwort, einer rekursiven Dynamik des „Ich weiß, daß Du denkst, denn ich sehe es in Deinem Blick“, in dieser „ethischen Wucht“, wie von Schirach es nennt. In den Bildern aber, die wir ausstellen, prostituieren wir uns nur und vernichten genau das, worum es in ihnen geht: uns selbst.

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Dienstag, 20. Mai 2014

Ariadne von Schirach, Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst, Stuttgart 2014

(Klett-Cotta, Tropen Sachbuch, 184 S., 17.95 €)

1. Kultur, Verantwortung, Genuß
2. Vom Terror des Bildes
3. Menschen und Märkte

„Du sollst nicht funktionieren“ (2014) von Ariadne von Schirach, – das ist ein Titel, der an ein anderes Buch erinnert, an „Du sollst nicht merken“ (1981) von Alice Miller. Beide Imperative haben viel miteinander zu tun: daß wir nicht merken, was mit uns geschieht, ist die Voraussetzung dafür, daß wir funktionieren. Und Ariadne von Schirachs Buch ist der Versuch, diese Anästhesie durch ihren Gegenimperativ, nicht funktionieren zu sollen, aufzuheben und uns dafür zu sensibilisieren, was uns verloren geht, wenn wir, ohne es zu merken, nur noch funktionieren.

Dabei sollte man sich vom Untertitel ihres Buches, der nach einem weiteren Exemplar aus der Ratgeberliteratur klingt, nicht täuschen lassen. Zwar haben wir es durchaus auch mit einer Lebenshilfe zu tun; aber nur in dem Sinne, in dem die Philosophie es schon immer mit dem richtigen und guten Leben zu tun gehabt hatte. (Vgl. von Schirach 2013, S.176) Und dabei geht es eben nicht um einschlägige Tips, Rezepte und Diätiken der Lebensführung in den Bereichen der Gesundheit und der Psychohygiene – „eingeebnet, psychologisiert und standardisiert und so auf einen möglichst erfolgreichen Lebenslauf hin ausgerichtet“ (von Schirach 2014, S.74) –, sondern um Aufklärung im eigentlichen, ursprünglichen Sinne.

Einen konkreten Weg aus den ‚Labyrinthen‘ des falschen Lebens, in das wir alle uns verstrickt haben, kann und will Ariadne von Schirach uns trotz ihres Vornamens nicht aufzeigen, weil dieser für jeden Menschen anders verläuft und es eben deshalb keinen Leitfaden dafür gibt. Aber was sie gerade als Philosophin versuchen kann, ist, uns zu zeigen, auf welche Weise wir denken sollen; und das heißt, wie wir unser Leben denkend begleiten sollen; und das heißt wiederum, wie wir uns zu uns selbst verhalten sollen, um uns und die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie uns vorgegaukelt wird, wie sie angeblich sei. Kurz: Es geht um die rechte Art und Weise bei uns selbst und bei Anderen zu sein.

Ausgangspunkt dieser Einstellung eines Dabei-Seins, das uns über den bloßen, animalischen Lebensvollzug erhebt, ist das Kantische „Ich denke“, das alle unsere Wahrnehmungen und Erlebnisse begleiten können muß, damit sie unsere Wahrnehmungen und Erlebnisse sind. Zugleich aber reicht dieses „Ich denke“ weit über seinen transzendentalen Ermöglichungsgrund von Bewußtheit hinaus und in die Welt hinein, auf den anderen Menschen hin und auf alles, was uns in der Welt begegnet. Das „Ich denke“ enthält eine rekursive Dynamik: „Ich denke, daß Du denkst, weil ich es weiß und weil ich es fühle, daß Du denkst und deshalb ebenfalls weißt, daß ich denke.“

Auf diese denkende Weise eignen wir uns unsere eigenen Wahrnehmungen und Erlebnisse an, und mit ihnen eignen wir uns die Welt an, die wir mit „Liebe  und Bedeutung“ begaben, bis hin zu unseren Haustieren, deren Tod uns nahe geht wie der eines geliebten Menschen: „Denn ein Haustier ist erhoben aus der Welt der stummen Tiere und geadelt durch die Liebe und Bedeutung, die wir ihm geben, und doch zeigt sich in jedem Tier, das unser Leben geteilt und wieder verlassen hat, wie unendlich wert es dieser Liebe gewesen ist.“ (von Schirach 2014, S.67)

Dieses Dabei-Sein des Menschen bei allem, was ihm widerfährt, als Verwandlung dieser Widerfahrnisse in Erfahrung, Bildung und Verantwortung, ist einem Denken geschuldet, das den Blick fokussiert und ausrichtet: „Alle guten Dinge werden erzeugt, indem man sich ihnen zuwendet, sie pflegt und fördert und stärkt. Indem man den Blick darauf richtet und nicht ablässt, darauf zu blicken, allem Dreck und Schmutz der Welt zum Trotz.“ (von Schirach 2014, S.178)

Dieses Dabei-Sein wird durch eine Abhebung des Menschen aus dem Lebenskreis der Pflanzen und Tiere ermöglicht, eine Gabe, die ihn wiederum dazu befähigt den menschlichen und nicht-menschlichen Anderen vom komplexen Hintergrund des Lebens abzuheben und zu verbesondern, mit dem Anderen zu sein, so wie man mit sich ist. Von Schirach zitiert den entscheidenden Gedanken von Plessner aus den „Stufen des Organischen“ (1928/1975): „Der Menschheit Würde ist in ihre Hand gegeben. Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott, sondern ebenso sehr in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen Abstand zu ihm.“ (von Schirach 2014, S.62)

Dieser Abstand zu sich, zu Gott und eben auch zur Welt, seine exzentrische Positionalität, macht den Menschen fähig, nicht nur seine eigenen Empfindungen wahrzunehmen, sondern allem, was ihm begegnet eine Stimme zu verleihen, auf den stummen Blick der Kreatur, wie etwa einem Haustier, zu antworten und damit Verantwortung für sie zu übernehmen. Das beginnt, wie gesagt, mit der eigenen inneren Stimme: „Der Mensch weiß also sehr wohl, was gut und was schlecht ist. Er hat ein Gewissen, und diesem Gewissen sollte man zuhören ... Man muss das Lebendige in sich bewahren, es pflegen und fördern. Auf die eigene Stimme hören, die sagt, das mag ich, das hasse ich, das schmeckt mir.“ (von Schirach 2014, S.69)

Das Gewissen bildet also eine weitere notwendige Folge jener Apperzeption, von der Kant spricht. Es geht eben nicht nur darum, bei dem, was wir empfinden, zu denken, wie es dem transzendentalen Charakter der Kantischen Apperzeption entspricht, sondern darum, bei dem, was wir empfinden, uns etwas zu denken. Das ist die vollständige, echte Menschlichkeit, mit der wir von Schirach zufolge das dunkle Tier in uns überwinden: „Denn der Mensch kann das dunkle Tier, das er selbst ist, nicht töten, höchstens bezähmen, und der erste Schritt ist, es anzusehen, gütig und streng.“ (von Schirach 2014, S.64) – Diese Menschlichkeit ist es, die in der Trauer um das verstorbene Haustier mitschwingt.

Von Schirach zählt drei Formen dieses denkenden Dabei-Seins auf: Kultur, Verantwortung und Genuß, die den drei Entwicklungslinien der Kultur, des Individuums und der Biologie entsprechen, von denen in diesem Blog immer wieder die Rede ist. Auf die Verantwortung bin ich gerade schon zu sprechen gekommen. Von Schirach faßt sie prägnant in folgendem Satz: „Denn wir wissen im Gegensatz zu den Tieren vom Leiden und Leben der anderen und dieses Wissen ist das Wesen unserer Verantwortung.“ (von Schirach 2014, S.62)

Auch die Kultur definiert von Schirach als eine Form des wissenden Dabei-Seins: „... sie betrifft nicht nur die Weise, wie wir wohnen und essen und arbeiten, sondern auch, wie wir auf uns und unser Dasein Bezug nehmen.“ (von Schirach 2014, S.73) – Die Kultur ist also eine Form der gemeinschaftlichen Verantwortung, die das individuelle Gewissen überschreitet.

Die dritte Form, der Genuß, ist aber noch etwas Besonderes, das sich von den beiden anderen Formen des Dabei-Seins unterscheidet. Der Genuß bildet einen besonderen Aspekt unserer Körperleiblichkeit, wie ihn Plessner als Lachen und Weinen (1941/1950) beschrieben hat. Zunächst einmal bildet der Körper einen Lebensvollzug: „das Leben vollzieht sich an ihm“ (von Schirach 2014, S.47). Wenn wir genießen, vollzieht sich etwas in unserem Körper, an dem wir zwar beteiligt sind, das wir aber nicht unter Kontrolle haben. Deshalb ist der Genuß immer auch etwas Fremdes, dem Rausch Benachbartes. Oder anders: das „Fremde des Rausches“ wird im Genuß veredelt. (Vgl. von Schirach 2014, S.49)

So wie im Lachen und Weinen kommt uns der Körper im Genuß mit seiner Lebensfreude zu Hilfe und versöhnt uns mit den Plagen des Dabei-Sein-Müssens. Zugleich aber folgt dem Genuß mit der fehlenden Abständigkeit wie ein Schatten der Absturz, so daß wir uns nicht mehr an unserem Genuß erfreuen können. Bei allem Vollzugscharakter und gerade wegen dieses Vollzugscharakters ist der Genuß immer auch eine Kunst, eine Kunst des rechten Loslassens, wie es in der Kunst des Bogenschießens von Herrigel heißt.

Diese Nähe zum Rausch macht den Genuß erst recht zu einer besonderen Form unserer Menschlichkeit, und von Schirach hält deshalb fest: „Dem Genießen seinen dunklen Stachel zu ziehen, verwandelt es in bloßen Konsum.“ (S.50) – Dieser Satz richtet sich gegen einen Gesundheitsbegriff und gegen eine Psychohygiene, die „das Sprechen von sich eingeebnet, psychologisiert und standardisiert und so auf einen möglichst erfolgreichen Lebenslauf hin ausgerichtet“ hat. (Vgl. von Schirach 2014, S.74) – Diese Art, unsere Befindlichkeiten auszumessen und nicht nur zu be-werten, sondern auch zu ver-werten, ist inzwischen zu einer weiteren Spielart des Konsums geworden.

Von Schirach findet für die Differenz zwischen Konsum und Genuß eine geniale Formel, der ich am Schluß dieses Posts nichts mehr hinzuzufügen habe: „Konsumieren ist mehr vom Gleichen, und Genießen ist etwas vom Anderen.“ (Von Schirach 2014, S.51)

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Freitag, 9. Mai 2014

Lebenswelt und Strukturalismus II

Bernhard Waldenfels will in seiner Adaption des Begriffs der Zwischenleiblichkeit die Subjekte nicht mehr berücksichtigen müssen. (Vgl. meine Posts vom 05.01. und vom 08.01.2011) So aber verkommen die Phänomene, die des Subjekts bedürfen, um als Phänomene erlebt werden zu können, zu einer Funktion innerhalb einer Struktur, eines Netzwerkes, und an die Stelle der Wahrnehmung tritt Kybernetik.

Während der phänomenologische Begriff der Lebenswelt gleichermaßen strukturiert wie zentriert ist und eine rekursive Dynamik der Sinnhervorbringung beinhaltet, werden die ‚Subjekte‘ im Strukturalismus auf eine Struktur ‚verteilt‘, also dezentriert, und übernehmen dort geregelte Funktionen. Ich habe das in der Graphik mit dem Schachbrettmuster zum Ausdruck gebracht. Das Schachspiel ist seit Saussure bei den Strukturalisten ein vielzitiertes Beispiel.

In der letzten Graphik (vgl. Lebenswelt und Strukturalismus I) waren die Subjekte, S-S'', in einem gemeinsamen lebensweltlichen Zentrum miteinander verbunden. Auf dem ‚Schachbrett‘ hingegen verteilen sie sich auf verschiedene Felder. Sie sind auch nicht mehr in subjektive Kontexte, sondern in objektive Kontexte eingebettet, die durch die anderen Schachfelder, also durch die definierten Stellen in der Schachbrettstruktur bestimmt sind. Der Bezug auf die verschiedenen ‚Subjekte‘ ergibt sich durch eine unveränderliche Regel, eben durch das Schachspiel, und nicht mehr durch die Perspektiven, die die ‚Subjekte‘ auf ihre Kontexte einnehmen. Es gibt in jedem Schachspiel immer nur u.a. vier Pferde und sechzehn Bauern. Kommt auch nur ein Pferd oder ein Bauer zusätzlich hinzu oder beginnt das Spiel mit nur drei Pferden oder nur fünfzehn Bauern, haben wir es nicht mehr mit einem Schachspiel zu tun. Die Struktur hat sich geändert, und diese Veränderung ist innerhalb der Regeln des Schachspiels nicht vorgesehen. Von den Pferden und Bauern können keine spontanen, regelverändernden Aktionen ausgehen.

Zwar hat auch das Schachspiel seine eigene rekursive Dynamik. Aber diese ist nicht lebensweltlich, sondern eben strukturell bedingt. Die rekursive Dynamik des Schachspiels vollzieht sich ‚Zug um Zug‘ und berücksichtigt dabei die potentiell folgenden, regelgeleiteten Züge des Gegners. Die verschiedenen ‚Ebenen‘, d.h. die verschiedenen Spielmöglichkeiten des Gegners, die in die Planung des nächsten Spielzugs einfließen, ergeben sich kontinuierlich aus den festgelegten Regeln des Schachspiels. Es kommt zu keinem Bruch, zu keiner spontanen Neuregelung.

Lévi-Strauss beschreibt in „Das wilde Denken“ (1973/1962), wie in einem Clansystem eine begrenzte Menge an Namen für die Benennung der Clanmitglieder zur Verfügung steht. (Vgl. meinen Post vom 20.05.2013) Dabei handelt es sich um der nichtmenschlichen Natur entnommene ‚Eponyme‘, die den Clan als Clan definieren, ähnlich wie die Schachfiguren, zwei Pferde, acht Bauern, eine Dame etc. einen weißen oder einen schwarzen Satz von Spielfiguren ausmachen. Neue Clanmitglieder müssen warten, bis ältere Clanmitglieder sterben und den Platz im Clan, der durch ihr Eponym bezeichnet ist, freimachen, so daß ein neues Clanmitglied dessen Namen übernehmen kann. Es gibt, glaube ich, auch eine Schachregel, nach der ein Bauer in einer bestimmten Situation die Funktion einer Dame übernehmen kann.

Wird durch Hungersnöte, Bevölkerungswachstum oder andere Ereignisse das durch die Struktur stabilisierte Gleichgewicht durcheinandergebracht, bedarf es außerordentlicher Maßnahmen durch die Clanältesten, um das Verhältnis von Eponymen und Clanmitgliedern wieder in Einklang zu bringen. Wir haben es also mit einem kybernetischen Mechanismus zu tun, dessen Dynamik einer Homöostase dient.

Auch die Lebenswelt der Phänomenologen ist ‚statisch‘, oder vielleicht sollte man besser sagen ‚zyklisch‘. Ihre Zyklen sind ans Kommen und Gehen der Generationen und an die Lebensalter der individuellen Subjekte gebunden, die nicht die Freiheit haben, die Lebenswelt als solche in Frage zu stellen. Aber im Unterschied zu Schachfiguren können die Subjekte die Regeln verändern, nach denen sie interagieren. Der Bruch ist jederzeit möglich, weil sie in sich gebrochen sind, gemäß der exzentrischen Positionalität, wie sie Plessner beschrieben hat. Die Homöostase der Lebenswelt beruht auf Subjekten und nicht auf Algorithmen.

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Donnerstag, 8. Mai 2014

Lebenswelt und Strukturalismus I

Ich habe schon in verschiedenen Posts von der Notwendigkeit einer phänomenalen Strukturanalyse gesprochen. (Vgl. meine Posts vom 02.11.2013, 03.11.2013, 15.02.2014, 24.03.2014) Dabei war es mir darum gegangen, den Unterschied zu überwinden zwischen einer Phänomenologie, die den Schein an seiner Oberfläche ernstnimmt und ihn in seiner Erscheinungsweise, in seiner Gestalt zu beschreiben versucht, und einem Strukturalismus, der dem oberflächlichen Schein mißtraut und dahinter eine tiefere, eigentliche, durch den äußeren Schein verdeckte Wahrheit vermutet, die es ans Licht zu bringen gilt. Die Phänomenologen meditieren, und ihre bevorzugte Wissensform ist die Anthropologie; die Strukturalisten graben, und ihre bevorzugte Wissensform ist die Archäologie.

Während die Phänomenologen die subjektive Wahrnehmung, die subjektive Perspektive ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen – denn der Schein bedarf des Subjekts, um als Schein wirken zu können –, stellen die Strukturalisten Funktionen und Strukturen ins Zentrum ihrer Analysen und verzichten so weit wie möglich auf das Subjekt, das sie ebenfalls als eine Struktur beschreiben und einer Psychoanalyse unterziehen. Was dem Subjekt bewußt wird, ist immer schon des Betrugs, der Täuschung verdächtig. Das Unbewußte und das Unsichtbare ist es, was den Strukturalisten interessiert.

Aber auch die Phänomenologen kennen das Unsichtbare, das sich dem Wahrnehmungssubjekt prinzipiell entzieht. Sie haben ihren eigenen Strukturalismus, der aber auf die Subjekte nicht verzichtet: die Lebenswelt. Die Phänomene, mit denen es diese Wahrnehmungssubjekte zu tun haben, haben ihre eigenen Unsichtbarkeiten, Hintergründe, Rückseiten. Diese sind aber nicht wahrer oder wesentlicher als die Vordergründe, die die Subjekte fokussieren. Jedes Phänomen, ob Realweltgegenstand oder Phantasie, ist in Kontexte eingebettet. So hat jedes Wahrnehmungssubjekt seinen subjektiven Kontext (S-S''), in dem bestimmte Phänomene thematisch werden können. Und einen Teil dieses subjektiven Kontextes teilt jedes Wahrnehmungssubjekt wiederum mit anderen Subjekten; und dieser Teil ist die Lebenswelt bzw. die Inter-Subjektivität (I).

Die Inter-Subjektivität bildet tatsächlich eine Struktur. Aber sie bildet eine gleichermaßen dynamische und zentrierte Struktur, die sich mit dem Wechsel der subjektiven Perspektiven ständig verschiebt, neu zentriert und neu strukturiert. Die Pfeile im großen Lebensweltkreis und in den ellipsenförmigen Kreislinien der subjektiven Kontexte deuten diese rekursive Dynamik einer ununterbrochenen Sinnhervorbringung, als Sinn von Sinn, an. (Zum Sinn von Sinn vgl. meinen Post vom 21.12.1013)

Zugleich aber hat die Lebenswelt etwas Beharrendes. Sie ist institutionalisiert, und auf diese Weise bildet sie eben auch einen Strukturalismus. Darin hat der Strukturalismus seine Wahrheit. Hier haben wir eine gemeinsame Schnittmenge zwischen Lebenswelt und Strukturalismus und den Ansatzpunkt für eine phänomenale Strukturanalyse, wie sie im Begriff der Zwischenleiblichkeit von Merleau-Ponty und von Waldenfels betrieben wurde. (Vgl. meine Posts vom 05.01. bis 08.01.2011 und vom 20.11. bis 24.11.2011) Bei Waldenfels zeigt sich aber schon eine Verirrung der phänomenologischen Blickrichtung: das Subjekt erscheint ihm als bedeutungslos. Er will die zwischenleiblichen Phänomene ohne zugehöriges Subjekt in den Blick bekommen. So aber verkommen die Phänomene zu einer Funktion innerhalb einer Struktur, eines Netzwerkes, und an die Stelle der Wahrnehmung tritt Kybernetik.

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