„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 19. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Das Gedächtnis funktioniert offensichtlich aufgrund zweier grundverschiedener Prinzipien: dem ikonischen Prinzip und dem narrativen Prinzip. Das ikonische Prinzip, das Bildgedächtnis, ist im wesentlichen ‚zeitlos‘ und in der Lage, ungeheuer viele Informationen zu speichern. Das narrative Prinzip, das episodische Gedächtnis, beinhaltet einen zeitlichen Ablauf mit Anfang und Ende und ist an die Syntax einer Wortsprache gebunden, die eine wesentlich geringere Aufnahmekapazität hat: „Man betrachte nur einmal vier Sekunden lang ein Foto, und man kann vier Minuten damit verbringen, in Worten zu erzählen, was man darauf alles gesehen hat.“ (Draaisma 2012, S.79) – Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Leroi-Gourhan zwischen der Dreidimensionalität der Bilderschrift und der bloß eindimensionalen Linearität der alphabetischen Schriftsprache differenziert. (Vgl. meine Posts vom 01.03. und vom 16.04.2013)

Das autobiographische Gedächtnis, also unser waches Selbstbewußtsein, ist an den chronologischen Zeitpfeil solcher Narrationen gebunden, die wir mit unseren Mitmenschen kommunizieren können. Wenn wir uns an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern versuchen, beginnen wir immer mit dem Anfang und arbeiten uns dann Schritt für Schritt zum Ende vor, bis wir uns wieder im Vollbesitz einer Erinnerung befinden. „(I)m Alltag“, so Draaisma, „hat unser Gedächtnis mehr Schwierigkeiten mit einzelnen, bruchstückhaften Elementen als mit einem zusammenhängenden Ganzen“. (Vgl. Draaisma 2012, S.79)

Bei Träumen ist es nun aber so, daß sie vor allem aus unzusammenhängenden Einzelbildern zu bestehen scheinen, die in keinem chronologischen Zusammenhang stehen. Vergangenheit und Zukunft, Anfang und Ende spielen beim Träumen keine Rolle. Der Teil unseres Bewußtseins, der den Traumbildern eine chronologische, eine stabile Erinnerung ermöglichende Ordnung geben könnte, ist während des Schlafes außer Funktion: „Der Traum kann nicht festgehalten werden, denn die Teile des Gehirns, die dafür sorgen müssten, sind vorübergehend außer Betrieb.“ (Draaisma 2012, S.71)

Erst wenn wir aufwachen, können wir den noch vorhandenen Traumbildern nachträglich eine chronologische Ordnung geben. Und das muß schnell geschehen, weil unser visuelles Gedächtnis diese Traumbilder nur für wenige Sekunden festzuhalten vermag. (Vgl. meinen Post vom 15.01.2014) Was wir in diesen wenigen Sekunden nicht geordnet bekommen, vergessen wir unwiederbringlich. Zumindestens entzieht es sich unserem bewußten Zugriff. Draaisma zitiert die Erfahrungen der amerikanischen Traumforscherin Mary Calkins. Sie und ihr Mann hatten „Kerzen, Streichhölzer, Bleistift und Papier“ auf einem Nachttisch bereitgelegt, um ihre Träume aufzuschreiben, so lange sie sich noch an sie erinnern konnten: „Aber Träume sind so flüchtig, schrieb Calkins, dass schon allein der Griff nach den Streichhölzern sie verschwinden lassen konnte, noch mit ausgestrecktem Arm habe sie festellen müssen, dass der Traum wieder weg war. So ließ sie sich zurücksinken ‚im quälenden Bewusstsein, eine interessante Traumerfahrung erlebt zu haben, die nicht die geringste Erinnerung zurückgelassen hatte‘.()“ (Draaisma 2012, S.50)

Träume bieten für unser Gedächtnis aber nicht nur das Problem ihrer fehlenden Narrativität, sprich: ‚Chronologie‘. Wenn wir uns beim Aufwachen an sie zurückzuerinnern versuchen, können wir die verschiedenen Bruchstücke nicht, wie wir es gewohnt sind, von vorne nach hinten zusammenfügen, sondern wir müssen mit den letzten Traumbildern anfangen und uns nun von hinten nach vorne zum Traumanfang zurückarbeiten. Das erschwert es, den ganzen Traum in den Griff zu bekommen: „... bei der Erinnerung an den Traum watet man entgegen dem Strom: Man kommt erst an den Folgen vorbei und gelangt dann zur Ursache. Man hat erst die Antwort, dann die Frage, und den Anfang des Traums erreicht man zuletzt. Die Rekonstruktion verläuft außerdem auch holprig, weil man zurückspringt zu Szenen, die selbst wieder vorwärtslaufen.“ (Draaisma 2012, S.65)

Tatsächlich aber ‚rekonstruieren‘ wir den Traum eigentlich gar nicht, denn eine eigene Chronologie hat er ja nicht. Wir fügen die Traumbilder erst durch unseren Versuch, uns an sie zu erinnern, chronologisch zusammen. So ‚funktionieren‘ z.B. ‚Weckträume‘: „Das berühmteste Beispiel ist der ‚Guillotinentraum‘ des französischen Arztes und Historikers Alfred Maury. Er wohnte noch bei seinen Eltern, als er sich eines Tages nicht wohlfühlte und sich kurz hinlegte. Seine Mutter saß an seinem Bett. Er schlief ein und träumte von der Terrorherrschaft. ... Er wohnt Exekutionen bei, trifft Robespierre, Marat und Fouquier-Tinville, wird selbst verhaftet, gibt eine Erklärung vor dem Revolutionstribunal ab, wird zum Tode verurteilt, fährt auf einem Karren durch eine riesige Menschenmenge zum Place de la Révolution, besteigt das Schafott, wird auf dem Bretterboden festgebunden, spürt, wie der Henker den Boden kippt, damit er für die Exekution bereitliegt, hört, wie das Fallbeil hochgezogen wird und danach mit einem Schlag auf seinem Nacken landet, spürt auch noch, wie sein Kopf vom Rumpf getrennt wird – und erwacht in diesem Moment angsterfüllt. Er fasst sich in den Nacken: Ein Brett aus der Holzverkleidung seines Bettes war quer darübergefallen. Laut seiner Mutter war das kurz zuvor geschehen.()“ (Draaisma 2012, S.63f.)

An diesen Weckträumen, die wir alle schon mal erlebt haben, sind vor allem zwei Dinge bemerkenswert: die Geschwindigkeit, in der sie ablaufen, und die „Umkehrung der Chronologie“. (Vgl. Draaisma 2012, S.63) Ein Traum, so Draaisma läuft auf eine „sinnliche Wahrnehmung“ hinaus, in der der „Reiz“, der sie auslöst, nicht am Beginn, sondern am Ende des Traumgeschehens steht. (Vgl. Draaisma 2012, S.64)

Anstatt also das Traumgeschehen zu re-konstruieren, konstruieren wir es, indem wir es allererst in eine chronologische Ordnung bringen, die vorher nicht vorhanden gewesen war. Draaisma selbst spricht zwar von einer bloßen ‚Rekonstruktion‘. (Vgl. Draaisma 2012, S.65) Das scheint mir aber nicht zu den von ihm beschriebenen Vorgängen zu passen. Es gibt Traumtheorien, die von einer Arbeitsteilung der beiden Gehirnhälften ausgehen: „rechts träumt, links spricht“. (Vgl. Draaisma 2012, S.73) Draaisma ist gegenüber dieser These zwar skeptisch, aber seine Feststellung, daß „die lebendigsten Träume ... während der letzten Phase des REM-Schlafes“ auftreten und daß dies „auch der Zeitraum“ ist, „in dem gerade die linke Hemisphäre die größte Aktivität aufweist“, könnte man so deuten, daß die linke Hemisphäre mit zunehmender Aktivität, also mit zunehmender ‚Bewußtheit‘, das Traumgeschehen zu ordnen beginnt, so daß es uns deshalb beim Aufwachen als besonders ‚lebendig‘ erscheint.

Ansonsten aber gilt, daß die Befunde in der Traumforschung ähnlich desolat sind wie bei ‚Verdrängung‘ und ‚Trauma‘: „Manche Psychologen meinen, Träume seien für den Erhalt der psychischen Gesundheit absolut notwendig, andere sind der Ansicht, es ändere sich gar nichts, wenn Menschen nicht mehr träumen, etwa wegen der Einnahme bestimmter Medikamente. Träume sind vollkommen unverzichtbar oder ein zufälliges Nebenprodukt und alles dazwischen.“ (Draaisma 2012, S.52)

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