„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 14. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I
3. Methode II: Kasuistik und Rekursivität
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Aus den im letzten Post angesprochenen Schwierigkeiten, mit den verschiedenen psychologischen Fragestellungen zu experimentieren, ergibt sich, daß die Psychologie eigentlich von ihrem Gegenstand her eher zur Kasuistik neigen sollte. (Vgl. meine Posts zur Kasuistik vom 07.09. bis zum 10.09.2013) Experiment und Fallstudie beinhalten aber unversöhnbare Prinzipien, mit denen zudem noch ein Streit um deren Wissenschaftlichkeit verbunden ist: „Mediziner und Experimentalpsychologen – um sie generalisierend einmal so zu bezeichnen – wenden verschiedene methodologische Stile an. Mediziner berichten ihre Befunde häufig in Form von Fallstudien, ein Untersuchungstyp, der unter Experimentalpsychologen einen geringen Status hat. Ein Patient ruft die Frage auf, wie generalisierbar sein spezifischer Fall ist, ihn nachzustellen ist ausgeschlossen, die Überprüfung durch andere als den Therapeutenforscher ist beschränkt. Von Studien dieser Art wird häufig behauptet, sie seien keine ‚echte Wissenschaft‘.“ (Draaisma 2012, S.194f.)

Wissenschaftlichkeit wird gerne am Prinzip der Wiederholbarkeit von Experimenten in Laborsituationen festgemacht. Experimentelle Resultate werden nur dann als valide akzeptiert, wenn diese Resultate jederzeit unter den gleichen experimentellen Bedingungen nachgeprüft werden können. Bei Feldstudien und bei Fallstudien haben wir es aber immer mit Einzelfällen zu tun, die sich nicht wiederholen lassen. Und die Kasuistiker nehmen sich zudem noch die Freiheit, von diesen Einzelfällen her, wenn sie experimentellen Laborergebnissen widersprechen, die Laborergebnisse in Frage zu stellen, nach dem Motto: auch die ‚empirische‘ Wissenschaft hat sich von der Realität korrigieren zu lassen.

Das einzige Validitätskriterium, das Kasuistiker für ihre Beobachtungen in Anspruch nehmen können, besteht in deren Plausibilität. Wenn es also um menschliches Verhalten und um menschliche Befindlichkeiten geht, dann müssen Fallstudien mit den subjektiven Annahmen der Betroffenen übereinstimmen, was Klaus Holzkamp als Selbstsubsumtion der eigenen Erfahrungen unter den dargestellten Fall bezeichnet. (Vgl. meinen Post vom 09.09.2013) Damit können durchaus auch kontraintuitive Einsichten verbunden sein; wenn sie nur zu einem besseren Verständnis des eigenen Verhaltens und der eigenen Befindlichkeiten beitragen.

Eine solche Kasuistik ist rekursiv, was Experimente niemals sein dürfen. Die Wechselseitigkeit der Erwartungen von Experimentatoren und Versuchspersonen muß im Experiment im Gegenteil durch aufwendige Doppelblindverfahren ausgeschlossen werden. (Vgl. meinen Post vom 04.02.2013) Der Glaube an die Wissenschaftlichkeit solcher Methoden hat zu eigenartigen Deformationen in der Psychologie geführt. So ist z.B. die Psychoanalyse ein Paradebeispiel dafür, wie einerseits ausgiebig Fallstudien betrieben werden, andererseits dabei aber jede Beteiligung des Klienten an der Auswertung unterbunden wird.

Draaisma geht ausführlich auf Freuds Fallstudie zu „Dora“ ein, die nach einem Vergewaltigungsversuch durch einen Freund ihres Vaters, mit dem auch Freud selbst bekannt ist, zu ihm in die Therapie kommt. (Vgl. Draaisma 2012, S.173-183) Freud ist dabei anerkennenswerterweise der erste, der Doras Geschichte glaubt. Allerdings bewertet er ihr Verhalten – Dora hat sich gegen die Zudringlichkeiten erfolgreich zur Wehr gesetzt – als hysterisch, da sie ja ‚eigentlich‘ selbst den Wunsch nach sexuellen Aktivitäten gehabt habe, diese aber als ungehörig empfunden habe und sie deshalb unterdrücken müsse. Ihr ‚Nein!‘ sei also eigentlich ein ‚Ja!‘, und je mehr sie dies leugne, um so mehr bestätige sie das nur.

Mit dieser Darstellung wird dem Klienten jede Rekursivität verweigert. Das „Urteil() des Patienten“ ist für die Analysen des Therapeuten völlig irrelevant: „Wenn Widerstand gegen eine Deutung nicht beweist, dass der Analytiker unrecht hat, kann die Zustimmung ebenso wenig als Argument für deren Gültigkeit akzeptiert werden.“ (Draaisma 2012, S.181)

Die Psychoanalyse ist also ein Beispiel für eine Kasuistik, in der die Theorie immer Recht behält. Das wird auch durch die ganze ‚Experimentieranordnung‘ augenfällig. Der Patient liegt auf der Couch, und der Analytiker sitzt außerhalb seines Blickfeldes hinter ihm auf einem Stuhl. Indem der Analytiker den Blickkontakt mit dem Analysanden verweigert, verweigert er ihm auch die Gesprächsbereitschaft. Zur Rekursivität gehört aber unverzichtbar allererst die kommunikative Absicht. (Vgl. meinen Post vom 13.01.2013) Wo diese kommunikative Absicht fehlt, entsteht auch keine Rekursivität. An deren Stelle treten in der Psychoanalyse einseitige Spiegelungen, die der Patient auf den für ihn unsichtbaren Analytiker projiziert, um so die Leerstelle, zu der er spricht und die immer nur mit nichtssagenden verbalen Geräuschen ‚antwortet‘, zu füllen.

Mit diesen Spiegelungen gehen beim Patienten, als Folge der verweigerten Rekursivität, Inversionen einher: an die Stelle der unerschöpflichen Tiefe der Erwartungserwartungen eines Gesprächspartners tritt die Tiefe der eigenen Bewußtseinsschichten, auf die der Patient durch den Analytiker zurückgeworfen wird. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 14.04.2012) Das ‚Unbewußte‘ wird als eine unendliche Reihe von Selbstspiegelungen allererst durch die Psychoanalyse, also durch die verweigerte Rekursivität erzeugt.

Freuds Analysen zu „Dora“ sind nachvollziehbarerweise von Feministinnen kritisiert worden. Sie haben den Analytiker analysiert und seine eigenen sexuellen Phantasien sichtbar gemacht: „... in feministischer Lesart ist es vor allem Freud selbst, der analysiert wird. Er sei das Opfer der Männerfantasie, dass ein Mädchen Lustgefühle erfahre, wenn ein älterer Mann sexuelles Interesse an ihr zeige.“ (Draaisma 2012, S.179)

Allerdings bedienen sich die feministischen Kritikerinnen dabei des freudianischen Vokabulars und wenden es auch in Fällen an, in denen es darum geht, jahrzehntelang verdrängte Traumata therapeutisch zu behandeln und dann auch juristisch aufzuarbeiten: „Genau wie in der Psychoanalyse kommt dem Patienten dabei keinerlei Autorität zu. ... So erging es Tausenden von Frauen: Die Abwesenheit von Erinnerungen deutete auf Leugnen hin, und je heftiger die Verneinung, desto wahrscheinlicher würde beim Graben dennoch etwas gefunden. Das bedeutete, dass die Frauen die Vermutung des Therapeuten nicht selbst, aus ihrem eigenen Urteilsvermögen heraus, prüfen konnten.“ (Draaisma 2012, S.205)

Ähnlich wie das ‚Unbewußte‘ in der Psychoanalyse ein Konstrukt der systematischen Verweigerung von Rekursivität bildet, sind dann auch viele nachträgliche Erinnerungen an Vergewaltigungen ein Konstrukt solcher Therapiesitzungen. Draaisma beschreibt den Fall von Laura Pasley, die wegen einer Bulimie zu einem Psychotherapeuten in die Behandlung ging. Dieser diagnostizierte die Bulimie als Folge einer Vergewaltigungserfahrung. Alles Leugnen solcher Erfahrungen durch Laura deutete er nur als Bestätigung seiner Diagnose. Bei Gruppensitzungen „brüllt er sie stundenlang an, sie verschweige das Schlimmste“. (Vgl. Draaisma 2012, S.188f.) Schließlich glaubte sie selbst, sich an entsprechende, bislang verdrängte Erfahrungen mit ihrem Bruder erinnern zu können. Laura ging es körperlich immer schlechter und wurde schließlich mit „einer Überdosis an Medikamenten ins Krankenhaus aufgenommen“. (Vgl. Draaisma 2012, S.188)

Als sie von ähnlichen Erfahrungen anderer ‚Vergewaltigungsopfer‘ hörte, zog sie die Beschuldigung gegenüber ihrem Bruder wieder zurück: „Pasley war eine der ersten ‚retractors‘, Menschen, die von ihren Therapeuten in die Irre geführt wurden und in vielen Fällen Prozesse gegen sie eingeleitet haben.()“ (Draaisma 2012, S.189)

Diese Fälle von verweigerter Rekursivität zeigen in aller Deutlichkeit, daß Kasuistik nur funktioniert, wenn die Wissenschaftler, ob nun Psychologen oder Erziehungswissenschaftler, nicht nur die Erfahrungen ihrer Klientel analysieren, sondern auch deren Bewertungen dieser Erfahrungen in ihren Analysen berücksichtigen und darüberhinaus ihre Analysen einem Plausibilitätstest durch die Betroffenen unterziehen. Als besonders beispielhaft für ein solches Verhalten verweist Draaisma auf Arthur Ladbroke Wigan, einem Arzt um die Mitte des 19. Jhdts.: „Seine psychiatrischen Fallstudien sind mit viel Sympathie geschrieben und so mitreißend wie die Geschichten von Oliver Sacks. Die autobiografischen Teile sind rührend: Wigan war ein empfindsamer Beobachter der Vorgänge in seinem eigenen Geist, und er besaß den Mut auch das Schmerzliche mit seinen Lesern zu teilen.“ (Draaisma 2012, S.146)

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