„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 18. April 2014

Formeln und ihre Nicht-Übereinstimmung mit der Wirklichkeit

Mein Gesprächspartner wies mich, mit „Rotwein gefülltem Kopf“, auf einen Wikipedia-Artikel zur „Evolutionären Erkenntnistheorie“ hin, in der Meinung, ich könnte etwas damit anfangen. Und er hatte Recht.

Der Artikelschreiber setzt sich mit Kant und seiner ‚Widerlegung‘ durch den hypothetischen Realismus, insbesondere mit Maturana, Varela und Vollmer auseinander. Das Lesen des Artikels befreite mich zunächst – das alleine lohnte es schon – von dem Vorurteil, daß es sich bei Maturana und Varela um Konstruktivisten handelt. Sie selbst haben das offensichtlich immer bestritten, was sie mir sympathisch macht.

Mit den Überlegungen des Artikelschreibers zum hypothetischen Realismus und mit diesem hypothetischen Realismus selbst, der vor allem darin besteht, vom subjektunabhängigen Vorhandensein einer materiellen Realität auszugehen, stimme ich weitgehend überein. Allerdings setze ich dabei meine eigenen Akzente. Zunächst mal: ich bin eindeutig Kantianer! Mit Kant gehe ich davon aus, daß wir es immer nur mit Erscheinungen zu tun haben und nicht mit den Dingen an sich. Deshalb hat der hypothetische Realismus eines Maturana, Varela oder Vollmer Kant auch nicht „widerlegt“, wie der Artikelschreiber meint, sondern ihm nur ‚widersprochen‘. Um Kant widerlegen zu können, müßten die genannten drei Denker einen bevorzugten Zugang zur materiellen Wirklichkeit gefunden haben. Aber gerade Maturana und Varela bewerten sogar das „materiell-körperliche Sein“ als bloße Erscheinung, anders als Kant, der die „Erfahrung“, und damit das körperlich-materielle Sein, also die körperlichen Sinne, als Ort der Wahrheit kennzeichnet.

Maturana und Varela verkennen also die Differenz des Körperleibs, der nicht nur ein empirisches Phänomen ist, sondern auch die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Phänomenen bildet. Jedenfalls kann von einer Widerlegung Kants durch den hypothetischen Realismus keine Rede sein.

Worin ich mit dem hypothetischen Realismus konform gehe, ist die Feststellung, daß das „Universum“ bzw. die materielle Realität auch unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Dem Artikelschreiber möchte ich allerdings darin widersprechen, daß die Beziehung zwischen unserer Interpretation der Wirklichkeit und der materiellen Wirklichkeit im Sinne der Quantenphysik als ein Idealismus verstanden werden könne. Anstatt den Idealismus zu bestätigen, widerlegt die Quantenphysik diesen Idealismus. Sie zeigt nämlich, daß die materielle Wirklichkeit und ihre formelhafte Beschreibung nur parallel verlaufen und nicht gesetzmäßig verknüpft sind.

Die materielle Realität und unsere Erkenntniskategorien stimmen vor allem auf der Ebene der Erkenntnis selbst niemals, also prinzipiell nicht überein. Auf der Ebene der Wahrnehmung, also dem Kantischen Ort der Wahrheit, ist das anders. Real- und Erkenntniskategorien treten immer dort auseinander, wo Formeln verwendet werden. Formeln lassen sich zwar technologisch anwenden, aber sie – und mit ihnen die Technologien – verlaufen nur parallel zur von ihnen beschriebenen und manipulierten Wirklichkeit. Zwischen diesen parallelen Verläufen gibt es zwar eine kausale, aber keine gesetzmäßige Verbindung. D.h. die Verbindung zwischen Formeln und ihrer technologischen Anwendung mit der materiellen Wirklichkeit ist eine primär zufällige, jederzeit potentiell aus dem Ruder laufende. Je katastrophaler das Versagen einer Technologie wäre – wie etwa bei der Atomkraft –, umso bedenklicher ist das Vertrauen in die Kontrollfunktion von Formeln und in die Kontrollierbarkeit der mit ihrer Hilfe betriebenen Technologien.

Die unabhängige Existenz der materiellen Wirklichkeit ist körperleiblich vermittelt. Hier gehe ich von einer naiven Übereinstimmung von Real- und Erkenntnisfunktionen (im Sinne von Wahrnehmung) aus. Eine Nichtübereinstimmung gibt es vor allem im Bereich des Formelwissens.

Eine weitergehende Übereinstimmung als mit Maturana und Varela habe ich mit Vollmer, der dem Artikelschreiber zufolge „die Strukturen einer letztendlichen Realität oder Wahrheit strikt von denen der Welt getrennt“ wissen will, die „in keiner Weise übereinstimmen“. Seiner vom Artikelschreiber wiedergegebenen Feststellung, daß die „wahre Realität ... dann höchstens indirekt in gewisser Weise erkannt werden (könnte)“, kann ich zustimmen. Der indirekte Weg zur Erkenntnis einer letztendlichen Realität oder Wahrheit führt immer über die Erfahrung bzw. über den Körperleib. Und ‚indirekt‘ ist dieser Weg lediglich aus der Perspektive einer Erkenntnistheorie, die sich immer nur kritisch mit dieser naiven Erfahrung auseinandersetzen kann, ohne über eigene, unbedingte Erkenntnisquellen zu verfügen. – Kurz: eine Letztbegründung von Wahrheit ist unmöglich.

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