„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 13. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

  7. Immanente Kritik?
  8. Von Phänomenen und ihrer Maßlosigkeit
  9. Der Satz vom Sein
10. Anthropologische Genesis

Engster verweist auf die Notwendigkeit einer exzentrischen Positionierung, die es erst ermöglicht, so etwas wie ‚Gesellschaft‘ und ‚Kapitalismus‘ überhaupt zu thematisieren. In der Ausformulierung dieser Notwendigkeit stimmt Engster mit den entsprechenden Einsichten von Helmuth Plessner völlig überein: „Das Bewusstsein muss sich von einem äußeren Standpunkt aus beim Denken zusehen, sein Reflektieren reflektieren und dadurch die Form der Gegenständlichkeit noch einmal zum Gegenstand machen ... So voraussetzungslos die unmittelbare Erfahrung ist, so sehr ist sie im Grunde immer schon vom Selbstbewusstsein ausgegangen, und so steht das Bewusstsein in der Unmittelbarkeit der Erfahrung immer schon neben sich und sieht sich selbst zu.“ (Engster 2014, S.242)

Worin sich Engster und Plessner aber grundsätzlich unterscheiden, ist die Positionierung selbst, d.h. die Ortsbestimmung dieser Exzentrik und ihre Genesis. Der exzentrische Ort, der uns einen rekursiven Selbstbezug ermöglicht, fällt Engster zufolge mit dem „Standpunkt des Geldes“ zusammen: „Marx’ Kritik kann demnach die Gesellschaft zum Gegenstand machen, indem sie sich sozusagen auf den Standpunkt des Geldes stellt, um von diesem Standpunkt aus die Gesellschaft zu betrachten.“ (Engster 2014, S.224)

Die Genesis der Exzentrizität, von der Engster ausgeht, ist also eine ökonomische, und er selbst steht somit auf dem Standpunkt des Geldes, während Plessner die Exzentrik aus der Anatomie des Menschen ableitet, also eine anthropologische Genesis voraussetzt. Plessner steht auf dem Standpunkt des Körperleibs.

Dabei kommen beide, Engster wie Plessner, zu erstaunlich ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich des Weltverhältnisses bzw. der Gegenstandsbestimmungen, die sich aus einer exzentrischen Positionierung des Menschen bzw. des Geldes ergeben. Was bei Plessner als ‚Bruch‘ bzw. als ‚Hiatus‘ im Mensch-Weltverhältnis beschrieben wird, als Brechung des Intentionsstrahls (vgl.u.a. meine Posts vom 29.10.2010 und vom 30.01.2012), ist in Engsters Darstellungen zur Hegelschen (und Marxschen) Dialektik die ihr eigene „Differenz“ bzw. der „Mangel“, die die dialektische Bewegung gleich zu Beginn überhaupt erst eröffnet, nämlich als schlecht unendliches Scheitern des Seins an seiner eigenen Bestimmbarkeit. (Vgl. Engster 2014, S.451)

Allerdings eröffnet dieses Scheitern an sich selbst keine Differenz zur Außenwelt, anders als Plessners Körperleib. Im Scheitern unserer Intentionen, so Plessner, werden wir allererst unserer selbst bewußt, indem wir uns eben dieser Differenz zu einer widerspenstigen, in unseren Intentionen und Bedürfnissen nicht aufgehenden Außenwelt bewußt werden. Diese Differenz zwischen innen und außen entgeht dem Satz vom Sein. Er mag zwar auch eine ähnliche Differenz hervorbringen, aber sie bleibt eine innere Differenz, die keine Außenwelt markiert.

Genau in diesem Sinne aber spricht Adorno vom Nicht-Identischen, das in der Identifikationslogik des Satzes vom Sein nicht aufgeht: „... im Nicht-Aufgehen gibt der Identifikationsprozess durch sich selbst das Maß seiner Unwahrheit ab – und mit der Unwahrheit das Maß seiner Kritik. Allerdings macht sich das Maß der Kritik nur negativ geltend. ... nämlich dadurch, dass in der positiven Identifikation etwas nicht aufgeht ...“ (Engster 2014, S.340) – Engster stellt das Adornosche Anliegen völlig korrekt dar, spricht aber leider davon, daß das Nicht-Identische ein Maß für dieses Nicht-Aufgehen abgebe. Tatsächlich aber ist es maßlos, ein der dialektischen Bewegung inkommensurabler „Bruch“ (Plessner: Hiatus), der Adorno zufolge „gleichsam die ganze Wahrheit bleiben“ muß (vgl. Engster 2014, S.340), also eben nicht irgendetwas wie ein Zentimetermaß ‚identisch hält‘.

Adornos Defizit liegt tatsächlich darin, daß er mit seiner Kritik an Hegel/Marx und der kapitalistischen Gesellschaft immanent bleibt, weil er glaubt, zuvor die Benjaminsche „Eiswüste der Abstraktion“ durchschritten haben zu müssen, um konkret philosophieren zu dürfen.  Er weigert sich zwar, sich auf den Standpunkt des Geldes zu stellen, aber indem er sich an Hegels (und Marxens) dialektische Methode hält, wird ihm das (gesellschaftliche) Sein zum scheinbaren Thema, und ihm entgeht die anthropologische Genesis seines eigentlichen Standortes: die individuelle Erfahrung. (Vgl. Engster 2014, S.340ff.) Zu diesem Standort gehört zwar auch eine gesellschaftliche Genesis, aber nur im konstellativen Rahmen dreier Entwicklungslinien: die biologische, kulturelle und individuelle. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010)

Die ersten beiden Entwicklungslinien brechen sich in der dritten, in der individuellen Erfahrung. Eine Grundvoraussetzung für diese individuelle Erfahrung ist aber eine entsprechende Sensibilität für das „beschädigte Leben“ (Engster 2014, S.341), die das naive Pendant im Gleichgewicht von Naivität und Kritik bildet und als zweite Naivität der Schonung bedarf. Ein diese Naivität bedrohender Marsch durch eine Eiswüste ist dem sicherlich nicht angemessen. Deshalb ist der Naivität und Kritik ausbalancierende individuelle Verstand, als Körperleib, der ursprüngliche Ort jeder Exzentrik.

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