„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 11. Februar 2014

Matthew B. Crawford, Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas zu schaffen, Berlin 2010

1. Trennung von Denken und Tun
2. Anthropologie
3. Einheit von Denken und Tun
4. Bildungssystem
5. Phänomenologie

Wenn Crawford von Bildung spricht, unterscheidet er im Grunde zwei verschiedene Bildungssysteme: eines, das Selbstverliebtheit und Selbstbefangenheit fördert, und eines, das das in sich selbst befangene Selbst für die Wirklichkeit öffnet und es wirklichkeitsfähig macht. Für das erste Bildungssystem sind alle Menschen gleichwertig, während für das andere Bildungssystem alle Menschen gleich sind. Mit Gleich-Wertigkeit kommt ein Meßkriterium zur Anwendung, das die Menschen austauschbar macht und ihre „Rangunterschiede“ nivelliert. (Crawford 2010, S.259) Die ‚Werte‘, die hier zur Anwendung kommen, sind gleichsam Standards, wie wir sie aus der automatisierten, industriellen Produktion und aus der Medientechnologie kennen.

Der Medientheoretiker Friedrich Kittler unterscheidet zwischen ‚Standards‘ und ‚Stilen‘, wobei sich der Begriff des Standards auf medientechnische Verfahren bezieht, die menschlichen Sinnesorgane zu täuschen. So bilden z.B. die 24 Einzelbilder pro Sekunde des klassischen Zelluloidfilms einen Standard, den wir mit unseren menschlichen Augen als ununterbrochenen Ereignisverlauf wahrnehmen. Die heutigen Standards bilden HD, Super-HD und 3D-Projektion. ‚Stile‘ hingegen beziehen sich auf die menschliche Persönlichkeit, als Individualität. So können wir an Gemälden oder an literarischen Texten immer einen Stil unterscheiden, mit dem wir diese Werke auf einen bestimmten Künstler zurückführen können.

Das sagt schon alles über die Bildungsstandards, wie sie die deutsche Kultusministerkonferenz eingeführt hat. Im Grunde bestehen diese Bildungsstandards in verschiedenen Kompetenzrastermodellen, die wiederum nach verschiedenen Fächern, Jahrgangsstufen und nach übergreifenden, allgemeinen Bildungsprinzipien ausdifferenziert sind. Letztlich aber handelt es sich bei diesen tabellenartig zusammengestellten Rastern lediglich um Stichwortlisten, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie – wie auf einer Weiterbildungsveranstaltung oder im Workshop einer Tagung von Erziehungswissenschaftlern – auf Zuruf zusammengestellt und von einem Moderator mehr oder weniger willkürlich geordnet worden sind. So unterscheidet z.B. das Kompetenzrastermodell des hessischen Kerncurriculums zur Lernkompetenz u.a. zwischen Orientierungskompetenz, Richtungskompetenz und Problemlösungskompetenz, die in den zugehörigen vier Spalten auf vier verschiedene Entwicklungsstufen hin ausgelegt werden. Mein Problem dabei ist, daß ich nicht erkennen kann, inwiefern sich diese angeblich so verschiedenen Kompetenzen überhaupt unterscheiden. Diese Minimaldifferenzen, so es sie denn überhaupt gibt, werden nun aber auch noch vierfach untergliedert, und die arme Lehrerin, der arme Lehrer, sind nun dazu verpflichtet, im Unterricht am Lernverhalten ihrer Schüler zu beobachten, auf welcher Ebene dieser Untergliederungen, A, B1, B2, und C, sie sich gerade befinden!

Die Kompetenzrastermodelle bilden, drucktechnisch ausgedrückt, ‚Bleiwüsten‘, über DinA-4 Formate verteilte Tabellenraster, eng bedruckt in kleinster Schriftform. Es bleibt den Lehrerinnen und Lehrern überlassen, die stichwortartigen Hintereinanderreihungen in ein nachvollziehbares pädagogisches Konzept zu übersetzen und auf den Unterricht zu übertragen. Was die Kompetenzraster bewirken, ist letztlich nur so etwas wie eine Kompetenzillusion, die gar nicht erst den Verdacht aufkommen läßt, ein Schüler könnte an seinem Lerngegenstand scheitern. Crawford spricht davon, daß die „Betörung durch Kompetenz ... uns die Fähigkeit nehmen (kann), Dinge zu erkennen ...“ (Vgl. Crawford 2010, S.216) – ‚Individuelles Lernen‘ ist das alles besänftigende Stichwort, in dem es nicht etwa um den Lerngegenstand geht, also um das Interesse, das zu wecken Johann Friedrich Herbart zum zentralen pädagogischen Auftrag des Lehrers gemacht hatte, sondern um gleichsam ‚freischwebende‘ Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale.

Das eigentliche Ziel eines Bildungssystems, dem es in diesem Sinne um „Gleichwertigkeit“ und nicht um „Gleichheit“ geht, besteht Crawford zufolge darin, die „führenden Einrichtungen des neuen Kapitalismus“ „mit geeigneten Arbeitskräften zu versorgen, das heißt mit gefügigen Generalisten, deren Einsatzmöglichkeiten nicht durch irgendwelche speziellen Fähigkeiten eingeschränkt werden“. (Vgl. Crawford 2010, S.31)

Der ursprünglich hinter der von Wilhelm von Humboldt und den preußischen Bildungsreformen zu Beginn des 19. Jhdts. eingeführten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung stehende Grundgedanke wird so pervertiert. Humboldt hatte sein Konzept eben nicht damit begründet, die Schüler möglichst lange davon abzuhalten, sich auf Gegenstände festzulegen. Ganz im Gegenteil war das Interesse des Schülers am Gegenstand für ihn ein unverzichtbares Moment der allgemeinen Bildung. Ihm war es vielmehr darum gegangen, die Schüler möglichst lange vor dem Zugriff gesellschaftlicher Spezialinteressen wie z.B. ökonomischen Interessen zu schützen. Innerhalb des vor der Gesellschaft abgeschirmten Bereichs allgemeiner Schulbildung aber sollte es, wie sich Humboldt ausdrückte, für einen künftigen Philologen genau so sinnvoll sein, zu lernen, wie man einen Tisch zusammenzimmert, wie für einen künftigen Tischler, Grundkenntnisse in Altgriechisch zu erwerben.

Dieses Humboldtsche Konzept einer Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung hat nun also unter dem Dogma der „Gleichwertigkeit“ zur pädagogisch begründeten „Befürchtung“ geführt, „der Erwerb bestimmter Fähigkeiten sei gleichbedeutend mit der Festlegung auf ein bestimmtes Leben.“ (Vgl. Crawford 2010, S.31) – Dem setzt Crawford den Begriff der „Gleichheit“ entgegen. Crawford zufolge läßt diese Gleichheit durchaus „Rangunterschiede“ unter den Menschen zu. Diese beruhen nämlich auf dem Streben nach „Vortrefflichkeit“, also dem Wunsch, in irgendetwas wirklich gut zu sein: „Wer die Vortrefflichkeit bewundert, ist prädestiniert, sich von sich selbst zu lösen, was dem egalitären Universalisten nicht möglich ist.“ (Crawford 2010, S.260f.)

Der Universalist ist eher an Prinzipien orientiert als „aufmerksam“, d.h. an Gegenständen interessiert. Wer sich für einen Gegenstand interessiert, setzt seine ganze Aufmerksamkeit, also letztlich seine Persönlichkeit ein, um sich diesen Gegenstand anzueignen. Nur wenn wir interessiert sind, wird unser Urteilsvermögen geweckt und geschärft und damit die Einheit von Denken und Tun. Wiederum bezogen auf den Motorradfahrer schreibt Crawford: „... die Beanspruchung des eigenen Urteilsvermögens weckt die menschlichen Fähigkeiten. ... Voraussetzung für den Einsatz des Urteilsvermögens scheint zu sein, dass für den Benutzer einer Maschine etwas auf dem Spiel steht, dass er ein Interesse an ihr hat.“ (Crawford 2010, S.84)

Das Motorrad, das wie ein Maultier ausschlagen und seinem Fahrer Tritte versetzen kann, kann den Willen dieses Fahrers erziehen, ihn ‚mäßigen‘ und ‚bündeln‘, wie Crawford schreibt, „so dass er nicht länger der Willen eines tobenden Babys ist, das nichts anderes weiß, als dass es etwas will.“ (Vgl. Crawford 2010, S.84)

So gelangt Crawford zu einer neuen ‚Kompetenz‘, die in allen unseren Kompetenzrastermodellen nicht vorkommt: zur Kompetenz, am Gegenstand scheitern zu können. Diese Kompetenz bezeichnet Crawford auch als „stochastische() Fertigkeit“: „Die Beherrschung einer stochastischen Fertigkeit ist durchaus mit der Unfähigkeit vereinbar, das angestrebte Ziel zu erreichen ...“ – wie etwa im Fall eines Arztes die Gesundheit. – „Aristoteles schreibt, es sei nicht die Aufgabe der Medizin, den Menschen gesund zu machen, sondern lediglich, die Gesundheit möglichst zu fördern.() ... Der Grund dafür ist, dass Arzt und Mechaniker das, was sie reparieren sollen, nicht selbst hergestellt haben, weshalb sie es unmöglich vollkommen kennen können. Die Erfahrung des Scheiterns wirkt mäßigend auf die Illusion völliger Beherrschbarkeit: Der Arzt und der Mechaniker lernen die Welt täglich als etwas von ihnen Unabhängiges kennen und sind sich daher des Unterschieds zwischen Selbst und Nicht-Selbst deutlich bewusst.“ (Crawford 2010, S.111)

Das Wort ‚Stochastik“ wird normalerweise als ein Oberbegriff für Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik verwendet. Übersetzt ist es einfach nur die ‚Mutmaßungskunst‘ bzw. die Kunst des Verstehens. Um einen Gegenstand zu verstehen, müssen wir uns für ihn interessieren, und das bedeutet wiederum, ihn uns zueigen zu machen: „Es ist bezeichnend für den eigenwilligen Menschen, dass er sehr weit fasst, was seine eigenen Dinge sind. Er handelt so, als gehörten alle materiellen Dinge, die er benutzt, in gewissem Sinne tatsächlich ihm, während er sie benutzt.“ (Crawford 2010, S.79) – Diese ‚Eigenschaft‘, sich die Gegenstände ‚zueigen‘ machen und in Besitz nehmen zu wollen, schreibt Crawford nun aber als eine besondere Charaktereigenschaft den Handwerkern und Mechanikern zu.

Das ist der Kern jener „Vortrefflichkeit“, nach der Crawford zufolge jeder Handwerker strebt. Wo auch immer er Reparaturaufträge annimmt und so treuhänderisch die Verantwortung gegenüber den nominellen Besitzern der reparaturbedürftigen Dinge übernimmt, behandelt er diese Dinge doch immer auch zugleich, als wären sei seine eigenen Dinge. Crawford, dessen ganze Liebe den Motorrädern gilt, beschreibt, wie er eine Zeitlang als Elektriker arbeitete und das Produkt seiner Arbeit, Kabel und Leitungen, letztlich hinter Putz und Verkleidungen verborgen blieb: „Dennoch gebot es mir mein Stolz, den für eine sachkundige Installation geltenden ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Vielleicht würde eines Tages ein anderer Elektriker meine Arbeit zu Gesicht bekommen. Und selbst wenn es nicht dazu kommen sollte, fühlte ich mich meinem Gewissen verpflichtet. Oder besser, der Sache an sich – es heißt, die Handwerkskunst bestünde einfach in dem Wunsch, eine Sache gut zu machen, und zwar um ihrer selbst willen.“ (Crawford 2010, S.25)

Crawford ist nicht blind dafür, daß man auch den Handwerksunterricht, als Kompensation für die ausschließliche Wissensorientierung, noch einmal ideologisieren kann. Als die us-amerikanische Regierung 1917 Handwerksunterricht einführte, führte das u.a. dazu, daß die Arbeiterkinder auf eine Arbeitsethik vorbereitet wurden, die ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprach, und die „Kinder der Manager“ ihre „Vorbereitung auf die Hochschule“ dadurch bereicherten, daß „sie ein Vogelhäuschen für Muttis Küchenfenster bauten“. (Vgl. Crawford 2010, S.45f.)

Dennoch hält es Crawford für sinnvoll, daß Personen in hohen Stellungen in der Wirtschaft und in der Politik in ihrer Schulzeit einmal die Gelegenheit geboten worden ist, sich mit einer „Art des Scheiterns“ vertraut zu machen, „das nicht durch Umdeutung verdrängt werden kann“ (vgl. Crawford 2010, S.262), um dann, natürlich, über dieses Scheitern hinauszuwachsen und Vortrefflichkeit anzustreben, wofür Crawford zufolge kein Unterricht besser geeignet ist als Handwerksunterricht.

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