„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Dezember 2013

Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013

1. These
2. Methode
3. Sprache und Logik
4. Letztbegründungsansprüche
5. Mensch/Welt und Teil/Ganzes
6. Doppelaspektivität
7. Werterealismus
8. Sinn von Sinn

Hier geht es noch mal darum, eine klare, trennscharfe Grenzziehung zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungsansprüchen und phänomenologischen Darstellungen bzw. Beschreibungen vorzunehmen. Lambert Wiesing kennzeichnet die Phänomenologie als ein Verfahren, das auf jeden Erklärungsversuch von Phänomenen und damit verbundene Modellierungen ihrer Genese (Entstehungsgeschichte, Evolution) verzichtet. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010) Anstatt Phänomene auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin zu untersuchen, nimmt sie diese als gegeben hin und widmet sich der Erkundung und Beschreibung ihrer Gegebenheitsweise; ein Verfahren, das Husserl als „Ideation“ beschrieben hat.

Auch das Bewußtsein selbst ist für den Phänomenologen deshalb kein Problem, das der Erklärung bedarf, sondern ein gegebenes Phänomen, das beschrieben werden muß. Deskription ist in der Phänomenologie etwas anderes als in der Naturwissenschaft. In der Naturwissenschaft gibt es keine Grenze der Deskription. Die Deskription selbst ist nur ein Mittel der Erklärung, und die Erklärungsansprüche der Naturwissenschaft gehen ins Unendliche. Jede gefundene Antwort ist nur der Anfangspunkt für neue Fragen.

Thomas Nagel will der Deskription eine Grenze setzen. Er wirft dem Theismus mit seinem göttlichen Urheber vor, „die Intelligibilität letztlich unter dem Gesichtspunkt der Intention oder der Absicht“ zu interpretieren und „sich damit einem rein deskriptiven Endpunkt“ zu verweigern. (Vgl. Nagel 2013, S.37) Mit „Intelligibilität“ meint Nagel die „Intelligibilität der Welt“, und er meint damit, daß die „Beschaffenheit der Natur“ für mit Bewußtsein begabte Wesen „verstehbar“ ist. (Vgl. Nagel 2013, S.32) Nur aus diesem Grund sind mathematische Prinzipien auf die physikalische Naturordnung anwendbar. (Vgl. Nagel 2013, S.34) Wäre nicht schon die physikalische Naturordnung intelligibel, gäbe es keine Technologie.

Aber indem Nagel für eine begrenzte Deskription plädiert, verteidigt er zugleich den ins Unendliche gehenden naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruch. Denn der „rein deskriptive Endpunkt“ begrenzt sich nicht an menschlichen Intuitionen; die Deskription soll im Gegenteil von diesen Intuitionen abgelöst werden, von ihnen „rein“ sein. (Vgl. Nagel 2013, S.120) Nagel verknüpft die Frage nach der Intelligibilität der Welt mit dem naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruch. Er will sie nicht als gegeben ‚beschreiben‘, sondern interessiert sich vor allem für ihre Möglichkeitsbedingungen.

Für den Phänomenologen hat die Deskription aber eine Grenze in unseren Intuitionen. Diese Grenze befindet sich in subjektiven Gewißheiten, die nicht mit subjektiver Beliebigkeit oder Willkür gleichzusetzen sind. Der Phänomenologe nimmt die Phänomene als etwas Gegebenes und nicht als etwas Problematisches und zu Erklärendes. Diese Phänomene ziehen dem subjektiven Erleben eine Grenze. Sie sind nicht beliebig manipulierbar. Sie haben eine Gestalt bzw., wie Husserl sagt, ein „Wesen“, das die Manipulierbarkeit von Phänomenen begrenzt. Wenn wir bei der Betrachtung und Beschreibung von Phänomenen über diese Grenze hinausgehen, haben wir es nicht mehr mit demselben Phänomen zu tun, sondern mit anderen oder auch mit gar keinen Phänomenen, sondern nur noch mit Halluzinationen oder Illusionen.

So eine Grenze kennt der naturwissenschaftliche Erklärungsanspruch nicht. Er neigt dazu, über die Grenzen der Naturphänomene hinauszugehen. Er neigt zu Hybridbildungen, zur Auflösung der Phänomengrenzen zwischen Mineral, Pflanze, Tier und Mensch. (Vgl. meinen Post vom 25.04.2013) Den Fluchtpunkt solcher Erklärungsansprüche bilden Letztbegründungsphantasien, die den subjektiven Gewißheiten der Phänomenologie diametral entgegengesetzt sind. Man denke z.B. an die Suche nach der Weltformel, wie sie Stephen Hawking propagiert.

Letztlich teilt Thomas Nagel dieses Anliegen. Auch er stellt Letztbegründungsansprüche. Anstatt die Phänomene in ihrer subjektiven Qualität ernstzunehmen, was bedeuten würde, einen Standpunkt von innen einzunehmen, plädiert Nagel für Transzendenz und für einen Standpunkt „von außen“. (Vgl. Nagel 2013, S.40f., 50ff.). Er unterscheidet zwischen bloßen Erscheinungen und der objektiven Wahrheit bzw. Realität, was ein Phänomenologe niemals tun würde. (Vgl. Nagel 2013, S.108, 120, 125f.) Schon allein seine Definition des Denkens bzw. der Vernunft als einer Fähigkeit, die uns „über die Erscheinungen hinaus“ trägt (vgl. Nagel 2013, S. 119), zeigt, daß es mit Nagels erklärter Absicht, das „Offensichtliche“ (Nagel 2013, 42) bzw. die „offensichtlichen Tatsachen“ (Nagel 2013, S.37) ins Zentrum seiner Überlegungen zu stellen, nicht weit her ist.

Dabei würden nicht einmal mehr Naturwissenschaftler, zumindestens nicht die ernstzunehmenden unter ihnen, von so etwas wie einer objektiven Realität oder einer objektiven Wahrheit sprechen. Es gibt keine objektive Wahrheit, sondern nur Daten, die vor allem falsifizierbar sein müssen. Nagel selbst schränkt ein, daß die „Vorstellung von einer einzigen Welt, in der alle Wahrheit begründet ist“, eine „Illusion“ sei. (Vgl. Nagel 2013, S.50) Das hindert ihn aber nicht daran, vor allem die Vernunfterkenntnisse mit einer „allgemeinen Gültigkeit“ auszustatten, von denen wir uns nicht „distanzieren“ können. (Vgl. Nagel 2013, S.120) Zugleich stattet er den kulturellen bzw. kollektiven Gebrauch der Vernunft mit einer „kritische(n) Autorität“ aus, die die „älteren Stimmen von Wahrnehmung, Instinkt und Intuition“ zu korrigieren und zu überstimmen vermag und die „selbst keiner Korrektur durch irgendetwas sonst unterworfen“ ist. (Vgl. ebenda; vgl. auch S.125) – Von einer ausgewogenen Balance zwischen Naivität und Kritik kann hier keine Rede sein.

Alles in allem wird die von mir in meinem Post vom 15.12.2013 beschriebene phänomenologische Grundhaltung des Autors nicht durchgehalten. Auch Thomas Nagel ist auf der Suche nach einem „fundamentalen Prinzip der Natur“. (Vgl. Nagel 2013, S.39) Die Naturphänomene bzw. die Bewußtseinsphänomene selbst interessieren ihn herzlich wenig. Er ist vor allem an Urteilen und Gründen interessiert und nicht an Phänomenen: „Letzten Endes sind wir auf jedem Gebiet des Denkens auf unsere Urteile angewiesen, die durch Nachdenken geprüft sind, die Gegenstand der Berichtigung durch die Gegenargumente von anderen sind, die von der Vorstellungskraft und durch den Vergleich mit Alternativen geändert werden.“ (Nagel 2013, S.149)

Die Aufgabe des Denkens besteht aber nicht in der Zerlegung des menschlichen Weltverhältnisses in seine logischen Begründungsketten. Sie besteht vielmehr darin, dem Menschen dabei zu helfen, sein Leben zu führen. Dieser Zusammenhang wird in folgendem Satz prägnant zusammengefaßt: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Jacques Ranciere, Der unwissende Lehrmeister, Wien 2007, S.66)

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