„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 13. Januar 2014

Douwe Draaisma, Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Köln 2012

1. Formen des Vergessens
2. Methode I: Techniken und Therapien
3. Methode II
4. Gestaltwahrnehmung und die Gestalt des Gedächtnisses
5. Autobiographisches Gedächtnis
6. Zwei Gehirne und die Einheit des Bewußtseins
7. Zwanghaftes Erinnern
8. Vergessene Träume

Die Psychologie hat, wie Douwe Draaisma mehrfach festhält, ein Methodenproblem; insbesondere wenn sie sich mit dem Gedächtnis befaßt. Die meisten Bewußtseinsformen beinhalten ein gleichermaßen unhintergehbares wie unzugängliches Moment: die Subjektivität des Bewußtseinslebens. Experimentell zugänglich sind immer nur physiologische und motorische Phänomene, weshalb Neurophysiologie und Behaviorismus in der Psychologie auch so eine dominante Rolle spielen, getreu dem „Hauptgesetz aus der Psychologie“, wie Draaisma schreibt, daß die „Menge der Untersuchungen ... in unmittelbarer Ableitung zu ihrer experimentellen Zugänglichkeit (steht)“. (Vgl. Draaisma 2012, S.126)

Und Verhalten ist nun einmal beobachtbar und experimentell manipulierbar. Weshalb nicht die Träume selbst untersucht werden, sondern das Traumverhalten, wie etwa die Augenbewegungen im REM-Schlaf, auch wenn wir durchaus nicht nur im REM-Schlaf träumen, Traum und Traumverhalten also keineswegs deckungsgleich sind. (Vgl. Draaisma 2012, S.70)

Speziell bei Erinnerungen haben wir das Problem, daß es kein valides Kriterium dafür gibt, wann jemand etwas tatsächlich vergessen hat. Die fehlende subjektive Kontrolle über das Gedächtnis beinhaltet, daß eine Erinnerung tatsächlich noch lange nicht vollständig verloren gegangen sein muß, nur weil wir uns nicht mehr erinnern. So läßt sich weder die These, daß das Gedächtnis nichts vergißt, noch das Gegenteil experimentell belegen. (Vgl. Draaisma 2012, S.232)

Bei Amnesien, so Draaisma, sind es insbesondere die retrograden Amnesien, also die Amnesien, wo uns Erinnerungen aus der Vergangenheit unzugänglich geworden sind, mit denen sich Experimentatoren ungern befassen. Es ist einfach nicht nachprüfbar, ob bestimmte Ereignisse der Vergangenheit vor dem Unfall oder vor der Krankheit, die beim Patienten zur Amnesie führte, tatsächlich zu seinen aktiven Erinnerungen gehörten oder nicht. Es bleiben da nur wenige Daten wie Name, Geburtsdatum oder das Wiedererkennen alter Freunde oder Familienangehöriger. Für eine eingehendere Untersuchung zum tatsächlich noch vorhandenen Gedächtnisumfang fehlt ein gesichertes Datenmaterial über das frühere, noch intakte Gedächtnis. Experimentatoren beschäftigen sich deshalb lieber mit der anterograden Amnesie, also mit der Unfähigkeit, neue Erinnerungen zu behalten. Hier gibt es keine vergleichbaren Unwägbarkeiten. (Vgl. Draaisma 2012, S.125)

Weitere Probleme bereitet den Experimentatoren die Ethik. Psychologen können zur Erforschung von Traumata deren Entstehen schlecht experimentell herbeiführen (vgl. Draaisma 2012, S.194). Wie Draaisma nüchtern festhält: „Echtes Traumatisieren geht nicht.“ (Draaisma 2012, S.194). – Lange Zeit waren deshalb die gegensätzlichsten Traumatheorien im Umlauf: „Ein Trauma konnte die Ursache von Verdrängen sein, aber auch von der Unmöglichkeit, zu verdrängen. Belastende Erinnerungen konnten im Unbewussten landen, sich aber auch hartnäckig weigern, aus dem Bewusstsein zu verschwinden.“ (Draaisma 2012, S.207)

Auch erste Erinnerungen aus der frühen Kindheit lassen sich nicht unabhängig vom subjektiven Erleben des Berichterstatters verifizieren. (Vgl. Draaisma 2012, S.43) Aufgrund des mit dem Vergessen einhergehenden Verlustes der ‚Quellen‘ (Quellenamnesie, Kryptomnesie (vgl. Draaisma 2012, S.139)), kann man nie sicher sein, ob eine erste Erinnerung tatsächlich authentisch ist oder nicht vielmehr ‚importiert‘ wurde: aus den Erzählungen anderer, aus Träumen, die fälschlicherweise zu Erinnerungen werden etc. Jan Assmann spricht hier in Anlehnung an Thomas Mann vom „zitathaften Leben“. (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Harald Welzer spricht von einer Montagetechnik des autobiographischen Gedächtnisses, mit dessen Hilfe wir fremde, kulturell vorgeprägte Erinnerungen, also Kollektiverinnerungen, in unser Gedächtnis als eigene Erinnerungen integrieren. (Vgl. meinen Post vom 20.03.2011)

Zum Methodenproblem in der Psychologie wären auch noch die therapeutischen Methoden hinzuzufügen, mit denen sich viel Geld verdienen läßt. Mit unüberbietbarer Ironie beschreibt Draaisma, wie die Entdeckerin einer Vergessensmethode, Francine Shapiro, diese Methode, das EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), zunächst als besonders einfach angepriesen hatte: „... die Technik könne von jedem angewendet werden, der sich die Mühe mache, ihren Artikel aus dem Jahr 1989 zu lesen und die darin beschriebenen Anweisungen zu befolgen. Die Technik sei so einfach, dass sie kein spezielles Können erfordere.“ (Draaisma 2012, S.199)

Diese Methode bzw. Therapie besteht in schnellen links-rechts-links-Bewegungen der Augen. Dabei muß man sich auf ein bestimmtes Problem, das einen belastet, konzentrieren. Mit der Zeit wird das Problem immer weniger belastend und schließlich wird es bedeutungslos. Damit kann man alle möglichen Ängste behandeln. Statt der Augenbewegungen kann man übrigens auch Klicklaute nehmen, die abwechselnd am linken und rechten Ohr ertönen. Oder man klopft abwechselnd auf den linken und rechten Handrücken. Der Wechsel von links-rechts-links ist dabei übrigens irrelevant. Es geht auch ohne, mit einfachem Klopfen, wie ich einmal bei einer Weiterbildung gelernt habe, wo wir, während wir uns auf ein belastendes Problem konzentrierten, mit dem Finger abwechselnd auf die Stirn, auf eine Stelle unterhalb der Nase und aufs Kinn klopften. Niemand kann erklären, warum es funktioniert, und jeder kann es anwenden.

Das hat Shapiro dann doch nicht so gefallen, wie Draaisma festhält: „... denn 1990 gründete sie das EMDR-Institute Inc., das eine zweitätige Ausbildung zum diplomierten EMDR-Therapeuten anbot.“ (Draaisma 2012, S.199) – Damit kann man nämlich Geld verdienen. Und noch mehr kann man verdienen, wenn man ein Handbuch herausgibt und zusätzliche Ausbildungslevel einführt, die natürlich alle bezahlt werden müssen. Und schließlich sollte man nicht vergessen, daß eine regelmäßige Wiederauffrischung des Fachwissens unbedingt notwendig ist, – denn damit läßt sich noch mehr Geld verdienen.

Draaisma beendet das Kapitel mit dem Hinweis, daß der teuer ausgebildete Therapeut nicht nur in der Psychoanalyse – in der sich der Patient letztlich selbst allein dadurch heilt, daß er über seine Probleme spricht –, sondern auch bei der Behandlung des posttraumatischen Streßsyndroms, bei dem die Therapierichtung in die umgekehrte Richtung geht – nicht Ausgraben von Erinnerungen, sondern Vergessen von Erinnerungen –, „unverzichtbar“ ist, „weil er über die Technik verfügt“. Und Draaisma ergänzt, daß es doch „angenehm“ sei, in der „Psychologie und Psychiatrie“ „hin und wieder auch einmal eine schöne gerade Linie zu sehen.“ (Draaisma 2012, S.208)

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