„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 8. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

1. Der dritte Weg
2. Aperçu
3. Anthropologie
4. Karma
5. Nur beinahe

Safranski stellt Goethes Anthropologie auf die Ebene der skeptischen Anthropologien von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner. (Vgl. Safranski 2013, S.281f.) Dabei beschreibt er die Gegenüberstellung von Bewußtsein und Sein, die in etwa dem Plessnerschen Körperleib entspricht, mit Gehlen als einen Mangel: „Bewußtsein ist eben nicht bewußtes Sein. Es ist immer ärmer als das eigene Sein.“ (Safranski 2013, S.282) Safranski setzt also den Gehlenschen Begriff des „Mängelwesens“ mit dem Plessnerschen Begriff des „Menschen als ‚exzentrisches Wesen‘“ gleich. (Vgl. Safranski 2013, S.608)

Mit dieser Gleichsetzung entgeht Safranski die entscheidende Differenz: Plessner versteht die exzentrische Positionalität – eine Positionalität, die er gleichwohl in einem Nichts verortet (vgl. meinen Post vom 26.10.2010) – als eine neue, rekursive Ebene des Erlebens, als einen „Spielraum“ der Freiheit, wie ihn Goethe und Schiller der Epik zuordnen. (Vgl. Safranski 2013, S.433) An anderer Stelle wird allerdings deutlich, daß Safranski sehr wohl verstanden hat, daß genau darin auch die Pointe der Goetheschen Anthropologie besteht. In seiner Darstellung des Faust als einen ‚Meta-Physiker‘ kommt dieses Neben-sich-Stehen bzw. Über-sich-Stehen zum Ausdruck. Faust ist, so Safranski, „kein Metaphysiker im Sinne der scholastischen metaphysischen Antworten“. (Vgl. Safranski 2013, S.609) Er ist vielmehr ein Meta-Physiker in dem Sinne, daß er sich der Verwandlung der „Welt in ein konsumierbares Angebot“, wie sie ihm Mephisto vorgaukelt, verweigert: „... Faust will beweisen, daß er mehr ist als ein Konsument, will die Unstillbarkeit seines metaphysischen Verlangens beweisen.“ (Safranski 2013, 611) – Genau darin besteht Safranski zufolge die Wette zwischen Faust und Mephisto, bei der es um Faustens Seelenheil geht.

Safranski beschreibt die Beziehung zwischen Faust und Mephisto als ein Kräfteparallelogramm, bei dem der eine, Faust, hinaufstrebt, also wachsen will, und der andere ihn hinabzieht, also ihn zu reduzierten versucht und ein „eindimensionales Wesen“ (Safranski 2013, S.609) aus Faust machen will: „Die Pointe dabei ist, daß weder der ‚reine‘ himmelstürmende Faust, noch der ‚reine‘ zur Erde herabziehende Mephisto triumphieren, sondern das Resultat dieser gegenstrebigen Bewegungen ‚hinauf‘ und ‚hinunter‘ ist die Bewegung hinaus.“ (Safranski 2013, S.611)

Aus dem Gegensatz von Transzendenz und Immanenz wird also im Kräfteparallelogramm von Faust und Mephisto eine ‚immanente Transzendenz‘: „Weder eine vertikale Transzendenz noch reine Immanenz, sondern etwas Drittes, nämlich ein immanentes Transzendieren ist die Folge. Von Mephisto gereizt, wird Faust zu einem erfahrungshungrigen Grenzüberschreiter auf horizontaler Ebene. ... Nach diesem Muster geht es auch sonst zu. Mephisto schafft an – und Faust macht mehr daraus.“ (Safranski 2013, S.611f.)

Es gibt noch eine weitere bemerkenswerte Parallele zu Helmuth Plessner. Die Gesellschaft bildet bei Goethe wie bei Plessner eine ‚Bühne‘, auf der sich die Freiheit des Individuums bewährt. (Vgl. meine Posts vom 14.11. bis zum 17.11.2010) Safranski spricht hier von einer „geselligen Bildung“: „Hier zeigt Goethe, daß in Situationen des politischen Umtriebs nicht Schillers ‚ästhetische Erziehung‘, sondern elementare gesellige Bildung nottut, für die kein anspruchsvolles theoretisches Konzept erforderlich ist, sondern eine schlichte Erinnerung an die heilsame Wirkung von Höflichkeit und Rücksichtnahme. Einig ist sich Goethe mit Schiller jedoch darin, daß es auf Spielkultur ankommt ... Goethes Modell der geselligen Bildung ist auch ein Spiel, ein Gesellschaftsspiel eben. Man tut so, als ob. Gefragt sind zivilisierte Umgangsformen, nicht unbedingte Authentizität. Keine Tyrannei der Intimität ...“ (Vgl. Safranski 2013, S.402)

Das ist genau die Ebene eines von der „Tyrannei der Intimität“ sich absetzenden gesellschaftlichen Maskenspiels, das auch Plessner einer ursprünglich reformpädagogischen, später nationalsozialistisch pervertierten Gemeinschaftsidee entgegenstellt.

Wie weit Goethes Anthropologie in die innere Verfaßtheit auch des gegenwärtigen Menschen hineinreicht, wird an den von Safranski angesprochenen Stichworten der „Anthropotechnik“ (vgl. Safranski 2013, S.613f.), des „Papiergeldes“ (vgl. Safranski 2013, S.616) und der Medien („Illusionstheater“ (vgl. Safranski 2013, S.616f.)) deutlich. Alle drei Stichworte lassen sich an der klassischen Walpurgisnachtszene im „Faust“ festmachen. Für die heutige Anthropotechnik der medizinischen Reproduktionstechnologie und der ingenieursmäßigen Produktion künstlichen Lebens steht der Homunkulus, den Fausts Schüler Wagner geschaffen hat. Ähnlich den heutigen Bakterien mit ihrem künstlichen Erbgut kann auch der Homunkulus nur in seiner Phiole überleben. Der Homunkulus kommt „nur halb zur Welt“, wie Safranski schreibt: „Homunkulus bleibt in der Phiole, das Künstliche kann einstweilen nur im künstlichen Milieu existieren ...“ (Vgl. Safranski 2013, S.613)

Interessant ist im Zusammenhang meines Blogs, in dem es immer um den Zusammenhang von biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungslinien geht, daß auch Goethe die biologische Entwicklungslinie für die Menschwerdung für unverzichtbar hält: „Ironie blitzt auf, wenn Goethe am Ende der ‚klassischen Walpurgisnacht‘ den Homunkulus wieder den Elementen übergibt. Der künstliche Mensch muß wieder zurück ins evolutionäre Geschehen der Natur, wo er gewissermaßen von der Pike auf dienen muß.“ (Safranski 2013, S.614)

Papiergeld und Illusionstheater ordnet Safranski auf der gleichen Ebene an: bei beiden geht es um das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Naivität und Kritik. Sowohl das Papiergeld wie auch das Illusionstheater manipulieren und mißbrauchen das naive Vertrauen des Menschen. Bezüglich des Illusionstheaters – das Goethe, warum auch immer, als „Reich der Mütter“ bezeichnet – heißt es: „... anknüpfend an die Papiergeldszene kann sie“ – die betreffende Szene in der Walpurgisnacht – „als Fortsetzung der Schöpfung aus dem Nichts gelten, allerdings mit anderen Mitteln, nicht nur mit Papier, sondern mit Bildern. Wenn Mephisto den Faust ins Reich der Mütter schickt, so verweist er ihn auf die innere Werkstatt der Einbildungskraft.“ (Vgl. Safranski 2013, S.616)

Safranski zieht dann auch die Parallele zum politischen Machtmißbrauch im Spiel mit Ideologien und spricht im Kittlerschen Sinne von der „Machtergreifung des Eingebildeten“, wie sie „heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ‚ersten‘ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imaginationen durchsetzten Wirklichkeit verbringt.“ (Vgl. Safranski 2013, S.617)

Manchmal habe ich den Eindruck, daß der Mensch ursprünglich und über viele hunderttausend Jahre hinweg gar kein Mängelwesen gewesen ist, sondern dazu durch die Entwicklung von Technologien erst wurde.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen